ACTIONS SPEAK

Zur Pantomime in der Neunten Kunst

Von Andreas C. Knigge

Das gängige Narrativ einer Entwicklungsgeschichte des Comics setzt ein mit dem 25. Oktober 1896, als im American Humorist, der farbigen Sonntagsbeilage des New York Journal, zwei Gags aus der Feder von Richard Felton Outcault erscheinen. Der auf der Titelseite besteht aus einer detaillierten großformatigen Zeichnung, wie Outcault sie schon länger gestaltet. Der im Innenteil dagegen, grafisch deutlich sparsamer inszeniert, entfaltet sich in fünf Einzelszenen, die kontinuierlich auf die Pointe zusteuern. Und erstmals werden hier Sprechblasen zum Motor des Geschehens, die Bilder allein gäben ihre Bedeutung nicht preis. Diese Innovation gilt gemeinhin als Urszene der Gattung.

Die Synechie von Bild und Schrift beschäftigt Outcault (wie zugleich einige seiner Kollegen) bereits seit geraumer Zeit. Gewöhnlich werden beide Zeichenformen getrennt voneinander behandelt, ein Relikt der Gutenberg-Ära vor Erfindung der Lithographie (1798). Auch Outcault hat bei früheren Arbeiten zugehörigen Text unter den Bildern platziert. 1895 jedoch beginnt er, in seinen wöchentlich erscheinenden Szenen um eine Reihe von Kids in den Straßen der New Yorker Slums beide Elemente zunehmend zu verflechten, zunächst indem er Schrift auf Plakaten und Anschlägen an den Häuserwänden oder in Form vermeintlicher Schmierereien auf Kisten und Verschlägen in die Zeichnung integriert. Outcaults Vorstoß reflektiert den Wandel seiner urbanen Umgebung, in der ein anschwellendes Gewirr aus Werbeschildern und öffentlichen Ankündigungen das Antlitz der Städte radikal verändert und damit die Wahrnehmung ihrer Bewohner: Die sichtbare Welt besteht nicht mehr allein aus realen Dingen, sondern zudem aus Botschaften und Verheißungen, „unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt“, wie später Walter Benjamin notiert, ein „dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern“.

Auch bei Outcault, auf dessen Zeichnungen sich ein Straßenjunge in einem grellgelben Kittel in den Vordergrund drängt und in New York als „yellow kid“ bald unerhörte Popularität erlangt, nehmen Schriften, die das Gezeigte kommentieren, rasant zu und besetzen bald jeden Winkel seiner Blätter, addieren sich gleichsam zum „Gestöber“. Doch Outcault sucht nach weiteren Möglichkeiten der Verdichtung und bedient sich Ende des Jahres zusätzlich der Sprechblase, ein Stilmittel, das bislang der Karikatur (vornehmlich in Großbritannien) vorbehalten war. Das Yellow Kid macht von deren Einführung vorerst keinen Gebrauch, hier verfällt Outcault auf einen anderen Kniff, um ihm eine Stimme zu verleihen: Im April 1896 heftet er ihm einen Zettel mit seiner Botschaft an den Kittel, einen Monat später beginnt er, diese direkt auf sein gelbes Gewand zu schreiben: „Aint I de Main Guy in dis parade?“ Dabei bleibt es erst einmal. Doch an jenem 25. Oktober dann, bei seiner Premiere zugleich in einer Abfolge von Bildern, artikuliert sich erstmals auch das Yellow Kid mittels einer Sprechblase. Nur zehn Monate, nachdem in Paris die Gebrüder Lumière die Bilder in Bewegung versetzt haben – der Beginn einer Revolution unserer globalen kollektiven Imagination –, bringt Outcault sie zum Sprechen.

Wenn jedoch die Inklusion gesprochener Sprache in die Panels einer Bildsequenz definierendes Kriterium ist, um den Comic als eigene Gattung von der Bildergeschichte zu scheiden, wie passt dann Vater und Sohn ins Bild? Zunächst einmal: Tatsächlich bleibt Outcaults Verfahren, seine Figuren ohne Umschweife miteinander ins Gespräch zu bringen, anfänglich nahezu unbeachtet. Der Erfolg von The Yellow Kid gründet vielmehr in seinem Protagonisten,[1] in dessen Wiedererkennbarkeit und medialen Verbreitung, denn eine „stehende Figur“, die am nächsten Sonntag wiederkehrt und mit der Zeit vertraut wird, ist zu dieser Zeit eine Novität. Dank seines „Maskottchens“ steigen die Verkäufe des New York Journal rasant, die Leser sind begeistert.

1897 gibt das Journal nach Outcaults Erfolgsrezept deshalb eine weitere Serie in Auftrag, „something like Max and Moritz“ soll es sein. The Katzenjammer Kids aus der Feder des deutschstämmigen Zeichners Rudolph Dirks debütiert am 12. Dezember des Jahres, doch Sprechblasen oder sonstige Schrift sind auf den sechs Panels der ersten Folge keine zu finden. Auch der Gag am nächsten Sonntag bleibt still wie ein Stummfilm, erst dann kommt Text hinzu – als wörtliche Rede unter den jeweiligen Szenen. Stumme und mit knappen Dialogen untertitelte Folgen wechseln fortan, erst nach zwei Jahren greift Dirks die Sprechblase auf und macht sie zum Prinzip seiner Bildnarration. Dabei bleibt es bis zum Schluss der Serie im Januar 2006, The Katzenjammer Kids wird der dauerhafteste aller Zeitungsstrips. Doch hat er damit über 108 Jahre hinweg Comic-Geschichte geschrieben – oder sollten es etwa aufgrund anfangs absenter Sprechblasen lediglich 106 sein?

Ab 1900 etabliert sich der Comic mit weiteren Serien und neuen Figuren als fester Bestandteil der Sonntagsbeilagen und verbreitet sich von New York aus in die Zeitungen im ganzen Land. Die Sprechblase allerdings scheint nicht jeder der frühen Zeichner zu schätzen, sie bleibt zunächst eine Spielart der neuen Gattung neben auf herkömmliche Art inszenierten Gags. Dann allerdings dauert es nicht lange, bis sich Outcaults Methode durchsetzt und schon bald geradezu obligatorisch ist für das Phänomen, das man unschlüssig noch „new humor“ nennt, bevor sich funnies und schließlich comics durchsetzen. Während untertitelte Serien von den sunday pages nahezu vollständig verschwinden, verwenden die Zeichner den Ausdruck der Pantomime auch künftig bei vereinzelten Folgen ihrer Serien, wenn daraus ein Witz entsteht. Eine wahre Meisterschaft diesbezüglich erlangt später Charles M. Schulz, dessen mit nur wenigen Strichen unmissverständlich auf den Punkt gebrachte Mimik seiner Peanuts-Charaktere buchstäblich mehr sagt „als tausend Worte“ und ebenso ohne die sonst üblichen Sprechblasen die Pointe zuverlässig zündet. Und dennoch sind auch diese Seiten oder Strips Comics.

Damit steht die Frage im Raum, inwieweit die Sprechblase tatsächlich imperativ ist, um den Comic als Gattung zu definieren. Vater und Sohn und Peanuts unterscheiden sich dadurch, dass Schulz textfreie Gags sporadisch einsetzt, als gezielten Effekt, während Ohser sich die Pantomime zur Bedingung macht und damit zu einer eigenen Bildnarration gelangt. Die Sprechblase ist 1934 in Deutschland noch kaum verbreitet, aber dass er auf Untertitelung verzichtet, wie es seine Kollegen praktizieren, belegt den Vorsatz, hier allein die Bilder sprechen zu lassen, seine Figuren rein durch ihren Auftritt und ihre Interaktion zu fixieren und daraus den Witz zu beziehen. Man mag das lesen als Kommentar zu seiner Zeit, die seinen Figuren förmlich die Sprache verschlägt und in der Worte gefährlich werden. In jedem Fall handelt es sich bei Ohsers Entscheidung für die Pantomime, nicht anders als beim Theater, um eine bewusst selbst auferlegte Einschränkung – im, wie man heute sagen könnte, „oulipotischen“ Sinne[2] – als künstlerisches Prinzip.

Spurensuche

Die Gemeinsamkeit hingegen zwischen Vater und Sohn und Strips wie Peanuts liegt in ihrer sequenziellen Erzählweise. Ein Ausweg aus dem Definitionsdilemma wäre somit, nicht Sprechblasen bzw. in das Bild integrierten Text als maßgeblich für den Comic zu erachten, sondern vielmehr die Emanzipation von supplementärem Text außerhalb der Bilder, getrennt von ihnen. Mit dieser Prämisse ist die Sprechblase als Markenzeichen vom Tisch, allerdings muss dann auch die Geburt des Comics neu verortet werden, denn stumme sequenzielle Bilderzählungen sind 1896 in den humoristischen Magazinen in ganz Europa wie den USA längst verbreitet. Erich Ohsers Vater und Sohn steht damit in einer deutlich verlängerten Tradition.

Die Erkundung der Vorgeschichte des Comics steht weitgehend noch am Anfang, verweist anerkanntermaßen jedoch auf Künstler wie etwa Caran d’Ache in Frankreich,[3] Lothar Meggendorfer in Deutschland oder in den USA A.B. Frost, denen Mitte der 1880er-Jahre die Pantomime ebenso vertraut ist wie die Untertitelung ihrer Bildergeschichten.[4] Die textlosen Arbeiten bestehen gewöhnlich aus einem Tableau mit mehreren Szenen, die eine Kontroverse schildern, einen Zwischenfall oder eine (vergebliche) amouröse Schwärmerei. Jede wartet auf mit neuem Personal, anonyme Figuren, wie sie gerade dienlich sind, und die danach vergessen sind. Was zählt, ist allein der Witz. So hält es bereits Wilhelm Busch, als er 1862 in Der Floh in 18 Szenen – erstmals ohne begleitende Verse – von einer gestörten Nachtruhe erzählt. Busch hat die Pein seines unbekannten Protagonisten geradezu „filmisch“ in Bewegung gesetzt, so dass dem Virtuosen der Bildergeschichte unumstritten gleichermaßen ein Platz in der Comic-Historie gebührt.[5]

Hinsichtlich eines klaren Bildflusses sticht auch Emil Reinicke heraus, der wie Busch in München für die Fliegenden Blätter arbeitet und dort Anfang 1889 Eine Hasenjagd, oder: Der geprellte Polizeidiener in acht Bildern publiziert, mit der er das Timing der späteren Strips bereits in erstaunlicher Weise vorexerziert. Die wortlosen Blätter von Albert Guillaume in Paris dagegen verbindet mit ihrem Sujet des object aimé ein Thema wie ein Serientitel – Des bonshommes (Typen, Kerle); 1893 erscheint ein Band mit 24 Episoden, im Jahr darauf ein zweiter („deuxième série“), in dem sogar schon ein dritter angekündigt (aber wohl nicht erschienen) ist – eine Blaupause für spätere Comic-Albumreihen. Guillaumes Serie ist so populär, dass er 1900 anlässlich der Weltausstellung in Paris mit seinem Bruder Henri das humoristisch-satirische Théâtre des Bonshommes Guillaume eröffnet, in dem „20.000 marionettes artistiques“, wie überall in der Stadt auf den Werbeplakaten zu lesen ist, vor unterschiedlichen Kulissen auftreten – hier dann akustisch begleitet von einem Phonographen.

