Der folgende Text ist ein Auszug aus Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga (Europa Verlag 2004) und entstammt dem Kapitel »Vom Heiteren Fridolin zum Kleinen Arschloch« über Geschichte und Entwicklung der Comics in Deutschland von ihren Anfängen bis in die Gegenwart.

Da ich deren Entwicklung seit Mitte der Siebzigerjahre von unterschiedlichen Standorten aus unmittelbar mitgestaltet habe, schildere ich diese Zeit hier »autobiografisch« aus meiner Perspektive, so wie ich sie u.a. als Herausgeber der Comixene und Cheflektor des Carlsen Verlags erlebt habe. Die drei Abschnitte erzählen vom Entstehen einer deutschen Szene, von der Etablierung der Comic-Alben im Buchhandel und dem Beginn des Manga-Booms, den ich in den Neunzigern mit Akira und, damals außerhalb Asiens die weltweit erste Serie in japanischer Leserichtung überhaupt, Dragonball ausgelöst habe.

Teil 1: Gegenkulturen

Den Comic-Heften der Kindheit – Wim Wenders hat es in einer schönen Szene in „Im Lauf der Zeit“ gezeigt – wohnt eine Magie inne, die sich durch ihre jeweilige inhaltliche oder grafische Beschaffenheit zumeist nur schwer begründen läßt. Daran hat sich, allen Unkenrufen zum Trotz, auch im digitalen Zeitalter nicht viel geändert. In einer Hamburger Boulevard-Buchhandlung sah ich unlängst einen Pulk Kids in XXL-Baggys, auf den Köpfen Wollmützen und Baseballcaps, Schirm in den Nacken gedreht, die eine Verkaufsfläche mit Manga-Taschenbüchern umlagerten. Wäre neben ihnen ein Regal eingestürzt, sie hätten wahrscheinlich nicht einmal aufgesehen. Dann fiel mir der Mann auf, der ein Stück abseits stand, Hut, Mantel, Ende 50. Auch er blätterte in einem Manga, viel langsamer als die zu seinen Füßen lagernden Jungs, als böte sich ihm hier endlich eine Gelegenheit, in Augenschein zu nehmen, was seine Enkel derzeit so lesen. Sein Gesicht verriet schiere Ratlosigkeit, in einem Comic hätte über seinem Kopf ein großes Fragezeichen gestanden. Jugendkultur ist stets auch Gegenkultur, Distanzierungskultur. Allerdings: Wie grenzt man sich heute ab gegen Eltern, die selbst mit Micky Maus und Asterix aufgewachsen sind, Jeans und lange Haare tragen, kiffen und Eminem nicht für „Negermusik“ halten? – Indem man von rechts nach links und von hinten nach vorne liest.

Als ich, in einem anderen Jahrhundert, ins Comic-Lesealter kam, waren selbst brave Pilzfrisuren pure Provokation, und daß Paul McCartney und Pete Best in ihrer Hamburger Absteige ein Kondom an eine Wand genagelt und angezündet hatten, reichte aus, um die Beatles aus dem Land zu werfen. Comics waren „Bildidiotismus“ oder „Blasenfutter für Analphabeten“, wer sie las wurde blöde, gewalttätig und bekam die Krätze oder Schlimmeres. Da war zum Beispiel Frau Duschek. Kaum hatte unsere Lehrerin zur Einrichtung einer Klassenbücherei aufgerufen, schleppten wir, Pennäler von sieben, acht Jahren, auch schon unser Lesefutter gleich ranzenweise an: Pucki-, „Was ist was?“- und Schneider-Bücher, vor allem aber ganze Stapel von Falk-, Tibor– und Micky Maus-Heften. Der armen Frau stand das blanke Entsetzen im Gesicht, selbstverständlich wurde der Schund umgehend aus dem Klassenzimmer verbannt. Mit Ausnahme allerdings eines Sammelbandes mit den Abenteuern von Fix und Fax, den beiden Mäusen von Jürgen Kieser („von drüben“, was aber zum Glück niemand wußte, sonst wäre er auch schnell weg gewesen), der zum beliebtesten Titel unserer Bibliothek avancierte. Das war zwar auch ein Comic, allerdings mit festem Einband, und damit ging er als „richtiges Buch“ durch. Schlicht lief es in der Republik Ludwig Erhards.

Anfang der Sechziger waren die wilden Goldgräberjahre bereits Vergangenheit, die billigen Hefte von Gerstmayer, Semrau und Mondial längst verschwunden, und auch der Lehning Verlag hielt sich nur noch mühsam durch Recycling seiner endlosen Wäscher-Serien über Wasser. Eines Tages brachte mein Vater einen Stapel „Mickymäuse“ mit nach Hause, die er aus einem Altpapierhaufen gerettet hatte, und so wurde Carl Barks zum Paten meiner Comic-Initation. Natürlich hielt ich Walt Disney für den Zeichner (wie es ja auf den Heften stand, Barks kannte damals noch niemand außer einem Redakteur und einer Honorarbuchhalterin bei der Dell Publishing Company im fernen Kalifornien), aber mir fiel auf, daß es gute und weniger gute Duck-Geschichten gab, und warum, bitte schön, wohnte Donald in jeder Geschichte in einem anderen Haus? Offenbar gab sich der Mann wenig Mühe.

In Fix und Foxi hingegen hatte alles seine Ordnung, Lupo lebte verläßlich in dem immer gleichen Turm mit dem windschiefen Schornstein und der Erfinder Knox ganz modern. Vor allem aber war es das „frankobelgische Flair“, mit dem der erste Fix-und-Foxi-Zeichner Dorul van der Heide – sein Vater war Niederländer, die Mutter Französin – die Ästhetik der Kauka-Produktion geprägt hatte, das mich mehr anknipste als der Stil amerikanischer Comics. Also fing mich Rolf Kauka ein und brachte mir – „Liebe Leser … Euer Rolf“ – bei, wie die Welt funktioniert und daß man ältere Damen stets anständig um die Ecke bringt. Um irgendwann mal Schlauberger zu werden, sammelte ich die „Ich weiß mehr“-Kärtchen aus den Heften und später als Mitglied des „Wildranger Klubs“ artig Kaugummipapier aus Grünanlagen. Dann tat Kauka mit dem Abdruck belgischer Serien aus Spirou einen genialen Griff und verhalf mir zu der wunderbaren Bekanntschaft mit Franquin, Morris, Tillieux und Peyo.

Meine 50 Pfennig Taschengeld die Woche reichten natürlich nicht weit, also verdiente ich durch Austragen von Wochenend und Praline dazu und klapperte dann, die Hosentaschen voller Groschen, regelmäßig per Fahrrad sämtliche Antiquariate ab, die Hannover zu bieten hatte. Das Comic-Angebot in den sechziger Jahren war grauenhaft, gegen deren Ende fanden sich in den Tauschläden stapelweise die Hefte mit dem spitzen „Original“-Lehning-L oben links auf der Titelseite (was das Aussortieren vereinfachte), dazwischen die Endlos-Western Bessy, Lasso, Buffalo Bill und Silberpfeil, mit denen der Bastei Verlag den Markt überschwemmte, als das deutsche Fernsehpublikum gerade die Kino-Western der fünfziger Jahre nachholte.[1] Die Fernseh Abenteuer mit Lassie, Fury, Rin Tin Tin und Mike Nelson aus dem Tessloff Verlag. Superman, mit dem Ehapa 1966 über das Disney-Business hinaus expandierte. Sogar von Lehrern toleriert wurden die Illustrierten Klassiker und hatten aus den fünfziger Jahren überdauert, ebenso Prinz Eisenherz, der schon seit 1951 in Comic-Alben erschien – schließlich war das ja eine „Bildergeschichte“ und lehrreich obendrein. Poppig bunt kam dagegen Perry daher, die gezeichnete Adaption der SF-Romanheftserie „Perry Rhodan“. Die überwiegend vom Studio Giolitti in Rom in luftigen Layouts und mit einem gehörigen Schuß Erotik gestaltete Reihe war eine der erfolgreicheren deutschen Comic-Produktionen, erschien von 1967 bis 1975 und wird seit 2002 mit neuen Storys fortgesetzt. Besonders billig waren die schwarzweißen Hefte aus dem Bildschriftenverlag (sic!), dessen Hit Comics, in denen sich nahezu alle Marvel-Helden tummelten, so kryptisch übersetzt waren, daß sich streckenweise jeder Sinn verlor. Superman war mir zu bieder, die Marvel-Welt zu schäbig, mit Superhelden wurde der Teenager Knigge nicht warm.

Dafür gab es aber Die tollsten Geschichten von Donald Duck, prall gespickt mit Carl-Barks-Storys, und in der Mickyvision Dan Cooper und Michel Vaillant aus dem belgischen Tintin. Mein Favorit allerdings war eine Heftserie, in deren Ausgaben ganze Alben von Pit und Pikkolo und Lucky Luke erschienen, vollständig und abgeschlossen, da störte selbst der Gaga-Titel Fix und Foxi Super Tip Top wenig. Und es gab den Carlsen Verlag, den Per Carlsen 1953 gegründet hatte, um durch Koproduktion mit der schwedischen und deutschen Tochterfirma die Kosten für farbige Kinderbücher im kleinen Dänemark in den Griff zu kriegen (rechtzeitig genug, daß ich mit Petzi-, Pixi- und Wunderbüchern aufwachsen konnte). 1967 nahm Carlsen Hergés Tim und Struppi ins Programm. Schon einige Jahre zuvor hatte der belgische Verlag Casterman die Alben von Tournai aus herausgegeben, jedoch ohne großen Erfolg. Auch jetzt wollten sie nicht recht laufen, aber Per Carlsen plante sogar schon eine zweite Comic-Serie: Asterix. Die Vertreter stöhnten auf, der Kompromiß: Sie sollten sich für Tim und Struppi noch einmal kräftig ins Zeug legen, und dafür verzichtete der Verleger auf die zweite Serie.

