GESETZ DER BEGIERDE

Zuletzt eine kaum noch spürbare Randerscheinung, erlebt das Erotik-Genre derzeit bei mehreren Verlagen ein Comeback. Das Angebot reicht von der Wiederentdeckung der Klassiker über erquickende Zeichenartistik bis zu … nun ja. Andreas C. Knigge hat sich umgesehen.

Zurück in die Zukunft, denn der Knall hallt noch immer nach; fast ist man verdutzt, dass das alles 60 Jahre zurückliegt: Im April 1962 beginnt in Paris Jean-Claude Forest in der vierteljährlichen Erotikrevue V-Magazine eine SF-Serie, Barbarella. Nicht von ungefähr ähnelt seine Heldin dem Sexsymbol Brigitte Bardot, ihre Hüllen dienen bevorzugt dem Zweck, fallengelassen zu werden. Gut zwei Jahre darauf erscheinen die bis dahin acht Episoden als Album, der Band wird zum succès de scandale, die Gattung ist fortan nicht mehr dieselbe. Bislang sind Comics strikt »pour la jeunesse« und moralisch einwandfrei, darüber wachen Jugendschutz und die katholische Kirche. Barbarella ist ein Dammbruch, ein Signal, im Nu folgen weitere nicht minder freigeistige wie freizügige Busenwunder, zu Papier gebracht von Männern für ihresgleichen.

Die Libertinage bleibt auf Frankreich nicht beschränkt. Im US-amerikanischen Playboy debütiert im Oktober 1962, bekleidet nur mit dem Allernötigsten und manchmal nicht mal das, Little Annie Fanny, Evergreen setzt mit Phoebe Zeit-Geist nach. In Italien führt Guido Crepax in seiner Serie Neutron 1965 die emanzipierte Fotojournalistin Valentina ein, die schnell ihr subtiles Eigenleben entfaltet. Und in San Francisco lässt Robert Crumb in der zweiten Ausgabe von Zap Comix (»adults only!!«) sein Alter Ego Mr. Natural ein drall robustes Teenagerweibchen besteigen, wie sie fortan häufiger auf dem Rücken liegen – krachender Tabubruch im Sommer 1968, später gepriesen als authentisch entfesselte Offenbarung tief im Innern des Künstlers lauernder Gelüste, mehren sich heute die Stimmen derer, die Crumb als Sexist abkanzeln. Jede Generation hat ihren Blickwinkel.

Ab 1966 erscheinen Barbarella, Jodelle, Pravda und Epoxy, Valentina und natürlich Fritz the Cat in deutscher Übersetzung, mit Alfred von Meysenbug und seinen »Streit-Zeit-Büchern« Super-Mädchen und Glamour-Girl mischt sogar ein Hamburger Zeichner mit. Mittlerweile ist die Pille zugelassen, Beate Uhse hat 1962 den ersten Sexshop (weltweit) eröffnet, zum Ende der Sechziger lockt Oswalt Kolle Millionen in die Kinos. Was in den Medien losbricht, flankiert von Pop und APO, heißt bald »Sexwelle«, mancherorts sogar »sexuelle Revolution«. Auch in Deutschland sind die ungenierten Alben hip. Comics jedoch gelten als Lesestoff für Kids, in toto, erste Indizierungen lassen nicht lange auf sich warten. Den Anfang macht1971 das undergroundige Hammer Komiks, dann Crumbs Head Comix, Crepax, Richard Corben, es geht Schlag auf Schlag.