Ebenso bei Outcault wird man in Sachen Pantomime fündig. Am 18. November 1894 erscheint in der New York World eine Bildfolge mit sechs Szenen, in der ein Clown und sein Hund im Wald ein Nickerchen machen. Unbemerkt nähert sich eine Python, verspeist den Hund, und als der Clown erwacht, liegt neben ihm die von ihrem Mahl ermattete Schlange. Kurzerhand schneidet er ihr vier Löcher in den Bauch, durch die der Hund seine Beine streckt, ergreift die ihr aus dem Maul hängende Hundeleine und zieht fröhlich mit dem Bastard von dannen. In Anspielung auf Darwins Hauptwerk (1859) hat Outcault seine Erzählung Origin of a New Species genannt – Entstehung einer neuen Art: Es sieht ganz danach aus, als müsse sich die Bilderzählung erst aus ihrer tradierten Liaison mit der Schrift lösen (oder: sie „verspeisen“), um Raum für eine neue Verbindung zu schaffen.

Die erweist sich in den USA, wo die funnies als schwarz-weiße Strips ab 1907 auch in die Werktagausgaben der Zeitungen einziehen und die Sprechblase zum omnipräsenten Phänomen wird, als so effizient und beliebt, dass die Pantomime nahezu verschwindet. Clifton Meek startet 1913 den „silent strip“ The Adventures of Johnny Mouse, dessen Akteure, erstmals Mäuse, im Gegensatz zu der Stadt- und der Landmaus in Äsops Fabel jedoch keine Worte finden. Meeks Serie läuft nur zwei Jahre, gefolgt von seinem ebenfalls kurzlebigen Grindstone George. Erfolgreicher ist Foxo Reardon ab 1925 mit Bozo um einen Lümmel mit Melone sowie einer ständigen Zigarre unter der Oberlippe. Der Strip erscheint bis zum Tod seines Schöpfers 1955, da ist „bozo“ als Bezeichnung für einen Rüpel bereits allgemeines Sprachgut geworden.

In Europa wird die klassische Bildergeschichte noch nicht herausgefordert von ihrem jungen Spross, Sprechblasen verwenden erst in den 1920er-Jahren vereinzelt nur wenige Zeichner. Zudem bestehen, anders als im „Schmelztiegel“ jenseits des Atlantiks, in den einzelnen Ländern disparate Verhaftungen und Traditionen, Beeinflussungen über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg sind die Ausnahme. So kommt es zu keiner kontinuierlichen Entwicklung, und hinsichtlich des Erzählens ohne Worte bleibt es bei Einzelphänomen wie schon 1898 in Schweden Broderne Napoleon ach Bartholomeus Lunds fran Gronkoping resa jorden runt (die Brüder Napoleon und Bartholomeus Lunds aus Gronkoping auf Weltreise): Den abenteuerlich-witzigen Trip der Lunds schildert der Karikaturist Oskar Andersson in Fortsetzung auf 117 Einzelbildern mit erstaunlicher Dynamik.

Dass die amerikanischen Zeitungs-Comics nicht gänzlich unbemerkt bleiben, belegt ebenso der ungarische Zeichner Nándor Honti, dessen von 1911 bis 1913 in der Humorzeitschrift Fidibusz publizierte Serie Séta Álomországban (Ausflug ins Traumland) stark beeinflusst ist von Winsor McCays Little Nemo (ab 1905). Honti schildert auf jeweils acht Panels die Träume eines Jungen, der wie Nemo am Ende erwacht. Auch grafisch scheint das Vorbild deutlich auf, allerdings bleibt Hontis Serie stumm. In Budapest fällt eine der ersten Episoden dem Psychoanalytiker und Freud-Schüler Sándor Ferenci in die Hände, der sie kommentiert und nach Wien an seinen Mentor schickt.[6] Freud ist so ergriffen, dass er die Seite 1914 in die vierte Auflage seiner Traumdeutung aufnimmt: „Der Kampf zwischen dem eigensinnigen Schlafbedürfnis und dem unermüdlichen Weckreiz ist hier in geistreichster Weise von einem mutwilligen Künstler verbildlicht.“[7]

Adamson und die Folgen

Am 17. Oktober 1920 debütiert im schwedischen Söndags-Nisse Adamson von Oskar Jacobsson, der sich schließlich zu einem der berühmtesten Pantomimenstrips mit weltweiter Verbreitung entwickelt. Held ist ein kurz geratener, meist missgelaunter Kleinbürger mit Zigarre und Hut (unter dem drei einsame Haare sprießen), der stets neue Niederlagen und Missgeschicke bewältigen muss. Anfangs verwendet Jacobsson hin und wieder Sprechblasen, verzichtet darauf aber bald, als die Serie auch außerhalb Schwedens veröffentlicht wird, das erspart die Übersetzung. Bereits ab 1921 erscheinen zusätzlich Sammelbände, im Jahr darauf startet Jacobssons Strip unter dem Titel Silent Sam auch in US-amerikanischen Zeitungen.[8] Er zeichnet die Abenteuer seines Miesepeters bis zu seinem Tod 1945, dann übernimmt für weitere fast zwanzig Jahre sein dänischer Kollege Viggo Ludvigsen.

Adamsons Erfolg bewirkt, dass die Pantomime in den 1930er-Jahren ihren Platz in der Welt der Comics als eigene Spielart zurückerobert, in ganz Europa Verbreitung findet und in den USA in Opposition tritt zu den immer wortmächtiger gewordenen Zeitungsstrips. Unter den Bedingungen globaler Vermarktung hat Jacobsson einen Standard definiert, den andere Zeichner gemäß der Daseinswelt ihrer Figuren adaptieren. Deren Umfeld sowie der jeweilige Schauplatz dienen dabei allerdings in erster Linie der Abgrenzung zu anderen Serien, ewiges Thema der meisten „silent strips“ ist der Kampf des Individuums gegen die Zumutungen des Lebens, gegen Pleiten, Pech und Pannen, die sich in täglicher Variation innerhalb weniger Bilder ereignen. Dass Regie allein der Zeichenstift führt, erfordert klare, selbsterklärende Bildkompositionen, hinsichtlich Gestik und Mimik einen pointierten Strich sowie exaktes Timing. Das wird zur Formel der Pantomimenstrips.

In den USA sticht hier Otto Soglow hervor, der 1930 in The New Yorker einen kleinen König mit ballonförmiger doch winziger Statur und fröhlich-kindlichem Gemüt auftreten lässt, der lieber seinem Vergnügen frönt, anstatt sich mit royalen Bürden zu belasten, was verlässlich komisch endet. Zu den Nebenfiguren zählen neben der resolut-korpulenten Königin, einem Magier sowie hauseigenen Geistern vor allem die Bediensteten des Palastes. Ab 1933 erscheint The Little King landesweit in den Sonntagsbeilagen der Tageszeitungen. Die Pointen bleiben eher still und gründen vielmehr in der bizarren Überzeichnung der Physiognomie der Charaktere und deren Ausdruck. Vereinzelt verwendet Soglow Sprechblasen; zumeist nur eine, allein zu dem Zweck, für einen Gag den Bezugsrahmen zu schaffen. Seinen runden König selbst lässt er niemals sprechen. Die Serie endet 1975 mit Soglows Tod, doch er hat einen eigenwilligen Klassiker hinterlassen, dessen markant schlichte und auf den Bildern wie eingefroren wirkende Figuren Klassiker geworden sind.[9] Ebenfalls, obwohl grafisch weit weniger ambitioniert, ein beachtlicher Erfolg wird ab 1932 Henry von Carl Thomas Anderson um einen schlaksigen Jungen mit kahlem Kopf, der jedoch erstaunliches Geschick zeigt, immer wieder verblüffende Auswege aus prekären Situationen zu ersinnen. Die Serie läuft, ab 1942 von anderen Zeichnern fortgeführt, bis Ende 2018.[10]

In Europa macht Jacobssons Beispiel gleichermaßen Schule, seine minimalistisch klare Ästhetik scheint eine Modernität der neuen Sachlichkeit zu reflektieren, wie sie sich parallel in den anderen Künsten abbildet. In Großbritannien, wo der moderne amerikanische Comic trotz nicht gegebener Sprachbarrieren die geläufige Untertitelung von Bildergeschichten in Magazinen wie Comic Cuts oder Illustrated Chips keineswegs beeinflusst hat,[11] beginnt im Londoner Sunday Express Reg Wootton 1931 die Serie Sporting Sam, die bald täglich erscheint – die Sportarten, in denen sich Sam erprobt und zu beweisen sucht, wechseln von Woche zu Woche, doch beim Prinzip der Pantomime bleibt es bis zur Einstellung 1968. Bereits im Jahr darauf, 1932, folgt in derselben Zeitung Come on, Sam! von Roland Davies, in dessen Mittelpunkt zur Abwechslung ein ebenso cleverer wie erfinderischer Ackergaul steht, dessen Leben sich allerdings kaum problemfreier gestaltet als das seiner dennoch schweigenden zweibeinigen Kollegen.

Schweigen als Bedingung der Pantomime bedeutet keinesfalls, dass die Strips frei von Schrift sind. Dort, wo sie zur sichtbaren Welt gehören, auf Schildern, Plakaten oder Zeitungen, gelangen Worte ins Bild. Sie liefern Anhaltspunkte, unter welchen Umständen etwas zu einem Scherz gerät, der ohne diese Information möglicherweise keiner wäre. So ist es auch bei Mieke Meijer, einer Serie um ein aufgewecktes junges Mädchen, die Ger Sligte ab 1934 in den Niederlanden für die sozialistische Jugendzeitschrift De Wiekslag zeichnet.[12] Bei Hergés kurzem Ausflug auf das Gebiet der Pantomime – von Cet aimable M. Mops erscheinen 1932 nur acht Folgen – kommt es auf einer Seite zu einem schmerzlichen Unfall, der komisch erst gerät, als das letzte Panel offenbart, dass der Verursacher des Malheurs mit einem Werbeschild für ein Kopfschmerzmittel auf dem Rücken umherläuft.

Liebe Freunde, auf Wiedersehen!

