AUF DEN SPUREN EINER MAGISCHEN ASSOZIATION
Von Andreas C. Knigge
Ich steuere auf ein Ziel zu, das ich zwar nicht kenne, aber ich bin unterwegs.
Mœbius
Im letzten und längsten Kapitel seines im reinsten Wortsinne fabelhaften Romans Wo ein Vogel am schönsten singt entlang der Lebensgeschichten seiner Vorfahren erzählt Alejandro Jodorowsky davon, wie er seine Eltern auserwählt, und von den erheblichen Schwierigkeiten, Sara Felicidad und Jaime zusammenzubringen, um ihn schlussendlich zu zeugen. Jaime Jodorowsky zieht in den 1920er-Jahren mit einem Wanderzirkus durch Chiles Süden, während Sara Felicidad Prullansky zurückgezogen in einer Wüstenkapelle ganz im Norden des Landes lebt. »Zwischen Süd- und Nordspitze lagen über viertausend Kilometer«, merkt der Alejandro des Romans an. »Hätte ich 1919 nicht beschlossen, als Grundbestandteile meines künftigen Körpers diese beiden Menschen mit ihrem so anderen, ja gegensätzlichem Charakter zu wählen, so hätten sie nie zueinandergefunden.« Und dann fügt er hinzu: »Ich weiß nicht, ob die Erinnerungen an die Zeit vor meiner Geburt der Wirklichkeit entsprechen oder reine Träume sind. Doch das ist unwichtig. Die Wirklichkeit ist ohnehin die allmähliche Umwandlung der Träume; es gibt keine andere Welt als die Traumwelt.«
Fast mag es scheinen, als seien ähnliche Mechanismen wie bei der Zusammenführung seiner Traumeltern auch tätig gewesen, als die Wege von Jodorowsky und Mœbius sich kreuzen, an einem Vormittag im März 1975 in Paris, in einer denkbar trivialen Situation, »Zufall«, wie man so sagt: »Ich traf Jodorowsky im Büro einer Filmgesellschaft, wo ich ein Plakat ablieferte«, erinnert sich Mœbius später. »Er sah mich und meinte: ›Ah, Giraud! Ich kenne Ihre Comics gut. Wollen Sie an meinem Film Dune mitarbeiten?‹« Sein Pseudonym hat Jean Giraud erst kürzlich wiederbelebt, nachdem Mœbius über zehn Jahre hinweg nicht in Erscheinung getreten war, noch ist er vor allem »der Blueberry-Zeichner« mit dem Kürzel »Gir«. Aber gerade ist die erste Ausgabe von Métal Hurlant erschienen, bald wird Mœbius in aller Munde sein und den Aufbruch in eine neue Dimension der Comics signalisieren, den Beginn einer neuen Epoche.
Zwischen den Männern funkt es augenblicklich. Was sie verbindet ist der Hunger nach künstlerischer Herausforderung und dem Überschreiten von Grenzen, aber auch die Suche nach sich selbst, eine esoterische Suche nach der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit (oder dem, was man gemeinhin dafür hält), durchaus auch mittels Drogen. Auf Blueberry war Jodorowsky wenige Tage zuvor gestoßen und hatte in dessen Zeichner einen »spirituellen Krieger« ausgemacht: »Dieser Kerl ist meine Kamera! Diesen Menschen brauche ich! Wo finde ich ihn? Ein paar Tage später suchte ich meinen Agenten auf … und dort war er, einfach so: ›Ich bin Mœbius, wenn ich Science-Fiction zeichne, bin ich nicht Giraud, sondern Mœbius.‹ Ich sah ihn an und sagte: ›Sie sind mein Mann, kommen Sie mit …‹«
Auch Dune ist ein Projekt, das in neue Dimensionen vorstoßen und alles Bisherige sprengen soll. 14, vielleicht 16 Stunden lang werden soll die Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Epos über den Konflikt zwischen Atreides und Harkonnen um den Abbau der bewusstseinserweiternden Droge Spice auf dem Wüstenplaneten Dune; bei der Besetzung sollen Mick Jagger, Orson Welles sowie als Imperator des Universums Salvador Dalí dabei sein, Pink Floyd und Magma den Soundtrack liefern.
Mœbius erarbeitet ein Storyboard, am Ende rund dreitausend Zeichnungen, im engen Kontakt mit Jodorowsky. Der engagiert zudem Chris Foss für das Design der Raumschiffe, Dan O’Bannon für die Spezialeffekte und H.R. Giger für den Palast der Harkonnen (Gigers Entwürfe fließen 1977 in dessen Necronomicon ein, das dann maßgeblich Ridley Scotts Alien beeinflussen soll). Doch die veranschlagten Produktionskosten in Höhe von 15 Millionen Dollar lassen ein Studio in Hollywood nach dem anderen zurückzucken, Jodorowsky muss aufgeben, Dune ist gescheitert – und wird bald zum Mythos und einflussreichsten Film, der nie gedreht wurde.