Asterix ging an Ehapa, kam ebenfalls nicht in die Hufe, sollte bereits wieder aufgegeben werden, aber dann kam über Nacht der Durchbruch, schon 1972 lag die Auflage bei 1,2 Millionen Exemplaren und bald darauf doppelt so hoch. Aber auch Tim und Struppi entwickelte sich nun zu einem beständigen Erfolg, Per Carlsens Verlegernase hatte ihn nicht getrogen. Ich entdeckte die Alben eines Tages in der Stadtbücherei, die die „Tim Bücher“ für die Jugendbuchecke angeschafft hatte. Da sie äußerst begehrt waren, durfte man sie nicht entleihen. Also verbrachte ich ganze Nachmittage dort und folgte Tim nach Tibet, ins Reich des schwarzen Goldes und sogar zum Mond – sicher hätte auch ich keine Notiz davon genommen, wäre neben mir ein Regal in sich zusammengefallen. Wenig später, 1971, begann Carlsen die Reihe Comics. Weltbekannte Zeichenserien mit Nachdrucken berühmter amerikanischer Zeitungstrips. Dick Tracy, Flash Gordon, Terry and the Pirates, Li’l Abner. Kleine Texte informierten über den Hintergrund der einzelnen Serien und ihre Zeichner – zum ersten Mal war in einem Verlag ein Comic-Kenner zugange.[2] Der hieß Jens Peder Agger, saß in Kopenhagen und hatte den Auftrag, um Tim und Struppi herum ein neben dem Kinderbuch eigenständiges Comic-Programm aufzubauen, das der deutsche Carlsen-Ableger ohne weitere Einflußnahme in Koproduktion übernahm. Damit hielt der Comic Mitte der Siebziger Einzug in den Buchhandel.

Über Comics war damals nicht viel zu erfahren, gerade zwei Bücher gab es. Das eine, „Die Sprache der Comics“ von Manfred Welke (von 1958 und noch 1972 in dritter unveränderter Auflage) begann so: „Wenn der literarische Jugendschutz nicht eine Illusion bleiben soll …“. Das andere, „Die Welt der Comics“ von Alfred Clemens Baumgärtner (von 1965, 1971 als vierte Auflage) hieß schon im Untertitel „Probleme einer primitiven Literaturform“. Allerdings hatte ich Glück und mit Adolf Thielke einen Kunstlehrer, der als einer der ersten fortschrittlichen Pädagogen in Deutschland zum Thema Comic publizierte und meine Interessen förderte. Also begann ich mit eigenen „Recherchen“, die sich alsbald in Form von Betrachtungen über Asterix, Lucky Luke oder Wilhelm Busch in der auf Matrizen abgezogenen Schülerzeitung niederschlugen, die ich zusammen mit meinem Kumpel Thilo Rex aus der Parallelklasse herausgab. Die Schülerzeitung tauften wir bald um in Comics Maker, um unserer Leidenschaft nun ganz unverhohlen zu frönen und vor allem unsere eigenen Comic-Versuche zu veröffentlichen. Heute schätzen sich alle damals Beteiligten glücklich, daß die Auflage 80 Exemplare nicht überstieg.

Inzwischen hatte sich das Comic-Angebot zu wandeln begonnen. Als Mecki gerade lernte, sich in Sprechblasen zu artikulieren, eroberte Asterix zwischen APO und Deutschem Herbst die Unis. Raymond Martin, der es mit seinen nackten Nürnberger Volksverlags-Kommunarden sogar auf ein Spiegel-Titelbild brachte, setzte im Sommer 1969 U-Comix in die Welt. Angesteckt von den französischen „Pop-Bilderbüchern“ zeichnete Alfred von Meysenbug (*1940) 1968 die Agitprop-Comics Mini-Faust, Supermädchen und Glamour-Girl, zwei Jahre später folgte Robert Crumbs Bürgerschreck-Anthologie Head Comix bei März (und landete prompt auf dem Index), und Chlodwig Poth (*1930), Mitbegründer der Pardon, begann 1971 Mein progressiver Alltag. Mit Zack startete im Jahr darauf das erste konsequente und erfolgreiche Comic-Magazin nach frankobelgischem Muster.[3] Die Peanuts erschienen als kleine quadratische „Aar-Cartoons“, in Wien bemühte sich Heinz Pollischansky rührig um eine lückenlose Prinz Eisenherz-Ausgabe, und der Melzer Verlag edierte Klassiker wie Little Nemo, Feiningers Kin-der-Kids und Pogo. Und dann, mit „128 schrecklichen, blutdurchtränkten Seiten“, Der beste Horror aller Zeiten, ein wilder Geisterbahnritt durch die in den USA einst als nationale Bedrohung bekämpfte Welt der EC-Comics. Wow!

Auch eine Fanszene formierte sich, Keimzelle war der schon seit 1955 bestehende Science Fiction Club Deutschland (SFCD). 1970 dann kam es zur Gründung der Interessengemeinschaft Comic Strip (INCOS), deren Mitglieder sich umgehend an die Aufarbeitung der deutschen Comic-Geschichte machten, die noch weitgehend im Dunkeln lag: Gerade gut sechs A4-Seiten umfaßte 1972 ein hektographierter „Sonderdruck“ der INCOS Nachrichten mit der Auflistung aller damals bekannten Comics; sechs Jahre später hatte Peter Skodzik in seiner „Deutschen Comic-Bibliographie 1946-1970“ auf über 400 Seiten mehr als 18.700 Titel erfaßt. Man hatte sich Großes vorgenommen. Analog zu den SF-Cons, zu denen sich regelmäßig auch prominente Autoren wie Stanislaw Lem oder Robert Jungk einfanden, sollte im April 1973 in den Berliner Stadionterrassen der „1. Deutsche Comic-Congress“ mit dem gerade in der Lüneburger Heide aufgestöberten Hansrudi Wäscher sowie aus New York Stan Lee als Stargästen stattfinden. Lee sagte ab, die Veranstaltung geriet mit 750 Besuchern zum finanziellen Desaster, die Gründerstimmung verflog, die INCOS wurde nach ihrem hoffnungsfrohen Beginn ein Sammlerverein.[4]

Thilo und ich fühlten uns in dieser „Altpapier-Welt“ nicht zu Hause, aber daß aus unseren Fan-Comics ebenfalls nichts werden würde, wußten wir auch. Dank einer kleinen Invasion von Büchern, die Anfang der Siebziger auch in Deutschland das wachsende Interesse an den Phänomenen der populären Kultur reflektierte (darunter das 1971 erstaunlich profunde „Comics. Anatomie eines Massenmediums“ von Wolfgang J. Fuchs und Reinhold C. Reitberger mit den Titelmelodien amerikanischer Comic Radio Serials auf einer beiliegenden „Schallfolie“) und eines Besuchs beim Verlag Dargaud in Paris, den unser Französischlehrer für uns eingefädelt hatte, hatten wir unseren Horizont in Sachen Comics inzwischen ausgedehnt und beschlossen, jung und wild und wenig schüchtern, die Herausgabe eines „internationalen Comic-Fan- und Fachmagazins“, wie sie gerade in Frankreich mit Phénix und Schtroumpf oder der holländischen Stripschrift aufgekommen waren.

Ins Rollen war der Stein nach einer von Reinhold Reitberger initiierten Comic-Ausstellung im Münchner Stadtmuseum gekommen, bei deren Eröffnung Thilo im Frühjahr 1974 René Lehner aus Zürich kennengelernt hatte. Ein Comic-Enthusiast wie wir, damit waren wir zu dritt. Die erste Ausgabe der Comixene erschien im November des gleichen Jahres, René, der Älteste von uns, war Motor, Herz und Seele des Ganzen. Um Amateurzeichnern weiterhin ein Forum zu bieten, erstritt ich bei den Planungen einen Comics Maker als jeweils dritte Ausgabe (nach drei Nummern hörten wir aber endlich damit auf).[5] Erstaunlicherweise nahm man uns ernst: Fuchs und Reitberger (und viele, viele andere) schrieben für Comixene, Verlage erkundigten sich bei uns, wie man an die Rechte für Comics, die wir vorgestellt hatten, käme, und Robert Oehler nahm mich auf Zack-Kosten mit zum internationalen Comic-Festival nach Lucca. Dort sollte ich als gerade eben zeichnungsberechtigt gewordener Pöks über deutsche Comics referieren. (Daß die Weltöffentlichkeit tatsächlich von „Jimmy the Rubberhorse“ und „Sigörd“ erfuhr, war allerdings pures Glück, denn auf der gemeinsamen Zugfahrt nach Italien brachte uns Dieter Kalenbach beim Umsteigen in einer Münchner Bahnhofsspelunke in Lebensgefahr, als er, durchaus wahrheitsgemäß, den Zustand seiner Weißwurst kommentierte.) Doch als sich zuerst Thilo zurückgezogen hatte, dann René zeitlich kürzertreten mußte und ich schließlich meine Einberufung zum Zivildienst bekam, hätte alles zu Ende sein können. Anfang 1978 sah ich keine andere Möglichkeit, als die Comixene nach 17 Heften einzustellen. Dann klingelte das Telefon.

Hartmut Becker, der im Jahr zuvor mit den Kölner Comic-Tauschtagen eine bis heute legendäre Sammlerbörse gegründet hatte und gelegentlich für die Comixene schrieb, wollte plaudern. Sechs Stunden, nachdem ich ihm von dem gerade gefaßten Entschluß erzählt hatte, saßen er und Achim Schnurrer, den er fix in Köln eingesammelt hatte, in Hannover auf meinem Sofa, und bis ins Morgengrauen schmiedeten wir Pläne, wie es weitergehen könne. Hartmut zog vom Rhein an die Leine, formte aus der Klitsche einen Verlag, 1979 ließen wir die Edition Becker & Knigge als GmbH eintragen. Ideen und Ziele hatten wir in jener Nacht wie Popcorn produziert: Eine Schriftenreihe zum Thema Comic tauften wir im Siebzigerjahre-Jargon „Comixene Materialien“, gleich der erste Band, „Bilderfrauen/Frauenbilder“, wurde für unsere Verhältnisse zum Bestseller und erlebte mehr als ein halbes Dutzend Auflagen. Dann folgte mit „Die Kinder des Fliegenden Robert“ eine erste Bestandsaufnahme der deutschen Comic-Historie vor 1945. Und natürlich Alben nach Carlsen-Manier, mit denen wir Klassiker wie Taró oder Jimmy das Gummipferd dem Vergessen entreißen wollten.