Anders als in Frankreich bleibt das Verlegen erotischer Alben hier ein Risiko, bis heute, zuletzt schien das Genre fast verschwunden aus dem Comicsortiment. Nahezu einzig Druuna, von dem italienischen Bildvirtuosen Eleuteri Serpieri 1985 kreiert und schon in Schwermetall ein Hit, delektierte weiter ungebrochen vor allem die Liebhaber üppiger (so gut wie) nackter Hintern. Ein abschließender zehnter Band des inzwischen 79-Jährigen steht nach wie vor aus, Schreiber & Leser vertröstet aktuell mit einem bisher zweibändigen Prequel aus anderer Hand, Druuna Eterna, bei dem Serpieri-Fans durchaus auf ihre Kosten kommen. »Druuna ist ein Dauerbrenner«, so Philipp Schreiber, »ein zeitloser Klassiker des Genres.«

Doch nun ist es mit der Kontinenz vorbei. Waren explizit erotische Comics in der Vergangenheit zumeist das Metier von Branchenaußenseitern wie dem Münchener Bahia Verlag oder der Edition Belrose in den Niederlanden, halten sie jetzt Einzug in die Programme klassischer Albumverlage, bei Splitter sogar als eigenes Label. »Splitternackt« lag dabei unweigerlich auf der Hand, klingt indes wie weit nach Mitternacht am Biertresen besiegelt. Losgehen soll es ab November mit dann sieben Titeln. Ebenfalls bei All und vor allem Insektenhaus setzt entblößte Haut deutliche Akzente. Das wird zum Test, wie weit die Verhältnisse sich geändert haben. Fakt ist, dass Sex und Erotik heute in kaum mehr einer Sparte noch tabu sind, von der Graphic Novel bis zum Manga. Ist die nackte Lust als pures Genre in unseren Tagen noch ein Aufreger?

Splitter jedenfalls bescheren Neueditionen von Guido Crepax‘ Geschichte der O und Emmanuelle, 1975 und 1978 nach französischen Skandalromanen der Fünfziger in Italien erschienen, erste Probleme, die deutschen Erstausgaben (1977, 1980) sind indiziert. Derzeit bemüht sich der Verlag bei der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz um die Aufhebung der Beschlüsse, bei Redaktionsschluss war das Ergebnis noch offen. Aber dass die Titel, mit 45 und 60 Euro im deutlich höheren Preissegment, wie vorgesehen erscheinen, steht eigentlich außer Frage: Um sich wandelnden Moralvorstellungen Rechnung zu tragen ist es seit 2002 Praxis der BzKJ (früher die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften), über 25 Jahre zurückliegende Urteile als hinfällig zu erachten.

Crepax (1933-2003) gilt längst als unumstrittener Meister der Neunten Kunst, als Erfinder einer eigenen, multiperspektivischen Bildsprache, und es verblüfft geradezu, wie frisch und modern seine Ästhetik nach wie vor wirkt. Bestes Beispiel ist sein Hauptwerk Valentina, das chronologisch der Avant-Verlag in einer hervorragend edierten Ausgabe vorlegt. Drei Bände sind bereits erschienen wie gerade auch Bianca, ein weiteres Frühwerk aus den Jahren 1968-71. Kollidieren da die Interessen zwischen Splitter und Avant? Avant-Verleger Johann Ulrich schüttelt den Kopf: »Mich interessieren Crepax‘ Arbeiten nur bis 1974. Dann wird seine innovative Ästhetik stereotyp.« Somit dürfte mit weiteren Titeln auch künftig bei Splitter zu rechnen sein, lohnen täte etwa Lanterna Magica, 1979 einer der ersten Comicromane, die ohne ein Wort auskommen, das Geschehen formt sich allein im Kopf des Lesers.

Neben Crepax bei Splitter zudem zwei pikante Anlehnungen an Swift und Collodi: Milo Manaras Gullivera wie Pinocchia von Jean-Pierre Gibrat waren, zuvor bei Panini und Carlsen, lange vergriffen, und ihr Witz wie schmuckes Artwork zünden unverändert. Deutlich flacher wird es mit den Alben des Italieners Gabriele Di Caro. Hinter dem Paradies (Dezember) versammelt düster-krude Kurzgeschichten, die vorrangig dazu dienen, Nacktes zu bewegen, Die Geheimnisse der Maison Fleury (April 2024) ist der Einstieg in eine in Frankreich bisher dreibändige Serie (deren Titel korrekt »Die Geheimnisse des Hauses Fleury« lauten müsste): eine sexuell aufgeladene Kriminalgeschichte im Fahrwasser von Jack the Ripper, bei der Di Caro an splitternackten Opfern, durch die Bank jung und hübsch, und Bondage-Szenen nicht spart.