In Frankreich beginnt im September 1934 in dem konservativen Le Journal, das jetzt einen zunehmend pronazistischen Kurs einschlägt, Les aventures du professeur Nimbus von André Daix. Sein Auftraggeber, die Presseagentur Opera Mundi in Paris, hat den Erfolg von Adamson im Blick und gibt eine „bande muette“ vor, einen stummen Streifen. Die skurrilen Erlebnisse des vom Pech verfolgten Professors – der keiner bestimmten Tätigkeit nachgeht, sondern auch als Dirigent oder etwa Kellner auftritt – mit Brille auf der Knollennase (und anders als bei Adamson nur einem eigenwilligen Haar auf dem Kopf) sind schnell beliebt. Die Strips bestehen aus jeweils vier oder fünf Panels und bleiben „unpolitisch“, doch fehlt es Daix‘ Figur, trotz zeichnerischer Eleganz, an jener chaplinesken Ergebenheit in das Schicksal, wie sie den Helden anderer Serien nach dem Motto „shit happens“ eigen ist. Immer wieder steht am Ende finsterer Grimm auf einen „Schuldigen“.

Als Le Journal 1940 den Umfang auf vier Seiten reduzieren muss, beginnt Daix, selbst glühender Faschist und Antisemit, 1940 in der Pariser Tageszeitung Le Matin die ebenfalls stumme Serie Le Baron de Crésus um einen ganz ähnlichen „Professor“, die somit auch bald entsprechend umgetitelt wird und bis zum Verbot des Blattes im August 1944 erscheint. Anfang 1946 wird Daix wegen Kollaboration angeklagt, setzt sich ab ins Portugal Salazars, wo er in Lissabon unter falschem Namen weiter als Zeichner arbeitet, schließlich nach Südamerika. Sein Professor jedoch ist eine französische Ikone geworden, nach Daix‘ Flucht führen andere Zeichner die Serie noch bis 1991 fort.[13]

Ein Vierteljahr, nachdem in Paris Professor Nimbus in die Welt getreten ist, erscheint in der Berliner Illustrirten Zeitung die erste Episode von Vater und Sohn. Statt einer „stehenden Figur“ jedoch, nach der der damalige Redakteur Kurt Kusenberg gesucht hatte, hat Erich Ohser gleich zwei geliefert; das unterscheidet seine Serie markant von der „Adamson-Schule“, deren Impuls im sich über den Helden ergießenden Klamauk gründet. Ohser rückt stattdessen die Beziehung zwischen seinen Charakteren in den Vordergrund, die sich, obwohl eine Generation sie trennt und ohne dass Autorität oder Gehorsam in der Luft lägen, auf Augenhöhe begegnen und komplementär bewähren.

Als seine schnell beliebten Helden von den Nazis zu Propagandazwecken vereinnahmt werden, lässt Ohser sie im Frühjahr 1937 auf Weltreise gehen und auf einem Eiland fernab der braunen Realität stranden. Unter dem Titel „Auf einsamer Insel“ beginnt er zugleich, seine Folgen jetzt fortlaufend zu nummerieren, so als wolle er seinen Figuren mit den „Fortsetzungen“ versichern, nicht in die Heimat zurückkehren zu müssen. Doch nach einem halben Jahr lässt sich das nicht länger hinauszögern, und bereits zwei Wochen, nachdem sie wieder zu Hause sind, heißt es dann: „Liebe Freunde, auf Wiedersehen!“

In der Berliner Illustrirten ist die später in „Abschied“ umbenannte letzte Folge mit „Das größte Abenteuer“ betitelt. Davon, dass Vater und Sohn das unter anderen Umständen hätten noch vor sich haben können, darf man ausgehen, denn mit Ohsers nicht einmal drei Jahre lang erschienenen Serie ist die deutsche Bildergeschichte stilistisch wie formal mit dem modernen Comic gleichgezogen und hat an den Beginn ihrer Verwandlung einen unvergesslichen Klassiker gesetzt.

Erst im Sommer 1939 findet die Berliner Illustrirte mit Die Abenteuer der 5 Schreckensteiner einen ebenfalls pantomimischen Ersatz. Hatte Erich Ohser seine Schützlinge auf eine Insel ausreißen lassen, setzt sich Ferdinand Barlog ab ins Mittelalter, wo zur Geisterstunde die Ahnen des Schlossherrn spuken. Auch seine Serie ist schnell beliebt, wie schon bei Vater und Sohn erscheint 1940 eine Buchausgabe. Weniger Popularität erlangt hingegen Fäustchen von Horst von Möllendorf ab 1938 im Stern (nicht identisch mit der 1948 von Nannen gegründeten Illustrierten) beginnt und 1940 nach dessen Umbenennung in Erika – Die frohe Zeitung für Front und Heimat dort weitergeführt wird. In einer Folge aus dem Jahr 1939 liegt Fäustchen auf einer Wiese, vertieft ins Schreiben eines Frühlingsgedichts. Von hinten nähert sich der Parkwächter, blickt ihm grimmig über die Schulter, spießt das Blatt mit den Versen auf und trabt von dannen – für Poesie ist kein Platz mehr in diesen Zeiten.

Mit Kriegsbeginn bekommen durch die Gleichschaltung oder Verbote von Zeitungen die Zeichner überall im besetzten Europa die Willkür der Naziherrschaft unmittelbar zu spüren. In den Niederlanden muss Henk Backer nach der Invasion seinen 1930 begonnenen Pantomimenstrip Adolphus aufgeben, dessen Titel von den Besatzern als Verulkung des Führers angesehen wird.[14] Aus vielen Zeitungen verschwindet auch Ferd’nand des mit „Mik“ signierenden Dänen Henning Dahl Mikkelsen, der, obwohl erst 1937 begonnen, dank seiner wortlosen Gags schon in ganz Europa verbreitet ist; zum Verhängnis wird ihm der markante Schnauzer unter einer blasphemischen Knollennase, dahinter könnte sich Spott verbergen. Nach dem Krieg, Ende 1947, wird Ferd’nand die USA erobern, wohin Mikkelsen bald darauf auswandert und 1970 seinen Strip an seinen amerikanischen Kollegen Al Plastino übergeben wird, der ihn fortführt bis 1989. Doch all das ist jetzt ferne, ungewisse Zukunft.

Nach dem Angriff auf Pearl Harbor und Hitlers Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 ersinnt in Los Angeles George Baker im Auftrag des soeben gegründeten und mit einer Auflage von knapp drei Millionen Exemplaren erscheinenden „army weekly“ Yank die Serie The Sad Sack (der Trottel), in der den aktuellen Umständen entsprechend nun die sprachlose Bohnenstange von einem Rekruten zur Zielscheibe derber Späßchen und Widernisse wird, wenn er nicht gerade wieder Pläne schmiedet, sich vor dem Dienstplan zu drücken.[15] Seine Gags sind bei den G.I.s eine Institution wie in der Heftmitte die Pin-up-Fotos. Die Folgen nehmen in Yank jeweils eine halbe Seite ein, bestehen in der Regel aus acht Szenen ohne Umrahmung und sind signiert mit „Sgt. George Baker“. Keiner der jungen Männer, die sich jetzt totlachen über ihren depperten Schicksalsgefährten, hat die geringste Vorstellung, welche Grauen sie schon bald erwarten.

Exkurs: Zeugen der Zeit

Unter dem Eindruck des Traumas noch des Ersten Weltkrieges steht der Flame Frans Masereel, als er 1918 in der Schweiz seine erste Bilderzählung ohne Worte veröffentlicht. Er ist standfester Pazifist und aktiv gegen den Krieg engagiert,[16] im Klassenkampf lässt ihn sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn aufseiten des Proletariats stehen. „Ich war immer der Auffassung, dass der Künstler auch Mensch sein dürfe, und dass die Tatsache, dass er Pinsel und Stift führt, ihn nicht unbedingt von der Gemeinschaft entfernen, ihn für das menschliche und soziale Geschehen nicht blind machen müsse. Auch er kann ein Zeuge der Zeit, in der er lebt, sein.“[17] 25 images de la passion d’un homme (Passion eines Menschen) erzählt auf 25 Blättern mit jeweils nur einem Bild von einem jungen Arbeiter, der einen Aufstand gegen die Ausbeuter der Werktätigen anführt.

Das Geschehen entwickelt sich stringent von Bild zu Bild, wobei im Gegensatz zu den funnies, deren Rasanz und Bewegung den Takt des Industriezeitalters spiegeln, Masereel das Geschehen auf seinen Bildern festhält, es förmlich einfriert; springt der Comic von einer Szene zur nächsten direkt daneben, wird die flüchtige Automatik durch den Akt des Umblätterns unterbrochen. Zudem verstreichen längere Zeiträume zwischen den Szenen, der Betrachter muss die Bilder ebenso deuten wie ihre Beziehung zum jeweils folgenden. Damit ist Masereels Verfahren im Sinne des leichten Zugangs weniger direkt als der Comic, durch den notwendigen Prozess der Versenkung und Entschlüsselung aber umso eindringlicher. Er bedient sich einer eigenen visuellen Sprache, doch ganz wie der Comic erzählt er sequenziell.

Masereels Technik ist eine Aufwertung des Bildes als künstlerischer Ausdruck. Inspiriert vom Expressionismus und dem Stummfilm paart er die grobe Ästhetik mittelalterlicher Holzschnitte mit der Plakativität des sozialistischen Realismus. 1919 erscheint Mein Stundenbuch, das aus 167 Holzschnitten besteht, und bis 1928 folgen fünf weitere Bildromane mit wechselnden Umfängen. Dabei variiert Masereel auch die „Überbrückung“ seiner Szenen: In Geschichte ohne Worte (1920), dem (lange vergeblichen) Liebeswerben eines Mannes, der, ganz wie Kierkegaards Verführer, seine Angebetete verlässt, als er am Ende sein Ziel erreicht, platziert er seinen Helden auf fast jedem Bild an gleicher Stelle – fast lässt sich die Erzählung so lesen wie ein Daumenkino.

Masereels Bücher wenden sich an die Arbeiterklasse, sind preiswert und Verkaufsschlager. Bald übernehmen auch andere Künstler sein Konzept, gleichsam mit humanistischer Intention. Zunächst allerdings wird es in der Schweiz von einem elfjährigen polnisch-französischen Jungen aufgegriffen, allein zum Vergnügen. Noch heißt er Balthasar Klossowski de Rola, später macht er sich als Balthus einen Namen als bedeutender Maler vor allem von Kinderporträts. Die in 40 Tuschezeichnungen erzählte Geschichte über den Verlust seiner entlaufenen Katze fällt Rainer Maria Rilke in die Hände, dem Liebhaber von Balthazars Mutter, der unter dem Titel Mitsou 1921 für ihre Veröffentlichung sorgt.