Aus meiner Wohngemeinschaft, die den Verlag bislang beherbergt hatte, zogen wir in eine Büroetage gleich neben unserer Druckerei. Ludwig Könemann, der später den internationalen Vertrieb für Taschen auf die Beine stellen und dann den Könemann Verlag gründen sollte, kam dazu und kümmerte sich um den Verkauf. Mit Comics etc. gründeten wir die erste „altpapierfreie“ Comic-Buchhandlung in Deutschland, in der unser neuer Partner Paul Derouet auch für ein umfangreiches internationales Angebot sorgte.[6] Inzwischen war die Comixene nicht mehr allein. Für die Sammler, denen wir zu sehr nach vorne und zu wenig über die Schulter sahen, lancierte Norbert Hethke 1976 die Sprechblase, aus Wien kam ab 1979 Comic Forum. Blendende Beziehungen entwickelten sich zu Carlsen. Wir fühlten uns mit dem Reinbeker Verlag auf der gleichen Wellenlänge, widmeten ihm ein Comixene-Themenheft, texteten die Carlsen-Publikumsprospekte, und als das Programm wuchs, bot uns Verlagsleiter Herbert Voss die Ehe an. Allerdings war Per Carlsen dann in unseren Augen mit seinem Angebot für die Übernahme der Edition Becker & Knigge eher knauserig. Wir beschlossen, unseren eigenen Weg zu gehen, konnten Voss aus unseren Reihen aber immerhin Eckart Sackmann vermitteln, der für Comixene gerade die Geschichte von Mecki erforscht hatte (und später mit seinem eigenen Verlag Comicplus reüssieren sollte): Zum ersten Mal rückte damit ein Comic-Fan in die Redaktion eines der großen Verlage ein.

Comixene war immer professioneller geworden, farbig und monatlich, rempelte mit ihrer kritischen Marktbeobachtung allerdings auch an. Ernst wurde es etwa 1980, als Rolf Kauka spitzkriegte, daß wir für ein Heft über seinen Verlag nicht nur ihn, sondern auch seinen ehemaligen Chefzeichner Walter Neugebauer interviewt hatten. Kauka flog in Hannover ein, bewunderte das Fix-und-Foxi-Dorf, das ich mit 14 gebastelt hatte, betätigte den Fix-und-Foxi-Brummkreisel aus Hartmuts Merchandising-Schatzkammer und brachte uns kurz vor Druck zur Streichung einer Neugebauer-Passage zur Urheberschaft von Tom und Klein Biberherz.[7] Kurz darauf bombardierte uns der Condor Verlag gleich mit einem ganzen Satz Schadensersatzklagen über je 100.000 Mark, weil ich angesichts der Bearbeitung eines Flash Gordon-Taschenbuchs in eine zu hohe Tonlage geraten war. Obwohl wir 544 handwerklich schlecht ausgeführte Veränderungen gegenüber dem Original nachwiesen, konnte das Gericht unserer Argumentation, auch das Werk eines Comic-Zeichners verdiene ein wenig Respekt, nicht recht folgen, sah uns mit unserer Handvoll Comic-Alben aber in Konkurrenz zu Condor (Jahresumsatz 40 Millionen Mark) stehend und den Strafbestand einer wettbewerbswidrigen Schmähkritik.[8]

Reserven, um juristische Auseinandersetzungen auszuhalten, hatten wir keine, der Verlag hielt sich ohnehin nur durch Selbstausbeutung über Wasser. Ein Jahr später und nach 42 Ausgaben war es aus mit der Comixene, jetzt würgte uns das „grüne Band der Sympathie“. Um die Bank ruhig zu halten, schrieb ich einen Stapel Bücher, und mit Martin Compart (der nicht nur in dieser brenzligen Lage, wie die Texas Rangers in den alten Filmen auf den letzten Drücker, angeritten kam) setzte ich bei Ullstein das „Comic Jahrbuch“ in die Welt.[9] Anfang 1983 zog ich nach Hamburg und dockte bei Carlsen an.


[1] Der 1950 von Gustav Lübbe übernommene Bastei Verlag hatte in einer kleinen Baracke in Bergisch Gladbach mit der Herausgabe von Romanheften begonnen und 1956 mit „Jerry Cotton“ einen Bestseller. Zwei Jahre später folgten die beiden ersten Comic-Hefte. Pony, in dem parallel zu den Casterman-Alben auch Tim und Struppi lief, hatte sich schnell erledigt, Felix hingegen wurde eine der erfolgreichsten deutschen Heftreihen und erschien bis 1981. Anfangs kamen klassische Felix-Strips (und andere Zeitungsserien wie die Katzenjammer Kids oder Blondie) zum Abdruck, dann wollte man den schwarzen Kater zwischen Micky Maus und Fix und Foxi positionieren, stellte ihm die beiden Neffen Inky und Dinky zur Seite und übernahm die Produktion neuer Storys in eigener Regie. In Felix kam zudem ein buntes Gemisch aus Eigenproduktionen und Lizenzmaterial aus verschiedenen Ländern zum Abdruck. Als besonders erfolgreich erwiesen sich Wastl und Bessy aus dem Studio Vandersteen, die sich Mitte der sechziger Jahre mit eigenen Heftserien verselbständigten. Als das Originalmaterial aufgebraucht war, erweiterte Willy Vandersteen sein Studio und produzierte speziell nach den Bedürfnissen von Bastei. Mit wöchentlichen Endlosserien, die Zeichenstudios in ganz Europa, etwa Giolitti in Italien oder Ortega in Spanien, lieferten, und denen über viele Jahre Klaus Dill mit seinen dramatischen Titelbildern ein Gesicht gab, rückte Bastei zum neben Ehapa und Kauka dritten großen Comic-Verlag der 1970er Jahre auf. Als letzte Comic-Serie ist heute Gespenster Geschichten geblieben, dessen Storys aus über 1.500 Heften aus drei Jahrzehnten zu immer neuen Ausgaben recycelt werden. Zwischen keimfreien Fernseh- und Mädchen-Heften wie Heidi oder Conny hat Bastei immer wieder auch unerwartete Überraschungen beschert, etwa Anfang der Siebziger mit der Übernahme belgischer Serien wie Der Rote Korsar, Jerry Spring oder Rex Danny mit vollständigen Abenteuern in Heftform oder das Albumprojekt Die Götter aus dem All, das Boguslaw Polch in Polen nach den Erich-von-Däniken-Schmökern zeichnete. Die Reihe sollte in ganz Europa und sogar den USA erscheinen, doch zeigte nirgendwo ein Verlag Interesse: Comics aus Deutschland, ob Tibor oder Fix und Foxi, hatten sich noch nie als Erfolg erwiesen, das Lizenzgeschäft war eine Einbahnstraße.

[2] Die meisten Mitarbeiter der Comic-Verlage hatten seinerzeit kaum Erfahrung mit dem Medium: Comics waren Billighefte, deren Seiten irgendwie gefüllt werden mußten, Hauptsache termingerecht. War eine Geschichte zu lang, griff man vielerorts einfach zur Schere, fehlte etwas, klebte man an. Beliebt war auch der Verkauf kleiner Anzeigen in Panel-Größe, für die dann hemmungslos ein „Bildchen“ entfiel, es gab ja genug davon. Kauka-Macher Peter Wiechmann erzählte, wie er Mitte der sechziger Jahre bei Lupo einstieg: „Comic ist ein Fremdwort für mich. Ami-Comics waren in meinen Kindertagen geldwerte Handelsware, Tauschmaterial für mich, um an Süßigkeiten und Spielzeug zu kommen. Angeschaut habe ich die bunten Hefte damals nicht. Was sich nun als gewisser Nachteil erweist. Bei einer halbfertig getexteten Pit und Pikkolo-Geschichte steige ich aktiv ein, nicht wissend, daß diese Episode eine von vielen einer in Frankreich bereits berühmten Serie ist. Und so sitze ich vor den Blaupausen und versuche zu verstehen, wie die Aussage so einer Bildaneinanderreihung funktioniert, wer was sagt.“

[3] Mit Zack versuchte Axel Springer, auf dem bislang ignorierten Comic-Markt Fuß zu fassen, Material hatte man vor allem in Frankreich und Belgien geortet: „Es ist eine erstaunliche Tatsache“, hieß es in einer Pressemitteilung, „daß bis zum Start von Zack das Comic-Material der beiden großen Verlage Lombard (Brüssel) und Dargaud (Paris) nur zu einem winzigen Bruchteil in Deutschland genutzt wurde.“ So standen erfolgreiche frankobelgische Serien wie Blueberry, Andy Morgan oder Valerian zur Verfügung, von denen zudem über umfangreiche Backlists verfügt werden konnte. Der Start mit 440.000 Exemplaren wurde von einer für eine Comic-Publikation bis dahin noch nicht gesehenen Werbekampagne (geschätzt wurden über zehn Millionen Mark) und einer breiten flankierenden Berichterstattung in den Springer-Medien begleitet. Durch seinen enormen Erfolg hat Zack eine ganze Generation von Comic-Lesern maßgeblich geprägt und markiert in Deutschland das Ende der frühen Schmuddelheft-Produktion und den Beginn der Comic-Moderne. Auf dem internationalen Comic-Festival in Lucca wurde Zack 1973 mit dem Yellow Kid als bestes europäisches Comic-Magazin ausgezeichnet, der Verlag verstand sich als Teil einer gesamteuropäischen Comic-Kultur. Schon früh versuchte man auch, sich durch Eigenproduktionen aus der Lizenzabhängigkeit zu lösen. 1973 etwa steuerte Albert Weinberg die Taucherserie Barracuda bei, im gleichen Jahr kam mit Dieter Kalenbach auch ein deutscher Zeichner ins Heft. Kalenbach (*1937) ist der erste moderne deutsche Comic-Künstler, der auch international Beachtung fand, seine Serie Turi und Tolk um die Abenteuer eines Lappenjungen wurde als Lizenz in mehrere europäische Länder verkauft. Nachdem Rolf Kauka seinen Verlag veräußert und die Produktion eingestellt hatte (→ XXX), stieß er mit seinem bisherigen Chefredakteur Peter Wiechmann 1976 zu Zack und brachte etliche Serien aus der seiner Produktion mit, Qualität und Verkaufszahlen gingen in den Keller. Man erkannte, daß man ohne die Franzosen und Belgier nicht auskam und warb Zeichner und Autoren wie Hermann, Jijé oder Jean-Michel Charlier von ihren bisherigen Verlagen ab: Statt weiterhin Lizenzen einzukaufen, kam Springer 1979 in Holland mit Wham! und in Frankreich und Belgien mit Super-As selbst auf den Markt und nutzte die Vorteile einer internationalen Koproduktion. Doch die Zeit der Magazine war vorbei, im Sommer 1980 wurde Zack beerdigt, Wham! und Super-As folgten wenig später. 1999 ließ der Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag Zack als Monatsmagazin wieder aufleben.

