FRÜCHTE DES ZORNS

Joe Saccos Palästina wirkt heute wie der vor dreißig Jahren entstandene Prolog zum aktuellen Drama in Nahost

Von Andreas C. Knigge

Einmal mehr ließ sich in den letzten Wochen verfolgen, welche Rolle gerade in einer postfaktischen Zeit Bilder spielen. Zuerst die Bilder bestialischer Gewalt und brutaler Verschleppungen, die, von Hamas-Terroristen gefilmt, Verbreitung in den a*sozialen Netzwerken finden. Dann schwarz-weiße Fernsehbilder aus der Luft, die geradezu chirurgisch wirkende Pulverisierung ganzer Wohnblocks in Gaza. Zigtausende Tote, die meisten davon Zivilisten, Bilder von Zerstörung und Leid. Zu denen, als sei das alles nicht genug, Hamas-Fakes kommen, »Pallywood« die Wortschöpfung bereits, Palestine meets Hollywood. Die Macht der Bilder, die Hass schüren, aufwiegeln sollen gegen Israel. Das Land zwischen biblischer Geschichte und Moderne hat am 7. Oktober sein 9/11 erlitten und verwandelt im Gegenzug ein Freiluftgefängnis ohne jede Hoffnung und ohne Zukunft, kaum größer als Bremen, in eine Trümmerwüste.

Es gilt keine Rechtfertigung, das Massaker der Hamas war und ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Allerdings steht die jüngste Eskalation auch in einem Kontext, auf den Uno-Generalsekretär António Guterres verwies, als er vor dem Uno-Sicherheitsrat anmerkte, der Angriff mit mindestens 1.400 getöteten Israelis und über 240 Geiseln sei »nicht in einem Vakuum geschehen«. Will man die ganze Dynamik des Konflikts erfassen, gibt es kaum eine bessere Quelle als Palestine von Joe Sacco. Der 1960 auf Malta geborene US-Amerikaner greift zu ganz anderen Bildern als die Kriegspropaganda und hat in seiner zwischen 1993 und 1995 entstandenen Graphic Novel einen Moment konserviert, in dem der 7. Oktober längst keimt. Zu spüren in den Gesichtern der Menschen, ihren Reflexen, ihrer Verzweiflung, in der Perspektivlosigkeit ihres Daseins. Eine präzise Grafik, nervöse Seitenarchitektur und innovative Handhabung der Texte machen die Spannungen fühlbar.

Joe Sacco hat den Gazastreifen und das Westjordanland 1991/92 intensiv bereist und Interviews mit den unterschiedlichsten Bewohnern geführt. Sie erzählen ihm von Folter in israelischen Gefängnissen, von der Niederwalzung Hunderter palästinensischer Dörfer, dem systematischen Abholzen der Olivenbäume, ihrer Lebensgrundlage, von Vertreibungen durch israelische Siedler, brutaler Gewalt durch israelische Soldaten, von Toten, sehr vielen Toten. Und niemand, auch das zeigt Sacco auf, schaut hin, die Palästinenser haben keine Stimme.

Vom Tisch wischen wollte sie schon der Wiener Zionist Theodor Herzl, der 1896 in seinem Buch Der Judenstaat visionierte: »Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen.« Die Exilierung in den Sinai wird in israelischen Regierungskreisen bis heute unverhohlen postuliert. Saccos kaleidoskopische Comic-Reportage im Stil einer oral history gewinnt mit dem 7. Oktober eine so brandaktuelle Relevanz für den notwendigen Diskurs wie noch keine Graphic Novel zuvor. Tragisch deshalb, dass ausgerechnet jetzt die deutsche Übersetzung nicht lieferbar ist. Eine Neuauflage, teilt die Zürcher Edition Moderne auf Anfrage lapidar mit, sei »nicht in Planung«. Seufz!

Als Sacco Palästina gerade begonnen hatte, reichten der israelische Ministerpräsident Jizchaq Rabīn und PLO-Chef Arafat sich in Washington die Hand; gemeinsamer Friedensnobelpreis, eine Schlichtung ist in greifbare Nähe gerückt. Dementgegen mobilisieren fundamentalistische Hardliner (auf beiden Seiten: Rabīn wird von einem jüdischen Fanatiker ermordet), in Saccos Momentaufnahme dringen ihre Stimmen bereits durch. 1993 verübt die Hamas in Israel ihr erstes Selbstmordattentat, 2007 übernimmt sie nach den bisher letzten Wahlen in Gaza die Macht mit dem erklärten Ziel der Vernichtung Israels. Dessen Telos, die Terrororganisation dauerhaft auszuschalten, ist nur legitim. Doch lässt sich eine im Schicksal schon dreier Generationen manifestierte Ideologie nicht bekämpfen wie ein physischer Gegner. Niemand weiß, wie es weitergeht. Aber warum es zu allem gekommen ist, darüber hat uns Joe Sacco ins Bild gesetzt: Solange es für die Palästinenser keine Hoffnung gibt, wird es in Israel keinen Frieden geben.

(Alfonz 1/2024)

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