1926 dann wartet in Deutschland Otto Nückel, der zuvor für satirische Zeitschriften wie Simplicissmus gearbeitet hat, mit Schicksal auf, einer „Geschichte in Bildern“ über den Lebens- und Leidensweg einer Frau, die aus Verzweiflung ihr uneheliches Kind ertränkt, und wählt statt des Holzschnitts für seine zunächst mit Bleistift gezeichneten Blätter den Bleischnitt. Die Erzählung ist eine Art sozialkritische Einzelstudie in 17 Kapiteln und umfasst 189 Szenen in variierenden Formaten. Carl Meffert, der sich ab 1933 Clément Moreau nennt, entscheidet sich für den Linolschnitt; 1927 erscheint im Auftrag der KPD sein erster Zyklus mit sechs Blättern über den „Hamburger Aufstand“ am 23. Oktober 1923, dem weitere folgen, darunter Erwerbslose Jugend (1928), Fürsorgeerziehung (1929) oder 1940 in der argentinischen Wochenzeitung Argentina Libre (sowie im deutschsprachigen Argentinisches Tagesblatt) als Fortsetzungsserie Mein Kampf („texto de Adolfo Hitler“), bestehend aus insgesamt 68 Linolschnitten zu Zitaten aus benanntem Werk.[18] Moreau schildert Hitlers Aufstieg zur Macht in dekuvrierender Absicht: „Die Arbeit war leicht. Ich habe einfach den Originaltext illustriert und so den Inhalt sichtbar gemacht.“[19] Eine erstmals autobiografisch geprägte Bilderzählung legt in der Tschechoslowakei Helena Bochořáková-Dittrichová 1929 mit Z Mého Dětství (aus meiner Kindheit) als Zyklus von 137 Holzschnitten vor.

Zur gleichen Zeit, 1927, studiert in Leipzig Lynd Ward an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, stößt auf Masereel und Nückel und exportiert das Konzept in die USA. Mit 139 Holzschnitten erscheint 1929 God’s Man, der erste von bis 1937 sechs Bildromanen. Die faustische Erzählung um einen Künstler, der seine Seele gegen einen magischen Pinsel tauscht, um in der Kunstwelt zu reüssieren, wird ein stattlicher Erfolg. Schon im Jahr darauf legt der Comic-Zeichner Milt Gross den Band He Done Her Wrong vor, „The Great American Novel (with no words)“, eine Slapstick-Komödie und der Versuch, Wards Narration auf die Welt der funnies zu übertragen. Die Idee der „wordless novel“ zündet, mit unterschiedlicher Intention. Ebenfalls 1930 folgen William Groppers Alay-oop und The Life of Christ in Woodcuts von James Reid. Dann 1938 Abraham Lincoln. A Biography in Woodcuts (Charles Turzak) sowie von Giacomo Patri White Collar, die Geschichte vom sozialen Abstieg einer Mittelstandsfamilie in den Jahren der Depression in 128 kunstvollen, ausdrucksstarken Linolschnitten in wechselnden Größen.

In Großbritannien veröffentlicht der ungarische Illustrator István Szegedi-Szüts 1931 in zwei Bänden My War mit 206 mit Bleistift und Wasserfarben gestalteten Zeichnungen über sein Erleben des Ersten Weltkrieges. Und in Paris erscheint in fünf Heften 1934 der surrealistische Collageroman Une semaine de bonté (eine Woche der Güte) um Eifersucht und Mord mit 184 anspielungsreichen wie rätselhaften Bildkompositionen von Max Ernst, der einen neuen künstlerischen Höhepunkt setzt. Doch in Deutschland, wo die Bildromane vor allem populär sind, werden sie von den Nazis bald verboten und als „entartete Kunst“ verbrannt, viele Druckgrafiker werden verhaftet, weitere Werke erscheinen erst einmal keine.

Nach Kriegsende gerät das Genre in Vergessenheit und es folgen nur vereinzelte Veröffentlichungen wie 1949 in Deutschland Werner Gotheins Die Seiltänzerin und ihr Clown, in Kanada 1951 Southern Cross mit 118 Holzschnitten von Laurence Hyde um eine Familie, die bei der Räumung des Bikini-Atolls zurückbleibt, oder 1957 The Parade: A Story in 55 Drawings des 1935 in die USA emigrierten polnisch jüdischen Si Lewen, eine Allegorie auf den ewigen Krieg. Erst in den 1970er-Jahren kommt es zu einer Wiederentdeckung der Bildromane als Markstein der grafischen Literatur. Oder als, wie 2008 David A. Beronäs Überblick Wordless Books im Untertitel postuliert, „the original graphic novels“.

Derweil erkundet die „wordless novel“ die Erotik. 1964 veröffentlicht in Kanada George Kuthan im antiken Stil griechischer Vasenmalerei Aphrodite’s Cup mit 25 diskusrunden, zweifarbig gedruckten Linolschnitten. Und 1967 legt Tom of Finland (d.i. Touko Laaksonen), dessen halbnackte Muskelwunder in Lederjacken oder prallen Jeans in dem Bodybuilder-Magazin Physique Pictorial bereits seit Ende der 1950er-Jahre Kult in der amerikanischen Schwulenszene sind, die erste Ausgabe seines Heftes Kake vor um einen gleichnamigen Ledermann mit Schnauzer, Schirmmütze und förmlich platzendem T-Shirt mit dem Aufdruck „Fucker“, der mit seinem monströsen Gemächt so direkt zum Zuge kommt wie einst die Helden der tijuana bibles;[20] dabei entfährt ihm nicht einmal ein Stöhnen. Von Kake erscheinen bis 1986 26 Ausgaben in je 20 ganzseitigen Akten aus Bleistift und schwarzer Tusche. 1973 werden Tom of Finlands Zeichnungen erstmals ausgestellt, längst finden sie sich in den Programmen von Kunstbuch-Verlagen, 2023 nennt ihn die Finnische Nationalgalerie anlässlich einer aktuellen Werkschau „one of the world’s best-known Finnish artists“.

Mit Schirm, Schnauzer und Melone

Als nach Kriegsende Alltag wiederkehrt, kommen bald überall in Europa nahezu zeitgleich auch neue Pantomimenstrips auf und finden ein dankbares Publikum; eine Prise Humor ist zwischen den Trümmern stets willkommen und ohnehin verliert man derzeit am liebsten keine großen Worte. In Westdeutschland beginnt 1950 in Quick, der im Jahr zuvor gegründeten ersten Nachkriegs-Illustrierten, Pascha Bumsti von Ferdinand Barlog, wie zuvor die 5 Schreckensteiner als Pantomime. Allerdings holt Barlog schnell der Vorwurf ein, unter dem NS-Regime publiziert zu haben, nach nur drei Monaten verschwindet der Strip kommentarlos. Weitgehend ohne Aufträge zieht er 1954 zu seiner Tochter in die USA, wo er zwei Jahre später stirbt. Ebenfalls 1950 debütiert in der Illustrierten Woche der spätere Kauka-Zeichner Kurt Ludwig Schmidt (alias Kasch) mit Der Löwe Adolar, welcher für sein Leben gerne einen Menschen verspeisen würde, käme nicht ständig etwas dazwischen. Die Deutsche Illustrierte (ab 1958 Bunte Illustrierte) veröffentlicht von 1953 bis 1966 die von Hans Kossatz mit leichtem Strich charmant inszenierte Serie Willi und Familie Kaiser um einen Vater, einen Sohn sowie besagten Dackel, die in ihrem eher feinen Witz, im sparsamen Strich wie auch in der Interaktion zwischen Vater und Sohn deutlich Ohser als Vorbild erkennen lässt. In das Comic-Heft Fix und Foxi hält die Pantomime 1964 Einzug mit Diabolino um ein liebenswertes kleines Teufelchen, das mit Wollust all das ausheckt, was die jungen Leser selbst nicht dürfen. Für die Kinderseite des Stern steuert Hans Jürgen Press von 1965 bis 1989 Der kleine Herr Jakob bei. Auf Wunsch der Redaktion allerdings werden die pfiffigen, oft skurrilen Erlebnisse des liebenswerten Männchens im gestreiften Pulli und mit Schnauzbart und Melone nach einer Weile von Reimen begleitet, doch in den späteren Buchausgaben lässt Press die Episoden so erscheinen, wie sie ursprünglich gedacht waren: als reine Pantomimen.

In Dänemark arbeitet Herluf Bidstrup ab 1945 für das kommunistische Land og Folk und fertigt Hunderte stummer, aus realsozialistischer Perspektive satirischer Comic-Seiten über menschliche Schwächen und bürgerliche Marotten, „stehende Figuren“ gibt es keine. Seine mit sparsamem, klarem Strich lebendig zu Papier gebrachten Gags ohne Umrahmungen der einzelnen Szenen erscheinen in der DDR in der Neuen Berliner Illustrierten und der Wochenpost wie in Buchausgaben wie Reportagen mit dem Zeichenstift (Dresden 1954) oder Gewitztes und Verschmitztes (Ostberlin 1955). 1964 wird Bidstrup in Moskau mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis ausgezeichnet, gerät in seiner Heimat aber wegen dogmatischer Insistenz zunehmend in die Kritik.

Ebenfalls in Dänemark beginnen 1948 Jørgen Mogensen und Siegfried Cornelius (alias Cosper) Alfredo, einen in Adamson-Manier gestalteten Strip um einen hageren, gegen die Widernisse des Alltags anrudernden Durchschnittsbürger mit kreisrundem Kopf und Schnauzer als Signatur. Alfredo läuft 42 Jahre lang täglich in bis zu mehr als hundert Zeitungen weltweit, knapp die Hälfte davon in den USA. Im Parisien Libéré erscheint Les mille et une aventures d’Oscar (ab 1947) von Jean Léo bis in die 1960er-Jahre, Poustiquet (ab 1949) von Roland Vagnier (alias Bindle) in Le Samedi sogar bis in die 70er. In Belgien beginnt Peyo 1949 für Le Soir die wöchentliche Kinderserie Poussy um eine schwarze Katze, 1954 folgt an gleicher Stelle Max l’explorateur um die Aventüren eines tatendurstigen Naturforschers mit Tropenhelm in freier Wildbahn. Nicht allein in Großbritannien, sondern bald ebenso in den USA erfolgreich werden ab 1947 Louie von Harry Hanan um einen im Gegensatz zu seiner Frau winzigen Ehemann sowie Peter Laings Uncle Charlie (ab 1955). In Spanien publizieren Gacetta del Norte ab 1945 Luis Del Olmos Don Celes und Semana den bald nicht minder populären Strip Cándido (ab 1953) von José Luis Martín Mena.

Wim van Wieringen in den Niederlanden beginnt 1947 Simpleman um einen Biedermann, den er einmal nur als Strichmännchen auftreten lässt und ihn damit reduziert auf sein Wesen, seine reine Funktion: Einer großen Persönlichkeit bedürfen die Helden der Zeitungspantomime kaum, die „stehende Figur“ dient in erster Linie der Identifizierbarkeit des Strips, in dem sie agieren. In Polo, den Willem Dolphyn von 1958 bis 1977 für das Geschichtsmagazin Clio zeichnet, wechselt der beleibte unrasierter Protagonist bei jedem seiner Auftritte selbst die Epochen. Auffällig populär bleiben dennoch mutmaßliche Akademiker wie ab 1954 Bob van den Borns Professor Pi.