[4] 1975 versuchte ich einen „2. Deutschen Comic Congress“ im Hannoverschen Kunst-Center. Mit Carsten Søndergaard (später Carlsen-Cheflektor in Kopenhagen) kam sogar ein ausländischer Gast, und in Form einer Urkunde wurde erstmals ein Preis für „besondere Bemühungen um einen guten und niveauvollen Comic“ verliehen: Er ging an Heinz Pollischansky für dessen Prinz Eisenherz-Alben. O-Töne aus der Nachlese in Comixene 7/8: „Dankeschön an Werner Brandes.“ „Bereits um 11 Uhr war das Kunst-Center so voll, daß es schon schwierig war, den Überblick zu behalten. Über 150 Besucher waren angereist, um am Comic Congress teilzunehmen. Zuerst balgte sich alles um die Verkaufstische, wo Raritäten wie Peterle als Reporter oder Jochen und Klaus in Afrika – um nur einige Seltenheiten zu nennen – zu Höchstpreisen verkauft wurden. An beiden Tagen wechselten wohl Hefte im Wert von 30.000 Mark die Besitzer.“ „Von den geladenen Zeichnern hatte Bob Heinz leider absagen müssen, Franz W. Richter-Johnsen erschien dann überraschenderweise auch nicht, und Dieter Kalenbach konnte aus terminlichen Gründen nur Samstag am Congress teilnehmen. Die Diskussion [mit ihm] verlief jedoch schnell im Sande, da viele Fans schon wieder zu den Verkaufstischen drängten.“ „Anschließend hielt Norbert Aping seinen Vortrag ‚Comics in der BRD‘, der mit regem Interesse verfolgt wurde. Danach brachen dann die meisten Besucher schon auf, so daß der Vortrag von Wolfgang J. Fuchs, ‚Comics und Radio – Comics im Radio‘ mit interessanten Tonbeispielen und einigen reißerischen Worten von Stan Lee, nur noch von einigen Besuchern verfolgt werden konnte.“ „Für ein wachsendes Comic-Fandom!“

[5] Was wir damals als pubertierende Fanboys durch unsere Comic-Begeisterung anzettelten, ist inzwischen auch Gegenstand einer Doktorarbeit geworden. Allerdings ist der Literaturhistoriker Eckart Sackmann in seiner Dissertation „Die deutschsprachige Comic-Fachpresse“ (Comicplus; 2000) bei seinem Rekonstruktionsversuch der Comixene-Geschichte zu Darstellungen gelangt, die sich mit meinem Erleben nicht decken: Obwohl es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt und ich laut Personenregister die in dem Buch am häufigsten auftretende Figur bin, hat mich der sonst gewöhnlich sorgfältig recherchierende Sackmann nicht befragt und sich ausschließlich mit anderen, zuweilen recht eigenwillig ausgewerteten Quellen begnügt; neben faktischen Fehlern sind somit vor allem die Atmosphäre, in der wir uns bewegten, und die Motivationen, die uns trieben, unzutreffend wiedergegeben.

[6] Das deutsche Angebot war nach wie vor weitgehend trostlos, immerhin setzte sich in den Siebzigern durch den Asterix-Erfolg neben den Heften auch am Kiosk die Produktform des Albums zunehmend durch und ermunterte einige Verlage sogar zu Eigenproduktionen. Die Illu-Press etwa startete 1975 die ausgesprochen witzige und originelle Reihe Schindelschwinger von Peter Schulz und Michael Ryba, der Bavaria Verlag 1980 Professor Gallenstein von Günther Mayrhofer. Später folgten Café Cash-mir von Werner Friedhoff und Norbert Höveler und Karl von Eberhard und Patrick Kunkel und Michael Apitz.

[7] Das Cover der Kauka-Comixene hatte dessen ehemaliger Chefredakteur Peter Wiechmann, mit dem Studio Comicon inzwischen freier Produzent, gestaltet, da uns seine Montage aber nicht gefiel, entwarfen wir ein neues. Weil Wiechmanns Version vorlag, hatte Hartmut die Idee, 200 Exemplare damit zu drucken und erfand so das Variant-Cover, das heute zum Marketing-Repertoire aller großen Comic-Verlage gehört.

[8] Condor-Herausgeber Manfred Biehler trug vor, unser Sternchen-Klassiker Taró sei „zielgruppenmäßig vergleichbar mit Zorro, Aktionshelden, Conan; Jimmy das Gummipferd mit Clever & Smart, Familie Feuerstein, Der rosarote Panther; Robinson mit Die Spinne, Zorro, Raumschiff Enterprise“. Ein Comic, so hieß es in der Klageschrift, sei eben „im Kern kein anderes Produkt als Seifenpulver, Bonbons und Rasierklingen“.

[9] Comixene und das „Comic-Jahrbuch“ wurden später in der von Joachim Kaps gegründeten Edition B & K fortgeführt; seit 2003 erscheint Comixene wieder im Verlag Jurgeit, Krismann & Nobst und feiert 2004 ihren 30. Geburtstag, das „Comic-Jahrbuch“ gibt heute Burkhard Ihme im Rahmen des Interessenverbands Comic e.V. heraus.

Teil 2: Comic Culture

Das Wichtigste vielleicht, zu dem wir mit der Comixene beigetragen hatten, war die Entdeckung, daß sich die Comic-Landschaft mitgestalten ließ: Hier die Produzenten, dort die Konsumenten, vorbei. Überall in der Republik regte es sich plötzlich, 1980 veränderte sich der Markt schlagartig: Der Verlag Schreiber & Leser eröffnete mit Milo Manaras Das große Abenteuer ein innovatives, bis heute spannend gebliebenes Comic-Programm für anspruchsvolle Augenmenschen, der Bahia Verlag publizierte die erotischen Bände von Guido Crepax und Georges Pichard (die bald nahezu sämtlich auf dem Index standen), der Volksverlag gab mit Schwermetall eine deutsche Ausgabe des französischen Magazins Métal hurlant heraus, dem wenig später ein neues U-Comix, ein kurzlebiges Pilot und ein Haufen Alben folgen sollten. Im Jahr darauf gründete David Basler die Edition Moderne (in der heute vor allem das Werk Jacques Tardis liebevoll in schönen Ausgaben gepflegt wird), der Semmel Verlach legte Brösels Werner auf, Feest veröffentlichte erste Alben, Carlsen erweiterte sein Programm mit Corto Maltese, Spirit und Reisende im Wind um erste Reihen für Erwachsene, die „Carlsen Special Comics“ (sic!) hießen, bevor sie dann mit „Edition comicArt“ gelabelt wurden. Selbst der Spiegel merkte auf und notierte 1982 in einem Kultur-Aufmacher: „Auf den Boom bei Bildergeschichten setzen Jungunternehmer und Branchenveteranen gleichermaßen.“ Noch war die Luft allerdings dünn, sowohl Taschen wie auch Heyne zogen sich nach einer Handvoll Alben wieder vom Comic zurück.

Sehr viel war es nicht, was ich bei Carlsen vorfand. Der Verlag war mit inzwischen rund 50 Titeln im Jahr, eine Hälfte im Frühjahr, die andere im Herbst, Marktführer im Buchhandel, verdankte Startauflagen von zumeist 10.000 Exemplaren nicht zuletzt aber auch seiner bisherigen Alleinstellung und geriet nun durch die überall aufblühende Konkurrenz in eine neue Situation. Die mit mir jetzt vierköpfige Kinderbuch- und Comic-Redaktion war dafür da, für die Übersetzungen zu sorgen und die deutschen Texte termin- und paßgerecht zur Koproduktion mit den dänischen und schwedischen Titeln in Kopenhagen abzuliefern. Wir saßen in engen gläsernen Büros in einer Sackgasse im tristen Reinbeker Industriegebiet, weit vor den Toren Hamburgs, links ein Schnapsvertrieb, rechts ein Fabrikant von Bremsbelägen, gegenüber eine Filiale der Raiffeisenbank, und ein paar Straßen weiter begannen Felder. An hektischen Tagen klingelte zuweilen ein Telefon, die dänischen Kollegen, und kam man morgens um fünf nach acht, war man zu spät. Für mich, der aus einem pulsierenden kreativen Treiben kam, ein enger Schuh.

Der aber insofern nicht allzusehr drückte, als es mit dem Comic allgemein bergauf ging. Im Sommer 1984 veranstaltete das Kulturamt der Stadt Erlangen den ersten Internationalen Comic-Salon: Vier Tage, von Achim Schnurrer und Karl Manfred Fischer prall gefüllt mit Diskussionen, Filmen, Ausstellungen, dazu eine Comic-Messe, auf der sich zwischen den Ständen der Verlage über 25.000 Besucher drängelten. Endlich hatte die Szene einen Ort, an dem sie sich begegnen konnte. Und zum ersten Mal wurde der Max-und-Moritz-Preis verliehen, in der Kategorie „Bester deutscher Comic-Künstler“ an Chris Scheuer, der nach kurzen Veröffentlichungen in Schwermetall gerade ein kleinformatiges, 28seitiges Bändchen mit dem Titel Sheshiva vorgelegt hatte.[1] Motiviert hat den begnadeten Grazer Zeichner die Auszeichnung leider kaum, er ist wahrscheinlich der Comic-Preisträger mit dem weltweit schmalsten Werk geblieben. Den Preis für die beste deutschsprachige Comic-Publikation bekam Carlsen für die Edition comicArt. Einbilden konnten wir uns darauf freilich wenig, denn das Programm kam nach wie vor aus Kopenhagen.

Angesichts der Entwicklungen in Deutschland war das allerdings ein Zustand, der nicht länger haltbar war. Schon einige Jahre zuvor etwa waren die deutschen Rechte für Lucky Luke und Blueberry frei gewesen, doch da die Serien in Dänemark schon bei der Konkurrenz waren und somit für das Kopenhagener Mutterhaus nicht von Interesse, hatte „Dschi-Pi-Ey“, wie Jens Peder Agger im Reinbeker Jargon hieß, sie nicht eingekauft. Wir mußten beweglich werden, eigenständig planen und agieren können, und nachdem ich die Programmverantwortung für Deutschland in Reinbek verankert hatte, war auch der Weg frei für Eigenproduktionen. Den Auftakt machte 1985 Die Spuren der Götter von Rafael Solá Ferrer und Birger Thorin Grave. Später folgten Alben von Matthias Schultheiss und Ralf König, und zum Erlanger Comic-Salon 1990 füllten wir sogar das gesamte Juni-Programm ausschließlich mit den Alben deutschsprachiger Zeichner, elf an der Zahl (darunter mit Michael Götzes Robot-Imperium auch der international erste ansehnliche „Computer-Comic“). Durch die ökonomische Linse betrachtet war das durchaus nicht unriskant, sorgte aber für ein enormes Medienecho und hatte damit den beabsichtigten Effekt, deutsche Künstler ins Rampenlicht zu rücken. 1993 stand der internationale Comic-Salon in Angoulême unter dem Thema „Germaniaques. La génération BD allemande“ – die deutsche Comic-Generation.