Beim letzten Titel im Debütprogramm lässt sich der Vorwurf männlichen Chauvinismus‘ kaum erheben. Die Göttin (November) stammt von zwei Frauen aus Paris, der Autorin Katia Even und der Zeichnerin Nephyla, bürgerlich Carole Carrion, und zielt mit süßlicher Optik und unbefangen süßen Mädchen vor allem auf Manga-Leserinnen. Es geht um eine keltische Liebesgöttin, den »Schlüssel zu ungeahnten Sinnesfreuden« und die damit verbundene Trubelei; der abschließende zweite Band ist noch nicht angekündigt. Ein gemischter Auftritt also ohne eignes Profil, der unentschlossen rudert zwischen grafischen Leckerbissen, Klassiker-Neuauflagen und plumpem Voyeurismus.

Nicht viel anders bei All. Mit gleich zwei Bänden findet sich unvermittelt zwischen Lederstrumpf und Wunderwaffen im aktuellen Programm Bang Bang von Carlos Trillo und Jordi Bernet. Die Reihe steht in einer Linie mit Bernets Torpedo, auch hier wird der Tabubruch zelebriert. Doch schon die Cover, allein die splitternackte Protagonistin, mal mit einem Revolver in der Hand, dann in Fesseln, signalisieren, dass die Autoren einen Gang höher schalten: Cicca, Geliebte Al Capones, wird vom Schicksal durchs wilde Mexiko getrieben und alsbald in die Arme eines Pygmäen-Stammes in der afrikanischen Savanne. Was das Zeug hält wird dabei geschossen und geleckt, getrunken und geblasen, doch die Vehemenz wird gebrochen von Bernets karikierend sprödem Strich wie dem ironischen Erzählton. Bang Bang ist lupenreiner Sexcomic und scharfe Noir-Parodie zugleich, aus vollem Herzen chauvinistisch.

Ironie und grafische Finesse gehen Jean-Yves Mittons sechsbändiger Bilderorgie Messalina dagegen ab. Als historisches Feigenblatt dient einmal mehr der Mythos der berüchtigten Nymphomanin im antiken Rom der verfallenden Sitten, allein im ersten Teil wird auf 46 Seiten auf mehr als 40 Panels fellationiert, bildfüllende Ergüsse inklusive. Und beim Oralen bleibt es nicht. Selbst umherstehende Statuen sind mit erigierten Wunderhörnern versehen, man fühlt sich erinnert an Tomba, Jolanda oder Lucifera, die feuchten fumetti neri der Siebziger aus dem Aachener Freibeuter Verlag. Der bot gleichfalls eine Messalina feil, zahm im Vergleich, am Ende dreimal indiziert.

Klassiker auch bei All. Paul Gillons Die Überlebende, Schwermetall-Lesern in guter Erinnerung, siedelt in der Zukunft wie einst Barbarella. Und wie dort kommt es zum Akt mit einem Androiden, diesmal über zwei Seiten en détail, dessen Gemächt eher einem Bohrer fürs Grobe gleicht. Doch nach der Apokalypse ist die hübsche Aude das letzte menschliche Wesen auf dem Planeten, da bleibt keine Wahl – wie in Manaras Außer Kontrolle das ekstatische Objekt der Begierde als Plot. Gillon (1926-2011) war einer der großen Könner der bande dessinée, und auch wenn Die Überlebende an seine mit Jean-Claude Forest geschaffene Serie Die Schiffbrüchigen der Zeit nicht heranreicht und sich die Pornografie-Frage durchaus diskutieren ließe, lohnt auch hier eine Wieder- oder Neuentdeckung in einer akribisch kommentierten Gesamtausgabe als Ausflug in die Achtziger.