Professor Filutek in Polen wird ab 1948 immerhin so populär, dass seinem Zeichner Zbigniew Lengren nach dessen Tod 2003 ein Denkmal gesetzt wird: eine Bronzestatue von Filuś, dem Hund, der den Professor stets treu begleitete, und der nun mit dessen Melone im Maul neben seinem an einer Laterne lehnenden Schirm auf dem Marktplatz der mittelalterlichen Weltkulturerbe-Stadt Toruń auf sein Herrchen wartet. Der Schirm ersetzt im Logo der Serie das „i“, an Filuteks „k“ am Ende hängt dessen Melone – Zeichen als Identifikationsmerkmale, die aus ihrem Träger einen „character“ machen; über diese Markenzeichen hinaus bleiben die Akteure der Pantomimenstrips unbeschrieben, sind Nobodys. Selbst Leben und Alltag von „Professoren“ weisen keinerlei Kontur auf (bestenfalls existiert ein familiäres Umfeld, das willkommene Nebenfiguren bereithält), je nach Bedarf des nach Gags suchenden Zeichners gehen sie freimütig allen nur erdenklichen Tätigkeiten und Berufungen nach, in der alleinigen Verpflichtung, am Ende einen Witz zu liefern. Wie Polo wechselt auch Alfredo gelegentlich die Jahrhunderte, um sich neuen Tücken auszusetzen. Ohne die Prämisse der freien Entfaltung wäre das Reservoir komischer Situationen bald erschöpft.

Die Helden tangieren solche Verhältnisse nicht, wie die Umstände auch sein mögen, am Ende reagieren sie gemäß ihrer Programmierung mit Empörung oder aber klammheimlicher Freude ob ihres Triumphs. Sie sind oft farblos, kurz gewachsen, Mitte Vierzig, Durchschnittsbürger. Der Identifikation und Wiedererkennung dienen vor allem Hüte, Brillen, Schnauzbärte und Zigarren sowie gerne die Glatze mit einer fixen Zahl trotziger Haare. Frauen tauchen so gut wie nur in Nebenrollen auf (und liefern dann oft den Grund für des Helden tagesaktuelle Pein). Eine der wenigen Ausnahmen ist der Strip Nanette, den der Spanier Coq (d.i. Luis Garcia Gallo) von 1962 bis 1979 für Jours de France zeichnet, jedoch sind die wortlosen Scherze und Erlebnisse einer jungen Frau aus deutlich männlicher Perspektive zu Papier gebracht.

Als sich mit zivilem Luftverkehr, dem Ausbau des Highway-Systems, Supermärkten und Fastfood-Ketten sowie dem Fernsehen der American Way of Life in den 1950ern beschleunigt, passt das stumme Erzählen als fix konsumierbare Portion Alltagsheiterkeit gut in die Zeit. Angesichts zahlreicher aus Europa importierter Strips bleibt die eigene Produktion allerdings überschaubar. Kern Pederson wählt für Little Farmer (ab1953) ein heimisches Sujet, die vergehende Welt der kleinen Rancher. Kühner treten Al Jaffee mit Tall Tales (ab 1957) sowie Irving Phillips mit Strange World of Mr. Mum (ab 1958) auf, der eine ohne „stehende Figur“, stattdessen mit stets sechs immer gleichgroßen, länglich-hohen Bildern pro sunday page, der andere geradezu surreal: Mr. Mum ist ein fade wirkender, verwundert dreinschauender Mann in den mittleren Jahren, der nichts weiter tut, als stumm die Welt zu durchstreifen und dabei die seltsamsten Vorgänge um sich herum zu betrachten. Vor allem die farbigen Sonntagsseiten, die heute in Vergessenheit geraten sind, zählen neben denen Soglows zu den skurrilsten und ästhetisch schönsten Comic-Pantomimen ihrer Zeit.

Aufgrund ihres Schemas von meist vier Panels pro Gag bieten die Comic-Seiten der Tageszeitungen der gezeichneten Pantomime eine ideale Plattform. In den 1980er-Jahren jedoch neigt diese Zeit sich durch neue Unterhaltungsangebote wie sich verändernde Lebensgewohnheiten unverkennbar ihrem Ende zu. Immer mehr Serien werden eingestellt, bei vielen, die nach wie vor erscheinen, kommen heute ältere Strips nochmals zum Abdruck. Doch es gibt auch Überraschungen, auf dem Gebiet der Pantomime etwa Mark Tatullis Lió (ab 2006) um einen kleinen Jungen, dessen Welt von Tieren, Aliens, Monstern, Robotern und anderen Wesen bevölkert ist. Lió scheint zu träumen von diesen Begegnungen wie einst Little Nemo, doch Tatulli insistiert, dass er nur aufzeichnet, was seinem Schützling tatsächlich widerfährt.

’nuff said!

Jim Steranko, der vielleicht einflussreichste Vertreter einer neuen Generation von Zeichnern, die gegen Ende der 1960er-Jahre die Ästhetik der amerikanischen comic books erneuern, erzählte einmal die Anekdote, wie er 1968 seine Originale für das erste Heft der Serie Nick Fury, Agent of S.H.I.E.L.D. bei Marvel abgeliefert und Stan Lee irritiert die Eröffnungssequenz betrachtet habe, in der über eine Doppelseite hinweg nicht ein Wort fällt, das nächtliche Geschehen vollzieht sich in aller Stille. „Für Seiten ohne Text bezahlen wir aber nichts!“, soll Lees Reaktion gewesen sein. Das ist scherzhaft gemeint– schließlich pflegt er in den Marvel-Heften seit 1961 seine Leseransprachen mit den Worten „‘nuff said!“ zu beenden –, zeigt jedoch, wie ungewöhnlich das Erzählen allein über die Bilder zu dieser Zeit im Kontext längerer und komplexerer Comic-Storys ist.

Jenseits der Tageszeitungen bleibt die Pantomime zunächst eine rare Ausnahme und findet sich als Prinzip allenfalls bei einseitigen Gagserien wie Bob de Moors Balthazar (ab 1965) im belgischen Jugendmagazin Tintin. Im satirischen Mad praktiziert der Exilkubaner Antonio Prohías diese Form bereits seit 1961 mit Spy vs. Spy um die schwarze und die weiße Karikatur zweier Agenten, die sich sonst jedoch gleichen wie ein Ei dem anderen. Die Tumulte zwischen den Widersachern werden bald zur festen Institution in Mad und erscheinen, konsequent unter dem Siegel der Verschwiegenheit (und ab 1987 fortgesetzt von anderen Zeichnern), bis heute. In Mad wird der wortlos zelebrierte Gag damit zu einer beständigen Form des karnevalesken Witzes.

Vor allem Sergio Aragones steuert ab 1963 regelmäßig seine „margins“ bei, mehrere Seiten pro Ausgabe unter dem Titel A Mad Look at …, auf denen er zu bestimmten Themen diverse Pantomimenstrips versammelt. Bei einigen sind die Bilder horizontal angeordnet, bei anderen vertikal, und bei wieder anderen verläuft das Geschehen sogar im rechten Winkel „um die Ecke“. Bis 2020 entstehen so mehr als 16.000 ebenso kurze wie aberwitzige Gags, die teilweise anschließend unter dem Titel Mad Pantomimes auch als Taschenbuch erscheinen. 1970, auf dem Höhepunkt der Vietnam-Proteste, beginnt zudem Hawks & Dores (Falken und Mistkäfer) von Al Jaffee – der sich künstlerisch vor allem von Otto Soglow beeinflusst sieht – um einen Rekruten, dem es in jeder Folge abermals gelingt, seine Kaserne mit einem demonstrativen, möglichst weithin sichtbaren Peace-Zeichen zu versehen. Die Serie erscheint zwei Jahre lang in Mad und bleibt hier Jaffees einzige größere „stumme“ Arbeit. Aragones hingegen legt 1991 den Band Smokehouse Five mit den gesammelten Missgeschicken einer Truppe von Feuerwehrleuten vor, und 1997 startet sogar eine eigene Heftreihe mit dem Titel Louder than Words. Eine weitere, vier Jahre später ebenfalls aus sechs Heften bestehende Reihe nennt er Actions Speak.

„Actions speak“ – das will meinen, jedes Panel erklärt sich selbst allein aus dem Gefüge seiner Zeichen, und seine visuell kommunizierte Botschaft ist Grundlage für das Verständnis des nächsten im Sinne einer logischen Fortentwicklung, der Handlung. Der Witz bietet sich für dieses Prinzip geradezu an, da er sich der zuspitzenden Überzeichnung der Karikatur bedient. Und der Mitwirkung des Betrachters, der das Geschehen in Bewegung setzt, indem er automatisch ergänzt, was entsprechend seiner gespeicherten Erfahrung zwischen zwei Szenen passiert sein muss. Genau genommen ist es somit nicht die Aktion, die erzählt, denn die ist auf den Bildern nicht vorhanden. Sie entsteht im Kopf des Rezipienten, der deutet, verknüpft und damit alles erst ins Laufen bringt. Doch lassen sich allein mit Bildern auch tiefgründigere, komplexe Geschichten erzählen, diffizile Ereignisse reflektieren oder krause Seelenzustände offenlegen, eine Welt also schildern ohne absehbare Abläufe, Regeln und Offensichtlichkeiten?

Einen regelrechten Bilderschock erzeugt 1975 in Paris Mœbius, als in der ersten Ausgabe des an erwachsene Leser adressierten Comic-Magazins Métal Hurlant, zu dessen Gründern er zählt, Arzach erscheint: eine achtseitige Episode ohne Text, in der in einem wie vom Unterbewussten eingegeben wirkendendem Bilderrausch ein mediäval gewandeter Krieger auf dem Rücken eines weißen Pterosaurias eine archaische Welt in psychedelischen Farben überfliegt. Die Vorführung entzieht sich jeder Deutung, denn ihre Intention ist, die Konventionen der Gattung außer Kraft zu setzen und einstudierte Lesegewohnheiten zu zerstäuben.[21] Mœbius‘ Coup wirkt verstörend, da sein Held den Betrachter ignoriert und darauf verzichtet, ihm etwas vorzuführen, das dieser einordnen, nachvollziehen könnte; zusätzlich verwehrt die fremde Welt seinem gespeicherten Selbst die Orientierung, er ist verloren. Mœbius‘ spektakuläre Inszenierung brennt sich ein ins kollektive Bildgedächtnis.