Matthias Schultheiss bildete mit einer eindrucksvollen Werkschau den Mittelpunkt der „Germaniaques“, im Katalog dazu schilderte ich „le problème allemand“ und wie wir einige Jahre zuvor mit Pierre Christin und Jean-Claude Mézières in Hamburg zusammensaßen: „Pierre erzählte, wie sehr er die Filme von Fassbinder und Wenders schätze, die ihm ein ganz anderes Bild von Deutschland gezeigt hatten als das, das damals in den Köpfen der Franzosen existierte. Und daß er es bedauere, daß deutsche Zeichner offenbar Paris oder New York als Schauplätze ihrer Geschichten vorzögen, anstatt etwas über ihr Land zu erzählen. ‚Comics‘, sagte er, ‚sind eine ausgezeichnete Möglichkeit, ein anderes Land, eine andere Kultur kennenzulernen.‘ Dieses Gespräch hat Spuren hinterlassen.“ In Die Wahrheit über Shelby (1986), Schultheiss‘ Meisterstück und für mich bis heute eins der mit Abstand eindrucksvollsten Werke deutscher Comic-Kunst, springt die Handlung nach einem furiosen Auftakt in Amerika im zweiten Band mitten in den verschneiten Hamburger Hafen, und dessen bizarre Industriekulisse aus verwaisten Kränen, verrosteten Pontons, Schiffswracks und Hafenschleppern, die sich ihren Weg durch die Eisschollen unter der alles überragenden Köhlbrandbrücke hindurch bahnen, wird zum kafkaesken Spiegel der Seelenlandschaft Shelbys. In Night Taxi, für das Pink Unlimited 1990 sogar einen Soundtrack einspielte, chauffiert eine junge Taxifahrerin obskure Fahrgäste durch das nächtliche St. Pauli.[2]

Viktor Niemann, 1986 als neuer Verleger von Ullstein zu Carlsen gekommen und großer Schultheiss-Fan, ließ sich von der Euphorie, die in Sachen Comic allerorten herrschte, anstecken. Wir zogen um in ein quirliges Viertel mitten in Hamburg, der Verlag wurde ein richtiger Verlag, jetzt zwischen Dönerläden und Szenekneipen vor Mehltau geschützt. Und wir wollten etwas Neues versuchen: Uns mit Comics einzumischen. Erst wenn sie ins Gespräch kämen, Diskussionen mitbestimmen, so unser theoretischer Überbau, haben sie sich wirklich als „erwachsen“ emanzipiert. Gerade regten sich wieder rechtsradikale Knirpse im Land, der 50. Jahrestag des Überfalls auf Polen nahte, Viktor kam mit der Idee für eine Hitler-Biographie: „Die Bilder, die wir vom Nationalsozialismus haben, sind doch die Bilder der Nazi-Propaganda. Der Comic kann das ganz anders zeigen.“ Walter Kempowski sagte als Autor ab, der Historiker Friedemann Bedürftig übernahm schließlich das Schreiben, und Dieter Kalenbach zeichnete 200 Seiten. Die semiologische Konzeption betreffend erhielt das Ergebnis auch berechtigte Kritik, eine Untersuchung der Stiftung Lesen allerdings zeigte, daß Schüler, die im Unterricht mit dem Comic gearbeitet hatten, später sehr viel besser über den Nationalsozialismus Bescheid wußten als die aus den Vergleichsklassen ohne Comic. Da die beiden Bände an vielen Schulen eingesetzt wurden, hat es also wahrscheinlich ein paar kleine Neo-Nazis weniger gegeben.

Gerade zuvor war auch Art Spiegelmans Maus bei Rowohlt erschienen, in einer Runde mit Klaus Maria Brandauer, dessen „Georg Elser. Einer aus Deutschland“ eben angelaufen war, diskutierte ich im österreichischen „Club 2“ über das Versagen der Aufklärung und welche Möglichkeiten sich Comic und Film bieten, Faschismus zu thematisieren. Zum ersten Mal widmete das „Bücherjournal“ einem Comic einen Beitrag, der Spiegel brachte drei Seiten. Wir waren im Kulturbetrieb, der das Medium bislang beharrlich ignoriert hatte, angekommen. Als in der Wiener Talkshow der Hitler-Comic in die Kamera gehalten wurde, fiel in Berlin die Mauer. Ein paar Tage später saß ich mit Pierre Christin in einem kleinen Restaurant an der Place de la Bastille, hatte die Bilder aus Enki Bilals Portfolio „Die Mauer“ im Kopf, das wir einige Jahre zuvor bei Becker & Knigge verlegt hatten, und fragte Pierre, ob er sich vorstellen könne, mit Bilal ein Album zu machen. Über Nacht war die Welt eine andere geworden, was für ein Thema! Pierres Einwand war richtig, ein solches Projekt würde mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen, spannender wären doch spontane, authentische Reaktionen: Eine Anthologie? Comic-Künstler aus Ost und West, gemeinsam als Chronisten eines historischen Umbruchs? Am nächsten Morgen machten wir eine Reihe von Testanrufen. Bilal war dabei, Mézières sagte zu, Moebius, Tardi. Let’s go. Vier Monate später lag Durchbruch von den USA bis Ungarn in zwölf Ländern vor, 30 Autoren und Zeichner aus aller Welt, aus Deutschland dabei Matthias Schultheiss und Lothar Dräger mit der Mosaik-Künstlergruppe Zonic (d. s. Jörg Reuter, Andreas Pasda und Jens Uwe Schubert). Auf dem Comic-Salon in Lucca wurde das Album 1990 als beste internationale Produktion mit dem Targa Oesterheld ausgezeichnet, kurz darauf gewannen wir die französische Zeichnerin Annie Goetzinger für den ersten Comic-Roman zum Thema Aids: Die verlorene Zukunft erschien in sechs Ländern.

1983 noch war der Comic mit gerade 20 Prozent Verlagsumsatz eine Nische gewesen, fünf Jahre später machte er 60 Prozent aus. Der Boom kam zur rechten Zeit, denn dem Carlsen-Kinderbuch ging es Ende der Achtziger nicht so gut, der Comic brachte den Verlag wieder auf Erfolgskurs. Die Resonanz war gewaltig, das Programm wuchs beständig. 1989 verabschiedeten wir uns von den Frühjahrs- und Herbstauslieferungen und wurden, wie die Taschenbücher, monatlich. Ich hatte verdammtes Glück und inzwischen mit Uta Schmid-Burgk und Marcel Le Comte zwei phantastische Mitstreiter, mit denen zusammen sich offenbar jede Schallmauer durchbrechen ließ. Auf der Spitze produzierten wir zu dritt über 20 Titel im Monat. Matthias Forster kam als Pressesprecher dazu, wir riefen die „Carlsen Comic Cultur“ aus und Hamburg mit der höchsten Zeichnerdichte der Republik zur „deutschen Comic-Metropole“.[3]

Das Tollste aber war, daß wir eine Menge in Deutschland Verpaßtes aufholen und munter die neuen Trends setzen konnten. Die Rückkehr des Dunklen Ritters und Watchmen läuteten das Comeback der Superhelden ein. Direkt daneben standen Werkeditionen frankobelgischer Albumeihen, bibliophile Ausgaben berühmter Klassiker wie Little Nemo oder Feiningers Kin-der-Kids, die sich mit Independents wie Peter Bagges Leck mich!, Elfquest oder Bone vertrugen, Künstler-Monographien, Comic-Romane, Eckart Breitschuhs Parodie der „Lindenstraße“, Star Wars und mit „Carlsen Lux“ eine Bibliothek moderner Comic-Künstler, in der auch etliche deutschsprachige Zeichner wie Martin Baltscheit, Jürgen Mick oder Christian Farner debütierten. Mit einer Ausnahme (1993: Ehapa Comic Collection) vergaben die Leser des Wiener Comic Forum den Prix Vienne in der Kategorie „Bester Comic-Verlag“ zwölfmal in Folge an Carlsen, und auch aus Erlangen durften wir regelmäßig Max-und-Moritz-Preise mit nach Hause nehmen.

Erlangen hatte 1984 in vielerlei Hinsicht Initialfunken gesetzt und nicht nur uns die Zuversicht gegeben, daß es mit dem Comic nun endlich was werden würde: Schreiber & Leser und die Edition Moderne waren unermüdlich, das Avantgarde-Magazin Strapazin erblickte das Licht der Welt, Achim Schnurrer übernahm Schwermetall und U-Comix von dem eingeknickten Volksverlag und legte in dem neu gegründeten Alpha-Comic Verlag ein Albumprogramm auf. Semmel baute aus, Feest expandierte mit einer wahren Titelflut (sollte sich aber bald überheben und wurde 1991 von Ehapa übernommen), Comicplus und Splitter druckten Alben, sogar der sonst nur am Kiosk aktive Condor Verlag rief eine Beta Comic-Art Collection (sic!) ins Leben. Hethke versuchte sich ebenfalls mit frankobelgischen Serien, Boiselle-Löhmann und Comic Forum setzten auf Klassiker, Fischer unter dem Imprint Krüger auf Stripserien wie Snoopy oder Calvin und Hobbes, die Uitgeverijs Blue Circle und Arboris probierten ihr Glück mit deutschsprachigen Titeln sogar von Holland aus. Und vor allem sprossen überall neue Comic-Läden aus dem Boden, denn der klassische Sortimentsbuchhandel gab seine Ressentiments nur zögerlich auf. Das Angebot entwickelte sich ab Mitte der Achtziger beeindruckend vielseitig und vor allem rasant. Bei einem Umsatz von 25 Millionen Mark erschienen 1989 bereits 400 Titel. Längst nicht alles aus dieser Zeit der Experimente und des Probierens hat sich bewährt, aber vieles nahm hier seinen Anfang.