Mit Frivole Augenblicke hat All zudem eine vergessene knackig-pralle Perle aus dem Jahr 1989 und der Feder von, nach einem Szenario seiner zweiten Frau, Régis Loisel gehoben, ein Schmankerl. Wohingegen Die erotische Kunst des Wally Wood wohl nur absolute Fans des legendären EC-Zeichners lockt. Wood (1927-1981) war einer der Allerersten, dessen Aktricen Möpse zeigten, das hier sorgsam Versammelte reicht von einst witzig gewagten aber längst erloschenen Kurzgeschichten aus den Sechzigern bis hin zu tragischen Arbeiten wie Sally Forth, als Alkohol und Depressionen Woods Genie bereits zerfressen hatten.

Zurück zum Jetzt, zum noch jungen Insektenhaus-Verlag, der seit 2020 auch Comics publiziert und mit seinem Imprint Edition Tannenberg mit Karacho auf Erotik setzt. »Leidenschaftlich und pervers, liebevoll und sadistisch, manchmal witzig, immer geschmackvoll, aber garantiert nie jugendfrei« lautet die Programmansage, und man muss schon staunen angesichts von über einem Dutzend Titeln, die binnen nur eines guten Jahres zusammengekommen und nicht teurer sind als sittsame Alben auch.

Fündig wurde der Verlag in Italien, und in Sex-Kommissar Schwarz, Djustine (Titel des ersten Bandes: Heiße Colts und dicke Titten), Die Witwe oder Monster geht es zum Pläsier bekennend gröber gestrickter Genießer kaum anders zu als bei Messalina, allein die Genrekulissen wechseln. Titel wie Anne – Die lustigen Abenteuer einer drallen Erstsemester-Schnitte oder Beba Bizarro – Die Schwanzlutscherin (Band 1: 110 Mal Blasen) machen daraus keinen Hehl, stolz preist der Verlag die (hochwertig produzierten) Alben auf seiner Homepage als »Trash« und »Schrott«: »Sind Sie ein alter, weißer Mann, der gerne mit den unbeschreiblich guten Erotikcomics aus dem Insektenhaus-Verlag wichst? Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen.«

Das Gesetz der Begierde, auch wenn das nicht politisch korrekt sein mag. Die Tannenberg-Titel reüssieren, weil Frauen hier Lustobjekte sind – augenscheinlich eine Marktlücke, Angebot und Nachfrage. Man kann das finster finden und nicht mögen, damit leben muss man allemal, auch das gehört zu einer freien Gesellschaft, alles andere liefe auf Zensur hinaus. Wo die eigene Gürtellinie hängt muss ein jeder selbst entscheiden. Und was den Jugendschutz betrifft, so hat sich wie bei anderen Medien auch die Kennzeichnungspflicht ab 18 Jahre als praktikabler Ausgleich der Interessen bewährt.

Immerhin, in künstlerischer Hinsicht ihren Reiz haben die Alben aus der elegant leichten Feder Roberto Baldazzinis, dessen jüngstem Titel Aura Waisenkind man sogar einen Schuss Sozialkritik unterstellen könnte, während Andrea Julas Suspiria Serpieri-Fans beglücken dürfte, zumindest optisch: »Ein kunstvoll gezeichnetes Feuerwerk«, so der Verlag, »dessen milchige Rauchschwaden nach Körpersäften, Kadavern und warmem Brot duften.« Mit bislang zwei Bänden bei Insektenhaus einzige Serie aus Frankreich ist Maharaja von Artoupan alias Benoît Girier, der einmal mehr eine erledigte Epoche zum Bühnenbild – hier feiner dosierter – exotischer Ausschweifungen werden lässt.

Von visuellen Sinnesräuschen bis zum unteren Bodensatz Frauen despektierender Obszönität, noch nie war in Deutschland die Palette größer und vielfältiger als zurzeit. Einstmals voluptuöse Rebellion, ist der erotische Comic im Mainstream angekommen – womit Whiteman, der Maniac aus Robert Crumbs Zap Comix, das letzte Wort haben mag: »SEX! SLURP DROOL … I’m a bad ass!«

(Alfonz 4/2023)

Zurück zum Archiv

Cookie Consent mit Real Cookie Banner