Arzach verkörpert wie kein anderes Werk die Neuorientierung der Neunten Kunst in diesen Jahren. In den USA und in Europa ist ein durch die Vietnamproteste und die Studentenunruhen sozialisiertes Publikum nachgewachsen, neue Freiheiten liegen in der Luft sowie spätestens seit Andy Warhol ein neues Kulturverständnis, was ebenfalls die Zeichner inspiriert. In Italien, wo Guido Crepax bereits mit Valentina (ab 1965) große Beachtung auch außerhalb der Comic-Welt gefunden hat, erscheint 1979 seine erotische Erzählung Lanterna Magica, knapp hundert Seiten ohne ein Wort: eine anspielungsreiche wie verschlüsselte intime Imagination, bei der offen bleibt, ob es sich um einen Traum handelt, oder ob sich das lustvolle Spiel tatsächlich wie hier vorgeführt in einem elitären Etablissement ereignet. Bemerkenswert sind vor allem die Kameraführung und Crepax‘ Seitenarchitekturen, die jedes Blatt in ein Puzzle aus Indizien und Bezugnahmen verwandeln. „Zeitspanne und Spannung sind dank der einzigartigen Syntax eines Layouts vorgegeben, welches suggeriert, kleinere Panels und winzige Einstellungen als Aneinanderreihung unheimlich schnell ablaufender Momente zu lesen“, hat Umberto Eco dazu notiert und angemerkt, „dass Crepax auf einigen seiner Panels ganz wenig Handlung wiedergibt, Seelenzustände dagegen durch ein Übermaß an Einzelheiten in Überfülle zu kommunizieren versteht.“[22]

Damit wird der episch erzählende Comic zur Bühne für die Pantomime, nicht allein für Erwachsene: In Großbritannien legt Raymond Briggs 1978 The Snowman vor, in dem ein Junge einen Schneemann baut, der in der Nacht lebendig wird. Gemeinsam begeben sie sich auf die Reise, um die Welt zu erkunden, die der Menschen und die der Schneemänner. Briggs‘ stille Geschichte ist kunstvoll ohne den Einsatz schwarzer Konturen in zarten Buntstift-Farben gestaltet, wird ein internationaler Bestseller und 1982 verfilmt.

Wie weit das zu erschließende Terrain sich dehnt, demonstriert Massimo Mattioli mit seiner 1982 in dem avantgardistischen italienischen Magazin Frigidaire begonnenen Serie Squeak the Mouse, die zu Briggs‘ Snowman gegensätzlicher kaum sein könnte. Statt feinfühlig sensibler Schilderung regieren hier Tempo und Klamauk. Mattiolis anthropomorphe Monster haben ihr Vorbild in den zügellosen Trickfilmen Tex Averys, wie dort fliegen hier auf den immer gleich großen (und damit eine Kinoleinwand simulierenden) grellbunten Bildern die Torten und krachen die Dynamitstangen, es wird über die Seiten gehetzt, dass die Fetzen fliegen. Zudem liefern sich die Akteure blutspritzende Gemetzel ohne Rücksicht oder Gnade, sodass die spätere Buchausgabe in mehreren Ländern zeitweise sogar in den Verdacht der Jugendgefährdung gerät. In der Tat ist Squeak the Mouse wilde Kost – doch ebenso große Kunst: Mattiolis Bildeinfälle sind zum Brüllen komisch.

Auf ganz andere Weise „schauerlich“ Tales of Error, 1989 die erste Sammlung stummer Grusel- und Crime-Kurzgeschichten des Schweizers Thomas Ott. Der Titel spielt an auf die in den 1950er-Jahren legendären amerikanischen Horrorhefte The Crypt of Terror und Tales from the Crypt. Ott verwendet für seine Bilder die Schabkarton-Technik, bei der die „Zeichnungen“ aus schwarz beschichtetem Karton herausgekratzt werden, eine Ästhetik, die seiner erzählerischen Intention perfekt entspricht. Im Gegensatz zu Mattiolis rasanten Kamerafahrten friert er Momente ein, stille Augenblicke, die sich zu Bewegungen addieren und zu einer Geschichte verdichten. Das weckt Assoziationen zu Masereel ebenso wie zum Expressionismus des deutschen Stummfilms. Mit locker karikierendem Strich und dezent auf die Atmosphäre abgestimmten Farben hingegen durchstreift ebenfalls 1989 François Avril in Soirs de Paris nach einem Szenario Philippe Petit-Roulets vier Nächte in der Stadt der Liebe zwischen Kippen, Drinks und des filles.

In Japan erblickt 1992 in dem Manga-Magazin Morning ein cholerisches Tyrannosaurus-Rex-Baby das Licht der Welt und zeigt über zwanzig Jahre hinweg den schon ausgewachsenen Artgenossen immer wieder, wie der Hase läuft: Gon von Masashi Tanaka wird in Japan vielerorts als Allegorie auf die Position der eigenen Nation in der Welt gelesen. „Mit Gon habe ich etwas zeichnen wollen, das viel interessanter ist als alles, was man mit Worten sagen kann“, so Tanaka.[23] Einen ganz anderen Blick auf die Prähistorie wirft ein Jahr nach Gons Debüt Ricardo Delgado in den USA mit Age of Reptiles, einem ironiefreien, jedoch atemberaubend naturalistisch inszenierten Gemetzel unter Riesenechsen.[24]

Unter dem Banner von Stan Lees Motto „‘nuff said!“ publiziert Marvel in den USA Anfang 2002 als Reaktion auf den 11. September 24 Titel seiner laufenden Comic-Reihen durchgehend textlos, darunter Spider-Man, Captain America oder Fantastic Four. Die Aktionen der sonst gerne geschwätzigen Superhelden vollziehen sich im Stillen, eine Art kollektive Schweigeminute bei weiterlaufenden Kameras, auf dem Terrain der Pantomime eher eine Fußnote.[25]

Moderne Zeiten

Die 1990er-Jahre sind für den Comic ein Jahrzehnt des Umbruchs. Videogames treten in Konkurrenz zu den papiernen Zeichenwelten, bei denen interaktiv allein das Umblättern ist; der Manga wird zur neuen Jugendkultur in der westlichen Welt; es gründen sich von der Comic-Industrie unabhängige Verlage mit innovativen Projekten wie L’Association in Paris oder Drawn & Quarterly in Toronto; in Europa verlagert sich das Angebot vom Kiosk in den Buchhandel; Comics werden Objekt wissenschaftlichen Studiums wie mit der Wahrnehmung der Graphic Novel zum hippen Medienthema:[26] Ein neues Publikum entdeckt die grafische Literatur, plötzlich lassen sich Dinge wagen und Ideen realisieren, die zuvor undenkbar waren – wie etwa neue Wege des bildsprachlichen Erzählens ohne Worte zu erproben.

1993 veröffentlicht in Deutschland Hendrik Dorgathen das Album Spacedog, in dem der Leser einem kleinen Ausreißer durch das mythische Amerika der Hobos und der Straßenkreuzer folgt. Dorgathens Held ist ein knallroter Hund, der seine Farm verlässt, per Güterzug in die Großstadt trampt und schließlich von der NASA ins All geschossen wird. Anders als Laika kehrt er zum Happy End gesund und munter auf die Erde zurück und wird am Ende glücklicher Vater von vier Welpen. Das alles präsentiert sich auf stets gleichgroßen Bildern, die mit großer Klarheit komponiert sind, gezeichnet mit energisch kantigem Strich und koloriert in flächig-kräftigen Farben. Gelegentlich verwendet Dorgathen Sprechblasen – allerdings besteht deren Inhalt dann aus Zeichen anstatt Worten.

Mitte der 1990er-Jahre emanzipiert sich die Pantomime als Erzählform zunehmend von ihrem bisherigen Dasein auf den Unterhaltungsseiten der Zeitungen und der Form des knappen Witzes. In Holland gibt Erik Kriek ab 1994 im Eigenverlag Gutsman heraus und erzählt im Soap-Opera-Stil von einem einfältigen Superhelden und dessen Vernarrtheit in seine Kollegin Tigra. Das wird schnell Kult und 2006 auch als Theaterstück aufgeführt – als Pantomime. In Die Fliege dagegen folgt im nächsten Jahr in Frankreich Lewis Trondheim auf 100 Seiten dem kurven- und begegnungsreichen Flug einer cartoonhaft stilisierten Stubenfliege, und in den USA beginnt Jim Woodring 1996 die Serie Frank um eine (biologisch nicht bestimmbare) anthropomorphe Tierfigur, die er in vier Heften und zwei Graphic Novels in einer surrealen Traumwelt in immer neue fantastische Abenteuer stürzt. Peter Kuper legt 1997 The System vor, eine ebenso kunstvolle wie düstere Parabel über den Lauf der Dinge in dunklen Buntstiftfarben: „Die Welt steht in Flammen“, heißt es vorab, „doch niemand sagt etwas.“ Noch im gleichen Jahr übernimmt Kuper in Mad die Serie Spy vs. Spy, die, dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ zum Trotz, weiterhin regelmäßig erscheint.

Beeindruckend an diesen Werken ist, neben ihren jeweils individuellen Qualitäten, die inhaltliche wie stilistische Bandbreite; weder existieren bereits bewährte Techniken, noch stilprägende Klassiker, alles ist ein Experiment, ein Suchen und Probieren. Kaum etwas illustriert das besser als der 1999 von dem französischen Verlag L’Association herausgegebene Band Comix 2000, der auf knapp 2.000 Seiten Storys von 324 Künstlern aus 29 Ländern enthält, deren einzige Vorgabe lautete, keine Worte zu verlieren: Ein Klotz von einem Buch, das verschiedenste Stile, Genres und Themen vereint und in globalen Zeiten, so die Intention, „überall auf der Welt gelesen werden kann“.

Es ist vor allem die Ausbreitung der Graphic Novel, die weltweit den Blick weitet für neue Erzählweisen und -techniken jenseits dessen, was der Comic bisher geboten hat, und innerhalb der Gattung einen globalen Umbruch in Gang setzt. Anders als bei den Underground-Comics, die 1968 eine gesellschaftliche Revolte darstellen und inhaltlich motiviert sind, ist die jetzige Zäsur eine ästhetische, bei der nicht allein zählt, was erzählt wird, sondern auch, wie das geschieht, es geht um neue Optionen der grafischen Literatur. Nach der Wiederentdeckung vn Masereels, Moreaus und Wards entstehen in Weiterentwicklung ihrer Technik so auch neue „wordless novels“. 1989 wendet sich der schottische Maler Ken Currie der in Vergessenheit geratenen Bildnarration zu und veröffentlicht mit Story from Glasgow einen lebendig expressiven und wie ebenfalls viele seiner Gemälde im Milieu der Arbeiterklasse angesiedelten Bilderreigen aus 97 Linolschnitten, als Portfolio in einer Auflage von 45 Exemplaren.[27] Als Buch hingegen erscheint in den USA 1993 – und zwar im Programm eines Comic-Verlags – Flood! von Eric Drooker, der sich traditionsgemäß ebenfalls politisch klar positioniert.[28] Für seine Endzeitparabel um Einsamkeit und Verlorenheit im Großstadtmoloch verwendet er wie in der Schweiz Thomas Ott die Schabkarton-Technik. Er verzichtet auf das Schema nur eines Bildes je Blatt – an einer Stelle beginnen die Bilder zu schrumpfen, bis sich am Ende der Einlage 256 winzige Panels auf einer Seite tummeln –, übernimmt Seitenarchitekturen, Szenenwechsel, „Bewegung“ und Perspektiven des Comics und gelangt zu einer ausdrucksstarken eigenen Form.