1988 kündigte die Walt Disney Company ihrem italienischen Lizenznehmer Mondadori nach über 50 Jahren die Rechte auf, um das Comic-Geschäft künftig in eigener Regie zu übernehmen. Ehapa, weitgehend eine Disney-Monokultur, mußte für den Fall der Fälle sorgen, machte den Buchhandel als Zukunftsmarkt aus, warb uns mit Klaus Mrositzki unseren verdienten Vertriebsleiter ab und gründete 1989 die Ehapa Comic Collection. Als dann auch noch Bastei mit Alben begann, hatte sich die Titelzahl binnen Jahresfrist um 50 Prozent auf 600 Bände erhöht, der Gesamtumsatz jedoch nur um gut zehn Prozent. Der Wachstumsmarkt wurde zum Verdrängungsmarkt, die Auflagen sanken, die Preise stiegen, eine fatale Spirale sollte in Gang geraten. Während die Bastei Comic Edition eine eigenwillige Mischung aus New Wave, Punk und Fantasy bot (und 1993 implodierte), nahm sich Ehapa uns zum erklärten Vorbild, und es dauerte nicht lange, bis mehrere Helden die Ställe wechselten.[4] Etliche französische und belgische Lizenzgeber, seit Jahren in der Dauerkrise und klamm, pokerten uns bei gleichzeitig schrumpfenden Auflagen gegeneinander aus, später zogen einige mit obskuren Kooperations- und Beteiligungsvorschlägen die Schlinge noch enger. Es bröckelte. Doch zunächst kam Akira.


[1] Den Max-und-Moritz-Preis in der Kategorie „Bester deutscher Zeichner“ bekamen in der Folge Matthias Schultheiss (1986), Franziska Becker (1988), Gerhard Seyfried (1990), Ralf König (1992), Hendrik Dorgathen (1994), Thomas Ott (1996), Bernd Pfarr (1998), Martin tom Dieck (2000) und Peter Puck (2002).

[2] Matthias Schultheiss (*1946) stieg Ende der 1980er Jahre in den Olymp der international renommiertesten Comic-Künstler auf, und sein steiniger Weg zu Erfolg und Anerkennung illustriert exemplarisch die Situation vieler Zeichner im deutschen Sprachraum. Es begann 1977, als ein Redakteur des John Jahr Verlags durch die französische Serie Der II. Weltkrieg in Bildern, die der Condor Verlag im Jahr zuvor übersetzt hatte, auf die Idee kam, es ebenfalls mit bebildertem Geschichtsunterricht zu versuchen, roter Faden: Hitler. Schultheiss, der als Illustrator arbeitete, wurde angesprochen, sagte zu, der erste Band war nahezu fertig, da sickerte vorab etwas durch, der Verlag bekam nach dem empörten Bericht eines Fernsehmagazins kalte Füße und begrub das Projekt. Daraufhin bot Schultheiss Bulls Die Wölfe von St. Pauli an, doch der Pressedienst, der von Frankfurt aus Zeitungen mit amerikanischen Strips versorgt, sah keine Chance. Die nächste Station war Zack, aber noch bevor die ersten Folgen der verabredeten Serie Trucker koloriert waren, gab es das Magazin nicht mehr. Schultheiss hatte inzwischen nahezu 200 Comic-Seiten produziert und noch keine davon veröffentlichen können, als er Anfang 1981 schließlich auf dem berühmten Comixene-Sofa saß und seine Mappe öffnete: Ich war schlicht baff, so etwas hatte ich aus der Feder eines deutschen Zeichners noch nicht gesehen, noch nicht einmal erwartet. Wenig später lag die Highway-Ballade in einem „Comic-Reader“ bei Becker & Knigge vor, wo sie die Kopenhagener Interpresse entdeckte und ins Dänische übersetzte. (Eine farbige Ausgabe erschien 1989 noch einmal bei Carlsen.) Doch der Durchbruch war noch lange nicht geschafft.

Schultheiss begann mit der Adaption von Charles-Bukowski-Shortstorys für Zweitausendeins, acht Geschichten, fast 150 Seiten, waren fertig, da trat der Verlag 1982 vom Vertrag zurück. (Schließlich erschienen die Storys 1984 doch noch in zwei Alben bei Heyne und später noch einmal als Gesamtausgabe bei Carlsen.) Wegen seiner guten Kontakte zu französischen Verlagen brachte ich Paul Derouet mit Schultheiss zusammen, gemeinsam machten sich die beiden dann 1983 auf den Weg nach Paris, und tatsächlich zeigte Albin Michel Interesse für sein Magazin L’Echo des savanes, in dem nach einigen Kurzgeschichten 1985 auch Die Wahrheit über Shelby begann: die Geburtsstunde der Zeichneragentur Becker-Derouet. Allerdings hatte der Verlag den Erwerb der Weltrechte zur Bedingung gemacht, so daß wir die Trilogie, als es bei Carlsen mit deutschen Zeichnern losging, aus Frankreich reimportieren mußten. (Böse Zungen pflanzten daraufhin den gerne kolportierten Mythos in die Welt, die deutschen Verlage seien noch immer zu dumm, die Talente in ihrem eigenen Vorgarten zu erkennen.) In Frankreich fand Schultheiss schnell Anerkennung, in Deutschland hingegen blieb die Situation schwierig: Das bei Melzer erschienene Kurzgeschichten-Album Kalter Krieg wurde indiziert und verschwand. Auch gegen Die Wahrheit über Shelby und seine zweite Serie, Die Haie von Lagos (1986), wurden Indizierungsanträge gestellt, die wir allerdings abwenden konnten. Von den deutschen Verhältnissen frustriert, zeichnete Schultheiss 1993 die achtteilige Miniserie Propellerman für Dark Horse Comics in den USA, doch die Story war den Amerikanern zu europäisch, die Verkäufe blieben hinter den Erwartungen zurück. Als wenig später auch ein Projekt für das japanische Magazin Morning auf halber Strecke scheiterte, wandte sich Schultheiss, der sich selbst in erster Linie als Erzähler sieht, vom Comic ab und schreibt seitdem vor allem Drehbücher für das Fernsehen. Die deutsche Comic-Szene hatte ihren Pionier und souveränsten Vertreter verloren.

[3] 1990 luden wir alle in Hamburg lebenden und arbeitenden Zeichner und Autoren zu einer jeweils zweiseitigen Hommage an die Hansestadt ein. Die Beiträge, 38 an der Zahl, erschienen über einen Zeitraum von drei Jahren in den Stadtmagazin Szene Hamburg und anschließend gesammelt in dem Album Seemannsgarn. Mit dabei Veteranen wie Heiner Bade (der seit 1971 für den schwedischen Semic Verlag die Serie Phantom zeichnet) oder Jan P. Schniebel (Rotfuchs-Comics), die Stars der Comic-Szene wie Matthias Schultheiss oder Chris Scheuer bis hin zu Newcomern wie Martin tom Dieck oder Eckart Breitschuh, die hier mit ihren ersten Arbeiten debütierten. „Die Stadt an der Elbe darf stolz auf sich sein“, schrieb Ronald Gutberlet im Nachwort. „Keine Metropole der Welt ist bisher in den Genuß einer solchen Hommage gekommen. Das Projekt Seemannsgarn ist in der internationalen Comic-Szene bislang absolut einmalig.“

[4] Durch sein Programm hatte sich Carlsen im Buchhandel zwar gut profiliert, allerdings verfügten wir weder über Onkel Dagoberts Geldspeicher noch über gallischen Zaubertrank. Zudem wurden wir ziemlich unverfroren kopiert: Mit dem „Kundenmagazin“ Tock Tock machte Ehapa unser Carlsen Comics nach, auf unseren „deutschen Monat“ folgte ein Jahr später der „German Comic Open“ (dem Sieger unter den Einsendern, winkten 10.000 Mark und ein Publikationsvertrag), machten wir Comic-Taschenbücher, machte ein halbes Jahr später auch Ehapa Taschenbücher und so ging es über die Jahre weiter: Kaum versuchte sich Carlsen noch im April 2001 mit der fumetti-Serie Dylan Dog, legte Ehapa im Oktober Diabolik nach. Im gleichen Jahr warb man auch das Marsupilami ab, seit 20 Jahren das Maskottchen der Carlsen Comics, das ich immer besonders gut beschützt hatte. „Eigentlich müßte Ehapa die Hälfte unserer Gehälter zahlen, weil wir ihnen die Ideen liefern“, zitierte die Woche im September 1993 einen schäumenden Carlsen-Cheflektor Knigge. Einmal platzte mir wirklich der Kragen, als Ehapa die langwierig entwickelte Gestaltung einer Edition zum Jubiläum „25 Jahre Carlsen Comics“ bis ins kleinste Detail imitierte, und wir erwirkten eine einstweilige Verfügung gegen die Gesamtausgabe von Bilals Alexander Nikopol, die Ehapa wegen „Wettbewerbsverzerrung“ nun erst ein Jahr später ausliefern durfte. Es war wirklich ausgesprochen lästig – und vor allem gab es nichts, was wir unsererseits hätten klauen können. Die Ehapa Comic Collection profilierte sich schließlich vor allem mit der 1992 aus den USA übernommenen Barks Library sowie Asterix in Mundart-Ausgaben.

Teil 3: Cyborgs und Mutanten

Auf Katsuhiro Ōtomos Cyberpunk-Trip geriet ich an einem lauen Sommerabend 1987 im Hamburger Hafen. Ich lungerte mit Matthias Schultheiss auf einem Ponton herum, und als er das nächste Sixpack aus seinem quietschgelben Jeep holte, brachte er etwas mit, das wie ein Telefonbuch aussah. „Hast du eigentlich Akira schon gesehen?“ Japanische Comics, die damals, von koreanischen Raubdrucken einmal abgesehen, noch nirgendwo sonst erschienen als in Japan, hatte ich gar nicht auf dem Zettel, doch es dauerte nicht lange, bis Matthias mich mit seiner Begeisterung für den rasanten Storyfluß angesteckt hatte. Das mußte man machen, und zwar möglichst so wie das Original, fette 360 Seiten. Am nächsten Tag ließ ich das rechnen, prohibitiv. Schmalere Bände? Ende der Achtziger bestanden die Leser auf Farbe, durch die Bank weg alles, was wir in den klassischen Formaten schwarzweiß probiert hatten, verkaufte automatisch nur die Hälfte. Schade. Doch dann fing Marvel mit der amerikanischen Ausgabe an, 64 Seiten pro Band, atemberaubend koloriert von Steve Oliff. Ich sah eine Chance, die Verhandlungen waren, da die Japaner bislang in der Zusammenarbeit mit europäischen Verlagen fast ebenso ungeübt waren wie ich umgekehrt, langwierig, doch schließlich wurde der Vertrag unterschrieben.