Aus Kanada kommen Stefan Bergs Let that Bad Air Out, eine Hommage in 70 Linolschnitten an den schwarzen Jazz-Bandleader Buddy Bolden – der seine erste Truppe 1896 gründet, als in New York gerade ein kleiner Bengel im grellgelben Kittel von sich reden macht, und von dem nicht eine Tonaufnahme und nur ein einziges Foto existieren –,[29] sowie Book of Hours von George A. Walker.[30] Walker reiht in 99 Holzschnitten „banale“ Alltagsmomente fiktiver Personen auf (den Frühstückskaffee, Stau auf dem Arbeitsweg), die am Morgen des 9/11 nicht ahnen, dass in wenigen Augenblicken die Welt eine andere ist. Der Titel erinnert ebenso an Masereels Stundenbuch wie an die illuminierten christlichen Andachtsbücher des 14./15. Jahrhunderts. Gleichfalls in der sozialkritischen Tradition der Klassiker steht der Brite Neil Bousfield mit Walking Shadows, der Geschichte der Verelendung einer Arbeiterfamilie in 219 Holzschnitten,[31] während sein Landsmann Dave McKean mit Celluloid einen 200 Seiten währenden erotischen Bilderstrom komponiert, in dem seine Erfahrung als avantgardistischer Comic-Künstler mit der Erzählweise des Bildromans verschmilzt.[32]

Die Disziplin des stillen Erzählens in der grafischen Literatur der letzten zwei Jahrzehnte lässt sich kategorial kaum fassen, zu weit liegen bei den einzelnen Werken Themen, Intention und Ästhetik auseinander.[33] Pierre Schelle etwa eröffnet das frische Jahrtausend in Frankreich in einem konventionellen, naturalistischen Schwarz-weiß-Stil mit einer Vorführung der Chaostheorie, quasi nach dem Lehrbuch beginnend irgendwo in Asien mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings.[34] Nicolas de Crécy dagegen konfrontiert in einem expressionistisch-surreal inszenierten, bedrohlich düsteren Big Apple einen Mörder mit einer ihm nachstellenden Kreatur.[35] In Spanien lässt José Domingo einen biederen Tokioter Büroangestellten pünktlich um 18 Uhr seine Arbeit beenden und auf seinem Nachhauseweg in ein schrilles Abenteuer laufen,[36] und in Japan verengt der Avantgardekünstler Yûichi Yokoyama, der erst seit 2000 auch Mangas zeichnet, in Voyage seine Bühne auf das Innere eines Zuges:[37] Drei sich fremde Männer besteigen den Shinkansen, suchen sich einen Platz, sehen sich um, rauchen Zigaretten, blicken aus dem Fenster und erreichen nach 195 Seiten ihr Reiseziel. Dabei wird nichts gesagt und doch viel erzählt. Auch weitere Bände gestaltet Yokoyama, dessen Stil als „neo-manga“ etikettiert wird, ohne Worte.

Große Beachtung hat der Australier Shaun Tan mit seiner Graphic Novel The Arrival erfahren, die mit Graphitstift gezeichnete Geschichte eines Emigranten, der in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft per Schiff in ein neues Land aufbricht, das sich ihm geradezu surreal präsentiert.[38] Tans Bilder wirken hyperrealistisch, doch wie durch einen Schleier betrachtet (sein Vater ist 1960 selbst von Malaysia nach Australien ausgewandert). Dabei versteht er es meisterhaft, Stimmungen und Stille zu visualisieren und so das Innenleben seines Protagonisten zu beleuchten, was dessen Schicksal verständlich und nachempfindbar macht. In Italien inszeniert Alessandro Sanna in sanften Wasserfarben nachgerade poetisch eine Flussreise auf dem Po und durch die Jahreszeiten,[39] während der Norweger Lars Fiske seinem Kollegen George Grosz mit einer stilistisch selbst in der Tradition des Dadaismus stehenden Biografie nachspürt.[40] Jedes dieser Werke ist ein Paradigma dafür, was Bilder ohne Beihilfe von Schrift zu bieten vermögen, und wie unterschiedlich und individuell Künstler auf der ganzen Welt inzwischen mit ihnen verfahren.

Skurrilste Ideen eingeschlossen. Marc-Antoine Mathieu, einer der hintergründigsten Comic-Künstler in Frankreich, nennt 2011 seinen Ausflug auf das Terrain der Pantomime 3‘‘: „3 Sekunden. So lange braucht das Licht, um 900.000 km zurückzulegen, ein Projektil, um 1 km weit zu fliegen, ein Atemzug, eine Explosion, eine SMS.“ Wie all das in drei Sekunden zusammenfindet (und was es zu bedeuten hat) erzählt Mathieu auf knapp siebzig quadratischen Seiten mit jeweils neun gleichgroßen, von harten Schwarz-weiß-Kontrasten bestimmten Panels, gibt jedoch die Auflösung nicht ohne Weiteres preis: „Es ist am Leser, dieses schwindelerregende Puzzle zusammenzusetzen.“[41]

Dem macht es der Belgier Grégory Panaccione leichter und lädt ihn als stillen Zuschauer ein zu einem Tennisspiel – das sich dann allerdings über nahezu 300 Seiten zieht, den einen oder anderen Zwischenfall inklusive.[42] Knapp dagegen die textlosen Shortstorys des Norwegers Jason (d.i. John Arne Sæterøy) um die melancholisch-menschlichen Tierfiguren, die auch in seinen längeren, nicht stummen Erzählungen auftreten. Der Band, der sie 2002 versammelt, trägt ganz pragmatisch den Titel Sshhhh!.[43]

„Stumme“ Comics mögen nach wie vor eine Ausnahme sein, doch nehmen sie als eigene Disziplin in der Neunten Kunst inzwischen einen nicht länger marginalen Platz ein. Der Verzicht auf Text bedeutet nicht etwa eine Einschränkung, sondern vielmehr die Emanzipation des Bildes, das eine neue globale Sprache entwickelt; die Themenwelt des rein grafischen Erzählens ist längst grenzenlos. Sie reicht von Klassiker-Adaptionen (Frank Flöthmanns Shakespeare ohne Worte, 2016) über die Heimwerkeranleitung (Roy Doty: Wordless Workshop, 1953 bis 1989 in Popular Science) bis zum Porno (Dale Lazarot: Sticky, USA 2006). Doch auch der humorvolle One-Pager zählt nach wie vor zum Repertoire, in der belgischen Jugendzeitschrift Spirou etwa Midams in der Welt der Videospiele angesiedelte Serie Game Over (ab 2004), die es inzwischen auf stattliche 26 Alben bringt. Lewis Trondheim liefert in diesem Genre das i-Tüpfelchen mit Mister O (2002) und Mister I (2005), zwei Bänden mit je 30 einseitigen Pantomimen aus jeweils 60 gleichgroßen Panels, oft mit sich kaum verändernden Hintergründen, in denen er mit zeitgemäßer Frische und Frechheit ein und denselben Gag in immer neuen Variationen exerziert, bei Mister O dessen ständig scheiternde Unternehmungen, eine Schlucht zu überwinden, bei Mister I dessen Bemühungen, etwas Nahrhaftes zu ergattern.

1896 überkam Richard F. Outcault ein Einfall, mit dem er eine neue Gattung geprägt hat, die, wie die Fotografie und die erste Filmvorführung der Lumières im Jahr zuvor in Paris, zum Zündstoff des Bildzeitalters wird. Hundert Jahre später beginnen weltweit vermehrt Künstler, die Sprechblase über Bord zu werfen und zu erproben, was sich ausdrücken lässt mit von ihnen befreiten Bildern. Betrachtet man die bisherigen Resultate, lässt sich nur staunen.

Allerdings könnte man sich ebenso daran erinnern, dass in der seinerzeit um sich greifenden neuen Epoche die Pantomime zugleich auch die Aufkündigung einer lästig gewordenen Liaison mit der Schrift markiert – was überhaupt erst Luft schuf für Outcaults Coup, gezeichnete Figuren eigenmächtig plaudern zu lassen, frei von der Leber weg. Vielleicht ist es diesmal nicht anders und der Comic ohne Worte im digitalen Zeitalter ebenfalls das Vorspiel für etwas abermals Neues, das noch vor uns liegt.


[1] Vgl. Blackbeard, Bill (Hg.): R.F. Outcault‘s The Yellow Kid. A Celebration of the Kid Who Started the Comics, Northampton MA 1995; Balzer, Jens u. Lambert Wiesing: Outcault. Die Erfindung des Comic, Bochum/Essen 2010

[2] Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle: Werkstatt für Potenzielle Literatur) ist ein 1960 gegründeter Kreis von Autoren, die sich bewusst formale Zwänge auferlegen; bekanntes Beispiel ist Georges Perecs Roman La Disparition (Paris 1969), der auf weit über 300 Seiten auf den Buchstaben „e“ verzichtet. 1992 gründen französische Comic-Zeichner die Gruppe Oubapo (Ouvroir de bande dessinée potentielle).

[3] Die Arbeiten Caran d’Aches (d.i. Emmanuel Poiré), die vornehmlich in Le Caricature erscheinen, erfreuen sich größter Beliebtheit. Noch 1924 benennt Arnold Schweitzer sein in Genf gegründetes Unternehmen, heute der letzte Hersteller von Schreib- und Malutensilien in der Schweiz, nach dem Zeichner. Im Französischen ist „ache“ der Sellerie, doch auf Russisch (Poiré wurde 1858 oder 1859 in Moskau geboren, wohin sein Großvater 1812 im Zuge von Napoleons Russlandfeldzug geraten war) bedeutet das phonetisch entsprechende „Каранда́ш“ Bleistift. Etliche Zeichner legen sich zu dieser Zeit einprägsame Pseudonyme zu, eine Tradition, die später in Frankreich und Belgien zahlreiche Comic-Künstler (Hergé, Peyo, Morris, Jijé …) fortsetzen.

[4] Es ließe sich weit tiefer in die Vergangenheit tauchen, sequenzielle Bilderzählungen ohne begleitende Worte, die aber jeweils Einzelphänomene bleiben, finden sich bereits im Spätmittelalter, wobei der Betrachter zum Verständnis in den meisten Fällen eines gespeicherten (religiösen oder historischen) Kontextes bedarf.