Das Timing stimmte, Ōtomo hatte den Zeichentrickfilm fertig, zu dessen Kinostart sollten die ersten Bände (mit je zwei Marvel-Ausgaben) vorliegen. Doch als ich Akira auf der Vertreterkonferenz vorstellte, herrschte irritiertes Schweigen. In der Pause nahmen mich Viktor Niemann und Vertriebsleiter Jürgen Hübner zur Seite: „Vielleicht sollten wir besser die Finger davon lassen. Die Vertreter können nichts damit anfangen, also werden sie es auch nicht verkaufen.“ Aber nach kurzer Diskussion waren wir einig, es zu probieren, im April 1991 erschienen die beiden ersten Bände. Das Magazin Rraah witterte zwar umgehend „den Vorreiter für die einflußreichen Gewalttendenzen der modernen japanischen Comics“, andere rechneten vor, die Leser müßten fast 600 Mark für die jetzt auf 19 Bände angelegte 2.000-Seiten-Story berappen, doch Akira wurde ein durchschlagender Erfolg und zur Kultserie der neunziger Jahre.[1] 1993 wagte sich Schreiber & Leser an Crying Freeman, kurz darauf legte auch Ehapa mit Appleseed den ersten Manga vor.

Niemand von uns wußte wirklich, was wir da eigentlich trieben, keiner konnte Japanisch oder durchblickte den japanischen Comic-Markt. Aber wir beobachteten, daß es bei den Amerikanern und Franzosen, die uns schon ein Stück voraus waren, offenbar ganz gut anlief. Dann lud mich der Verlag Kōdansha im Sommer 1995 einen Monat nach Tokio ein, und in der Redaktion des Magazins Morning lernte ich das kleine Manga-Einmaleins. Am liebsten trieb ich mich in Chiyoda-ku herum, dem Viertel der Verlage, Agenturen und Buchhandlungen: Zuhause trudelten die Auflagen der Alben langsam auf Größen zu, für die einmal der Fotokopierer erfunden worden war, hier wartete morgens bereits eine Schlange ungeduldiger otakus vor den Comic-Läden. In deren Regalen Tausende von schwarzweißen Manga-Taschenbüchern zum Preis von umgerechnet rund fünf und für größere Ausgaben acht Mark, wegen der Enge der Läden stets nur einmal. Angestellte in blauen Kitteln flitzten ständig zwischen Lager und Verkaufsraum hin und her, um die entstehenden Lücken in Windeseile immer wieder aufzufüllen. In Shōnen Jump mit einer wöchentlichen Auflage von über sechs Millionen Heften erschien soeben die letzte Folge von Dragon Ball. Kōdansha verkaufte von einem Akira-Luxusband innerhalb von zwei Wochen eine halbe Million Exemplare. Der Manga war auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, was ließ sich hier lernen? Taschenbücher für einen Preis von unter zehn Mark?

Am Abend des Tages, an dem dieser Gedanke zu arbeiten anfing, hatten mich Takashi Kasahara, Chef der International Division von Kōdansha, und Yuka Ando, mit der ich den Akira-Vertrag ausgehandelt hatte, eingeladen. Das Restaurant, eine in einem verträumten Zen-Garten gelegene Edo-Villa, war nur für uns drei reserviert, wie man es in Japan tut, um dem Gast die Bedeutung zu zeigen, die man der Begegnung beimißt. Als wir nach dem Essen ins Freie traten, wurden plötzlich wie von Zauberhand Abertausende von Glühwürmchen in die Freiheit entlassen und umschwirrten uns nun in der Nacht – ein absolut magischer Augenblick. Einer Idee, die an einem solchen Tag vom Himmel gefallen war, mußte einfach Glück beschieden sein. Zurück in Hamburg folgte allerdings rasche Ernüchterung: Der Vertrieb traute sich 7.000 Exemplare zu, vielleicht acht, die Herstellung errechnete astronomische Ladenpreise, also versuchten wir es weiter im Akira-Format mit viel zu hohen Preisen und produzierten eine Reihe von Flops. Die Kids hatten derweil etwas anderes entdeckt: Batman und die Simpsons.

Als Mitte der achtziger Jahre der Albenboom eingesetzt hatte, war gleichzeitig das Angebot der Hefte verdorrt. 1985 gab Ehapa nach beinahe 20 Jahren selbst Superman den Gnadenstoß, der Stählerne und sein Kumpel Batman vagabundierten durch verschiedene Reihen kleinerer Verlage. Mit sterilen Heftreihen setzten Ehapa, Bastei und Condor Anfang der Neunziger rund 300 Millionen Mark am Kiosk um, knapp 80 Prozent davon fuhren allein Ehapas Disney-Titel ein. Dann spürte der Dino Verlag, bisher vor allem aktiv mit TV-Begleitmagazinen wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, das Vakuum an den Kiosken und startete 1995 parallel zur Fernsehserie Batman Adventures. Im Jahr darauf folgten Simpsons und Superman. Konzipiert und betreut wurde das Programm von dem Fanboy Max Müller, der schon mit der Übernahme der Miniserie DC gegen Marvel unmißverständlich signalisierte, daß bei Dino ein Insider die Hefte machte, der Superhelden ebenso ernst nahm wie seine Leser. Müller blieb dicht an den Originalheften und setzte mit Trading-Cards, limitierten Sonderausgaben und Variant-Covers auch auf das amerikanische Marketingrepertoire.

Das war neu, und die Fans waren begeistert. Dino löste einen neuen Heftboom aus, endlich gab es wieder spannendes Lesefutter zum Taschengeldpreis. Allerdings schon bald nicht mehr nur bei Dino. Während dort das Programm mit DC-Serien expandierte, rückte Panini mit Marvel-Mutanten nach, Splitter, bisher nur auf dem Albummarkt präsent, und der neu gegründete Verlag Infinity setzten auf die aggressiveren Superhelden des amerikanischen Trendverlags Image. Anfang 1997 konkurrierten monatlich schon ein Dutzend Hefte, wo noch vor kurzem keines gewesen war, ein Jahr später waren es doppelt so viele, und es bedurfte bereits des Fachmagazins Hit Comics, um nicht den Überblick zu verlieren. Wie zehn Jahre zuvor im Buchhandel, begann nun auch am Kiosk der Verdrängungskampf, zuerst knickte Splitter ein, 2000 dann mußte Dino, inzwischen an der Börse und durch den Crash gebeutelt, bis auf das Flaggschiff Simpsons das gesamte Comic-Programm ausknipsen.[2]

Im Buchhandel war die Produktion Anfang der Neunziger bei über 700 Titeln im Jahr angelangt, Gesamtumsatz knapp 30 Millionen Mark, eine Größe, für die „ein Markenunternehmen nicht einmal einen Product Manager einstellen würde“, wie das Branchenblatt Buchmarkt unkte. Durch den explosionsartigen Anstieg waren die Grenzen des Wachstums nicht nur erreicht, sondern über Nacht weit überschritten worden, viel zu weit, der Boden, auf dem wir uns bewegten, trug nicht mehr, von nun an ging’s bergab. Engagierte Comic-Literatur und experimentelle Comic-Kunst traf es zuerst, Programmsegmente, die mir ganz besonders am Herzen lagen. Doch der Schwund machte selbst vor Tim und Struppi nicht halt und betraf alle Verlage gleichermaßen, die Ladenpreise für Alben erreichten aufgrund der immer kleineren Auflagen Kunstbuch-Niveau.[3] Auch in Schweden knickten die Carlsen Comics weg, dann brach Dänemark ein, und daß zudem die Comic-Krise in Frankreich zum Dauerzustand geworden war, in den USA sogar Marvel in die Insolvenz trudelte, war insgesamt wenig ermutigend. Bombte jetzt etwa Lara Croft Spirou und Fantasio mitsamt dem Marsupilami aus dem Weg, waren Comics passé? Überall wurde an neuen Strategien gestrickt. Comicplus legte sich das Nackedei-Label „Luxor“ zu, Splitter suchte sein Heil in den Superhelden-Heften, Ehapa konzentrierte sich weitgehend auf seine Zugpferde Disney und Asterix, und wir arbeiteten an einem Manga-Programm, mit dem sich zwar Hoffnungen, unter dem Strich aber keine schwarzen Zahlen verbanden.[4]

Japanische Comics trafen mit Ausnahme des farbigen Akira auf wenig Gegenliebe. Der Sortimentsbuchhandel war irritiert, der Comic-Handel, an frankobelgische Zeichenkunst gewöhnt, lehnte das Thema teilweise sogar offensiv ab. Ein Dutzend Fachhändler, die wir 1996 zu einer Manga-Diskussion nach Hamburg einluden, rieten uns mit einer einzigen Ausnahme davon ab, weiterzumachen. Auch das Fachmagazin Rraah argwöhnte, daß sich „die neue Mode bereits totgelaufen“ habe: „Daß die Mangas den deutschen Markt dominieren, ist derzeit kaum zu erwarten.“ Im Jahr darauf tauchte dann ein kleiner Kauz namens Son Goku auf und sollte den größten Umbruch der deutschen Comic-Landschaft auslösen, seit sich mit der Micky Maus das Comic-Heft durchgesetzt hatte. Zunächst jedoch riefen wir zwar weiterhin lauthals „Mangamania“, aber es kam keinerlei Echo.

Ein Manga-Versuch sollte noch sein. Ich hatte Dragon Ball an der Hand, und obwohl im Verlag allerorten große Skepsis herrschte, ließen die astronomischen Verkaufszahlen in Japan doch niemanden unbeeindruckt. Dann kam mir Hiroshi Makino vom japanischen Lizenzgeber Shūeisha zur Hilfe und sorgte dafür, daß wir es richtig machten. Er bestand nicht nur darauf, das Taschenbuchformat und den Umfang originalgetreu zu übernehmen, sondern gegen alle Argumentation unsererseits auch auf die japanische Leserichtung von „hinten“ nach „vorne“ und von rechts nach links. Bezüglich der Leserichtung war auch mir mulmig, aber eine Überlegung linderte das große Flattern: Ich wußte, daß die deutsche Dragon Ball-Ausgabe Makinos letzter großer Deal war, bevor er bei Shūeisha seine Position wechseln würde. Würde er den Bestseller seines Verlages durch einen Flop in Deutschland beschädigen, verlöre er das Gesicht – aber der Mann blieb die Ruhe in Person. Bislang hatten wir die Manga-Seiten gespiegelt, damit die Handlung von links nach rechts lief, daß sich tradierte Lesegewohnheiten einfach auf den Kopf stellen ließen, glaubte niemand. Nicht wenige hielten mich, als ich schließlich dafür warb, für völlig irre, und Luft für einen Flop hatten wir keine mehr. Doch es gab gar keine Alternative, wagen oder lassen. Also wagen.

Der Vertrieb hatte derartig kalte Füße, daß er mit zwei parallelen Ausgaben, einer für den Buchhandel, die andere am Kiosk, versuchen wollte, die vertragliche Garantieauflage zu erreichen. Ich hatte gerade Joachim Kaps, dessen Edition B & K die Comic-Krise ebenfalls hinwegfegte, an Bord geholt und betraute ihn mit der Redaktion der Reihe. Zur Frankfurter Buchmesse 1997 lagen die ersten vier Titel vor, sahen klasse aus, und um im Verlag bei einer internen Präsentation Stimmung zu machen, wettete ich: Bis zur Jahrhundertwendewürde sich Dragon Ball für Carlsen zu einem der wichtigsten Umsatzbringer entwickelt haben. Klaus Humann, eben als neuer Verleger dazu gestoßen, hielt dagegen, und eine Weile sah es ganz so aus, als würde ich den Karton Schampus an ihn verlieren. Dragon Ball lief unspektakulär an, nur die Berge von Freiexemplaren, die wir auf der Buchmesse aufgestapelt hatten, waren im Nu weg.

Humann hatte angesichts der bedrohlichen Verluste, die der Comic schrieb, andere Pläne: Mit einem „Top Ten“-Marketingkonzept sollten Carlsen-Klassiker wie Tim und Struppi oder Marsupilami großflächig wieder ins Rampenlicht gerückt werden. Für anspruchsvollere Alben, inzwischen nur noch ein Rumpfprogramm, war ein Comic-Club geplant. Dann natürlich die Hefte, mit denen Dino gerade Furore machte, und unter dem Label „Comics für Kids“ Yakari und die Schlümpfe, ebenfalls im Heftformat. Ich sah keinen Weg, den enormen Aufwand für das „Vier-Säulen-Projekt“ zu rechnen. In Sachen Hefte schwante mir zudem, was vor der Tür stand, und ich verspürte wenig Lust, noch einmal in eine Situation zu geraten, die wir schon vom Album kannten.[5] Humann zeigte mir, wo‘s rausging, und gab dem Comic-Programm noch ein Jahr Galgenfrist. Zum Comic-Salon 1998 sagte er dem Spiegel: „Wenn dann keine positive Wirkung erkennbar ist, müssen wir zugeben, daß wir gescheitert sind.“ Mit Projekten wie Unser Schumi und Akte X-Heften wurde der Befreiungsschlag probiert.

Doch dann kam Son Goku in Fahrt, rettete die Carlsen Comics im Handstreich und sollte mit über sechs Millionen verkauften Exemplaren (Sommer 2003) einer der aktuell größten Buchhandelserfolge werden.[6] Makino-san hatte recht behalten, die japanische Leserichtung stellte tatsächlich nicht das geringste Problem dar, in gewisser Weise war sie sogar der Schlüssel zum Erfolg: Da Erwachsene darüber nur den Kopf schütteln und die Finger davon lassen, konnte der Comic, der schon zu vergreisen drohte, wieder zur hippen Jugendkultur werden. Und mit einem Ladenpreis von 9,95 Mark für Kids auch wieder erschwinglich.


[1] Zum zehnjährigen Jubiläum legte Carlsen Akira neu in einer der japanischen Ausgabe entsprechenden „Original Edition“ schwarzweiß in sechs telefonbuchstarken Bänden vor.

[2] Ende 2002 wurde Dino von der italienischen Panini-Gruppe übernommen, die mit Tochterfirmen in Deutschland, England, Frankreich, Spanien, Holland, Brasilien und Chile 2002 einen Gesamtumsatz von 230 Millionen Euro erwirtschaftete. Die Gebrüder Panini hatten 1945 mit einem Zeitungsstand in Modena begonnen, gründeten 1954 in Italien einen Pressevertrieb und begannen 1961 mit der Herausgabe von Fußball-Sammelbildern. 1988 wurde der Verlag von der Maxwell-Gruppe übernommen, anschließend von De Agostini und schließlich von Marvel. Seit Ende 1999 gehört Panini zur italienischen Vittorio Merloni Fineldo SpA und ist heute weltweiter Marktführer vor allem im Bereich Stickeralben und Trading Cards. In Deutschland erschienen die ersten Sammelbilder 1974, die ersten Marvel-Comic-Hefte 1996.

[3] Da die Comic-Welt auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten ist, mangelte es nicht an öffentlichen Schuldzuweisungen, und die Protagonisten der Szene nagelten sich leidenschaftlich gegenseitig an den Pranger: War Carlsen mit seinem Riesenprogramm von auf dem Höhepunkt fast 200 Titeln im Jahr schuld an der Krise? Oder der Neueinsteiger Ehapa? Verlage wie Comicplus, Feest oder Splitter, die nach den ersten Erfolgsrufen aus dem Buchhandel auf den Zug aufgesprungen waren, um sich ein Stück des Kuchens zu sichern? Das war zwar von gewissem Unterhaltungswert und half auch, von der eigenen Ratlosigkeit abzulenken, die Realität hingegen war ganz profan: Der erste Erlanger Comic-Salon hatte einen Enthusiasmus entfacht, der sich wie ein Flächenbrand über die gesamte Republik ausbreitete, und die Zahl der überall aufflammenden (und natürlich unkoordinierten) Aktivitäten wuchs einfach schneller als das Publikum. Die gegenseitigen Anfeindungen zeigten vor allem eins: Die Nerven lagen jetzt überall blank.

[4] Tragisch sollte es in dieser schwierigen Situation vor allem den Alpha-Comic Verlag treffen, der sich, so Achim Schnurrer, „einer beispiellosen Zensurkampagne ausgesetzt“ sah: „Ende Juli 1995 stürmten auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Meiningen 40 bewaffnete Polizisten das Verlagshaus in Sonneberg auf der Suche nach Pornographie und gewaltverherrlichenden Schriften. Einkassiert wurden nach stundenlanger Durchsuchung mehr als hundert verschiedene Comic-Titel, darunter auch ausländisches Archivmaterial. Ausgelöst wurde diese Aktion durch eine Anzeige eines gewissen Michael Brenner aus Neckargmünd, der in der Begründung seiner Anzeige u. a. ausführt, daß Ralf Königs Buch Kondom des Grauens pornographisch wegen seines homosexuellen Inhalts sei. Die Staatsanwaltschaft Meiningen und das Amtsgericht Sonneberg erweiterten die Vorwürfe um den der Nazi-Propaganda. Sie begründeten diesen Vorwurf u. a mit einem ebenfalls beschlagnahmten Plakat von Art Spiegelman, das anläßlich seiner Maus-Ausstellung während des Comic-Salons 1990 vom Kulturamt der Stadt Erlangen herausgegeben und seitdem über die Edition Kunst der Comics vertrieben wird.“ Mit der ausdrücklichen Aufforderung, „sich nicht als Polizei zu erkennen zu geben“, wies die Meininger Staatsanwaltschaft 480 Polizeidienststellen an, „Feststellungen über die Verhältnisse in den anliegend aufgeführten Buch- und Zeitschriftenhandlungen zu treffen“. Im ganzen Bundesgebiet kam es zu einer Welle von Beschlagnahmungen, Tausende von Alben wurden konfisziert. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels konstatierte entsetzt einen „in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaligen Vorgang“ der „Zensur und Willkür“.

Michael Brenner, Gründer des Vereins MUT (Menschen, Umwelt, Tiere) und Auslöser der Aktion, hatte sich Alpha nach eigenem Bekunden gezielt ausgesucht und brachte ein gewaltiges Medienspektakel in Gang. In einer „Schreinemakers“-Sendung zum Thema, in der ich mit dem ebenfalls hart attackierten Ralf König saß, kam er mir vor wie ein durchgeknallter Fanatiker, auch die ebenfalls anwesende Andrea Buskotte von der Landesstelle Jugendschutz in Hannover vermochte seinen wirren Statements nicht zu folgen. Doch das absurde Schauspiel nahm seinen Lauf. Anfang 1999 wurde der Prozeß gegen Alpha, die Edition Kunst der Comics und die Verlagsauslieferung Packwahn in Sonneberg eröffnet, deren Inhaber schließlich wegen eines einzigen Bildes in dem Album Alkovengeheimnisse, auf das die Anklage bald zusammenschrumpfte, zu je 2.500 Mark Geldstrafe verurteilt wurden. Doch die Staatsanwaltschaft, die Freiheitsstrafen von bis zu 18 Monaten gefordert hatte, ging vor dem Bundesgerichtshof in die Revision, 2000 endlich wurde das Verfahren nach neun Verhandlungstagen mit einer Geldstrafe von insgesamt 15.000 Mark eingestellt. Fast sechs Jahre lang hatte die Justizgroteske die Sonneberger Verleger gelähmt, allein die Anwaltskosten beliefen sich auf 100.000 Mark. Im Sommer 2001 mußten sie für ihre Unternehmen Insolvenz anmelden.

[5] Weitere Manga-Stoffe durfte ich hingegen nicht mehr einkaufen. Von der Buchmesse hatte ich Sailor Moon mitgebracht. Ehapa hatte sich an der Serie im Jahr zuvor versucht, war mit seinem Heftformat aber nach vier Ausgaben gescheitert. Die Rechte waren frei, aber ich mußte absagen. Ehapa probierte es daraufhin erneut im Taschenbuch, und Anfang 1999 meldete Rraah: Die „Japan-Serie, in animierter Form täglich auf RTL 2 unters Jungvolk gebracht, schlägt alle Verkaufsrekorde“.

[6] In einer Comic-Chronik, die Carlsen 2003 zum 50. Verlagsjubiläum herausgab, wird eine etwas andere Version der Dragon Ball-Story erzählt. Auch in Tokio war man erstaunt, als im Oktober 2002 in einem Asahi-Interview zu lesen war, wie Joachim Kaps den Entschluß gefaßt hatte, in Deutschland die japanische Leserichtung einzuführen; man hatte den anfänglich hartnäckigen Widerstand aus Hamburg in dieser Frage noch gut in Erinnerung.

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