[5] Buschs Geschichte erscheint im Dezember 1862 in den Fliegenden Blättern und 1865, um drei Bilder gekürzt, als Münchener Bilderbogen 390. Bezüglich der grafischen Gestaltung ist Busch seiner Zeit voraus und hätte gerne häufiger auf Worte verzichtet, doch sein Verleger Kaspar Braun drängt auf Verstexte, da er meint, wie Buschs Neffe Adolf Nöldeke 1909 berichtet, „dass die meisten Menschen Bilder nicht zu lesen verstünden; außerdem ließen sich Bilder nicht zitieren“. Häufig werden Texte erst nachträglich hinzugefügt, obwohl die Bilder sie nicht benötigen. Seit 1984 wird auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlagen alle zwei Jahre in mehreren Kategorien der Max-und-Moritz-Preis verliehen.

[6] „Schönes Beispiel dafür, dass das Symbol nicht aus der Sprache, sondern die Redewendungen vom Symbol abstammen“, notiert Ferenci: Der namenlose Junge muss auf dieser Seite „schiffen“ und pinkelt, während das Kindermädchen daneben steht, an einen Baum, sein Strahl jedoch wird zum Strom, der immer mächtiger wird. Allerdings gibt es im Ungarischen kein Wort wie „schiffen“, „doch denkt sich der Zeichner den Urintraum voll mit Schiffen“. „Die illustrierten Träume sind wunderbar“, schreibt Freud am 11. 5. 1911 zurück nach Budapest. „Der Künstler versteht Träume um vieles besser als Bleuler [Schweizer Psychiater], Havelock Ellis [britischer Sexualforscher] u.a.“

[7] Dabei missinterpretiert Freud, in Unkenntnis weiterer Folgen und somit der Serienlogik, den Traum des Jungen, indem er ihn in seinem Kapitel „Zur Harnsymbolik“ fälschlicherweise dem Kindermädchen zuschreibt: „Der Traum vertauscht aber die Situation im Schlafzimmer mit der eines Spazierganges […] Der Knabe, der sich nicht beachtet findet, brüllt immer kräftiger. Je dringender er das Erwachen […] seiner Bonne fordert, desto mehr steigert deren Traum seine Versicherung, dass alles in Ordnung sei und sie nicht erwachen brauche. Er übersetzt dabei den Weckreiz in die Dimension des Symbols.“ Für den Betrachter allein nur dieser Episode liegt Freuds Interpretation durchaus nahe, da sich auf Hontis letztem Bild die „Bonne“ im Vorder- und der Junge im Hintergrund befinden und somit die zentrale Person hier das Mädchen zu sein scheint.

[8] In den USA wird Adamson so populär, dass der Nachschub aus Schweden bald nicht mehr reicht, sodass Henry Thol und Jeff Hayes von 1935 bis 1953 zudem eine amerikanische Version mit dem Titel Adamson’s Adventures zeichnen. In Deutschland erscheinen zwischen 1924 und 1928 sechs erste Adamson-Bände. In Schweden wird nach Adamson 1965 ein künftig jährlich von der Svenska Serieakademien verliehener Comic-Preis benannt.

[9] Vgl. Mullaney, Dean (Hg.): Cartoon Monarch. Otto Soglow and The Little King, San Diego CA 2012. Auf Soglows reduzierte Zeichenkunst berufen sich in den 1990er-Jahren etliche Künstler wie Daniel Clowes oder Chris Ware als wichtigen Einfluss auf ihre Stilistik.

[10] Von 1946 bis 1961 erscheint Henry zudem auch als Comic-Heft, in dem das Prinzip der Pantomime allerdings aufgegeben wird: Henry, den man bislang für tatsächlich stumm halten konnte (häufig fehlt ihm auf Anderssons Zeichnungen sogar der Mund), kommuniziert nun ganz wie seine Altersgenossen.

[11] In den 1920er-Jahren entsteht hier vielmehr das Phänomen, dass die Zeichnungen zwar weiterhin von längeren Erzähltexten darunter begleitet werden, auf den Bildern selbst aber zusätzliche Dialoge in Form von Sprechblasen stattfinden.

[12] Ursprünglich entstand seine Figur für das heute als stilprägend für einen neuen Buchtyp geltende proletarische Jugendbuch Die rote Republik (Berlin 1929). Eine weitere stumme Serie, diesmal um einen pfiffigen Jungen mit Schiebermütze, zeichnet Sligte 1949-1956 mit Bertje Branie.

[13] Daix‘ Professeur Nimbus-Strips aus den Jahren 1934-1940 für Le Journal sind einsehbar in der Internetbibliothek Gallica-bnf: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7630362t/f4.item

[14] Seine mit Prosatext untertitelte Serie Tripje en Liezebertha beendet Backer „freiwillig“, als die Besatzer seine Figuren 1941 zu Propagandazwecken für den „Nationale Jeugdstorm“ einsetzen wollen. Beim Bombardement von Rotterdam sind im Mai 1940 nahezu alle Originale seiner Strips verbrannt.

[15] Mit einer eigenen radio show bekommt Bakers Figur 1944 eine Stimme wie ebenso in den comic books, die der Verlag Harvey Comics 1949-1982 mit insgesamt knapp 300 Heften publiziert. Der wortlose Strip erscheint bis 1958; im Jahr zuvor hat der Trottel in der Verkörperung von Jerry Lewis auch die Leinwand erobert.

[16] Masereels erste Anti-Kriegs-Zeichnungen erscheinen 1915 in La Grande Guerre par les artistes.

[17] Masereel, Frans: Vorwort zu ders.: Du Noir au Blanc/Von Schwarz zu Weiß, Zürich 1939

[18] Eine Buchausgabe, herausgegeben vom Verlag Neue Galerie in München, erscheint erst 1972.

[19] Moreau, Clément: Vorwort zu Nacht über Deutschland, Verlag der Neuen Münchner Galerie, München 1976

[20] „Tijuna bibles“, so benannt, weil sie angeblich in Mexiko fabriziert werden, sind zumeist achtseitige Hefte, die in den 1920er/30er-Jahren in den USA äußerst populär sind und unter dem Ladentisch gehandelt werden, und in denen sich bekannte Comic-Helden ohne jedes Tabu in acht Akten sexuell austoben.

[21] In den folgenden Ausgaben von Métal Hurlant erscheinen vier weitere Storys in gleicher Manier, bei denen Mœbius eine Demontage sogar auch des Titels betreibt und die Episoden mit Arzack, Harzack etc. überschreibt.

[22] Eco, Umberto: Crepax, Syntax, Zeit, in: Guido Crepax: Valentina, Berlin 2015

[23] Zitiert nach Wikipedia, dort ohne Quelle. Längst treibt sich Tanakas Baby auch in Videospielen sowie einer Anime-Fernsehserie herum.

[24] Drei weitere Bände folgen 1997, 2009 und 2015 und erwecken den Eindruck historischer Authentizität; tatsächlich jedoch lässt Delgado Seite an Seite Arten auftreten, die nicht der gleichen Epoche entstammen.

[25] Bereits Ende 1983 hat Marvel mit der Ausgabe 21 der Kriegsserie G.I. Joe: A Real American Hero ein erstes Comic-Heft vollständig ohne Sprechblasen oder andere Texte vorgelegt – inhaltlich besteht dafür kein ersichtlicher Grund, doch der Effekt macht von sich reden und belebt die Nachfrage.

[26] Der Begriff „Graphic Novel“ ist nicht präzise definiert und wird höchst unterschiedlich benutzt, manchmal nur hinsichtlich des Buchformats, dann wieder für in sich abgeschlossene, nicht auf Fortsetzung bedachte Erzählungen oder schlicht in inhaltlicher Abgrenzung zum Mainstream. Will Eisner, der den Begriff 1978 im Vorwort seiner Erzählung Ein Vertrag mit Gott erstmals umschrieb, sieht die Graphic Novel als eine in der Form freie grafische Erzählung mit einem „relevant subject“, einem bedeutungsvollen Thema. Für Art Spiegelman hingegen ist sie schlicht „ein Comic, für den man ein Lesezeichen benötigt“.

[27] Als limitierte Mappen, die sich nicht wie die Werke von Masereel, Moreau u.a. an ein möglichst breites Publikum wenden, sondern an Kunstsammler, hatten in den 1930er-Jahren bereits auch Künstler wie Otto Dix, George Grosz oder Käthe Kollwitz ihre Arbeiten veröffentlicht.

[28] Drooker, Eric: Flood!, Milwaukie OR 1993; deutsch: Flut!, Avant-Verlag, Berlin 2013. Mit Blood Song lässt Drooker 2002 eine weitere „wordless graphic novel“ folgen.

[29] Berg, Stefan: Let that Bad Air Out: Buddy Bolden’s Last Parade, Erin ON 2007

[30] Walker, George A.: Book of Hours, Erin ON 2010

[31] Bousfield, Neil: Walking Shadows, San Francisco 2010. 2019 hat in Plymouth das auf Bousfields Vorlage basierende Theaterstück Shadows Premiere, als Pantomime.

[32] McKean, Dave: Celluloid, Paris 2010

[33] Vgl. Grünewald, Dietrich: Nur Bilder zeigen, was geschieht. Textfreie Bildromane, in: Korte, Hermann u. Andreas C. Knigge (Hg.): Text+Kritik-Sonderband „Graphic Novels“, München 2017. Vor allem in der Independant-Szene sind – von Ulf K. in Deutschland bis Sumi Rho aus Südkorea – in den vergangenen Jahren zahlreiche textfreie, teils experimentelle Werke entstanden. Einen (weder vollständigen noch bzgl. der Angaben zuverlässigen) Überblick bietet die Internetseite Comics without Words: https://tapvd.home.xs4all.nl/SWW_Books_v01.html

[34] Schelle, Pierre: La théorie du chaos, Paris 2001

[35] de Crécy, Nicolas: Prosopopus, Charleroi 2009; deutsch: Prosopopus, Reprodukt, Berlin 2010

[36] Domingo, José: Adventures of a Japanese Businessman, Barcelona 2011

[37] Yokoyama, Yûichi: Voyage, Montreuil 2005

[38] Tan, Shaun: The Arrival, Melbourne 2006; deutsch: Ein neues Land, Carlsen, Hamburg 2008

[39] Sanna, Alessandro: The River, Brooklyn NY 2013; deutsch: Der Fluss, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2014

[40] Fiske, Lars: Grosz Berlin New York, Oslo 2019; deutsch: Grosz Berlin New York, Avant-Verlag, Berlin 2019

[41] Mathieu, Marc-Antoine: 3‘‘, Paris 2011; deutsch: 3 Sekunden, Reprodukt, Berlin 2012

[42] Panaccione, Grégory: Match, Paris 2014. Noch im gleichen Jahr legt Panaccione zusammen mit Wilfrid Lupano als Autor mit Un océan d’amour einen weiteren Band ohne Worte vor.

[43] Jason: Sshhhh!, Seattle WA 2002; deutsch: Psssst!, Schwarzer Turm, Hünfeld 2003

(Vater und Sohn in Amerika. e.o. plauen trifft Frank Kings Gasoline Alley, Katalog der e.o. plauen Galerie 2023)

Zurück zum Archiv

Cookie Consent mit Real Cookie Banner