Mœbius und Jodorowsky kann der Misserfolg nicht trennen, sie haben sich gefunden. 1978 arbeiten sie erneut zusammen, nun an Die Augen der Katze, einem kleinen Schwarz-weiß-Album, das der Verlag Humanoïdes Associes als Give-away einsetzen will: »Ich schlug Jean eine kurze Geschichte um einen blinden Jungen vor, die aus fünf Szenen auf fünf Seiten bestand. Mœbius gefiel die Idee, doch er meinte, die Sache sei zu kurz. Ich sagte: ›Wir müssen uns ja nicht an eine klassische Comic-Form halten. Wir erzählen das als Abfolge wunderschöner, ganzseitiger Bilder.‹« Die Auflage von fünftausend Exemplaren ist fix vergriffen, Die Augen der Katze bald eine gesuchte Rarität (bis es 1991 zu einer ersten Neuausgabe kommt).
1980 dann erscheint mit Der schwarze Incal in der Dezember-Ausgabe von Métal Hurlant der erste Teil ihrer gemeinsamen Comic-Odyssee John Difool, in die zahlreiche Ideen und Entwürfe für Dune einfließen. Die Story um den glücklosen Privatdetektiv der Klasse R auf dem Planeten Terra 21 in der Humano-Galaxie, dem eines Tages ein verendender Mutant eine leuchtende Pyramide zusteckt, den Incal, und der daraufhin zum quer durch die Galaxie Gejagten wird, ist aus dem Stand ein spektakulärer Erfolg.
Obwohl er als Autor in Europa erst jetzt wahrgenommen wird,ist John Difool keineswegs Jodorowskys Comic-Premiere. Schon 1966, als er in Mexico City lebt, hat er zusammen mit dem Zeichner Manuel Moro die Serie Anibal 5 veröffentlicht, die nach sechs Ausgaben abbricht, als sich in dessen Titelheld, einem Vorläufer des Terminators, der mexikanische Schauspieler Jorge Rivero wiedererkennt. »Erst jetzt las man im Verlag den Comic, sah, was für verrücktes Zeug ich da machte, und stellte das Heft unverzüglich ein.« Im Jahr darauf folgen in der farbigen Wochenendbeilage des Heraldo de México seine orphischen Fabulas pánicas, kurze, jeweils für sich stehende skurril-bizarre Episoden, die er bis 1973 nicht nur schreibt, sondern ebenfalls zeichnet – mit einer avantgardistischen Kühnheit, wie sie soeben auch in Frankreich Künstler wie Guy Peellaert erstmals wagen.
Der nun in Paris lebende, beim Start der Incal-Serie 51-jährige Chilene hat sich längst in den unterschiedlichsten Disziplinen profiliert. Erste Gedichte veröffentlicht er mit 16, gründet 1947 die Schauspielergruppe Teatro Mimico, 1953 schreibt er sein erstes Theaterstück. Dann vier Jahre darauf der erste Kurzfilm, sein surrealer Anti-Western El Topo (1970) sowie der mystizistische LSD-Trip Montana Sacra (1973) erlangen Kultstatus. Und nun also abermals Comics, die sich gerade von ihrem bisherigen Dasein als Kinder- und Jugendliteratur befreien und ein neues Publikum erobern – alles scheint derzeit möglich in der »neunten Kunst«, Jodorowsky sieht sich am richtigen Platz.
1983 beginnt er, parallel zu John Difool, eine zweite Reihe mit Arno (d.i. Arnaud Dombre), Alef-Thau, im Jahr darauf gefolgt von Die Saga von Alandor mit Silvio Cadelo sowie 1988 mit Georges Bess Der weiße Lama. Im gleichen Jahr endet nach sechs Bänden John Difool, doch schon bald kommt es zu einer weiteren Kooperation. Jodorowsky zählt in Frankreich inzwischen zu den gefragtesten Comic-Autoren; allein 1992 startet er drei neue Projekte, Die Meta-Barone mit Juan Giménez, Mondgesicht mit François Boucq – und mit Mœbius die Gesellschaftssatire Lust & Glaube, eine Komödie mit sakralem Konnotat.
Girauds künstlerische Entwicklung verläuft weit geradliniger als die des Lebenskünstlers Jodorowsky. Zunächst besucht er in Paris die École supérieure des arts appliqués Duperré, 1961 wird er die rechte Hand von Jijé (d.i. Joseph Gillain), einem Altmeister der bande dessinée, bei dessen Westernserie Jerry Spring. Ende 1963 schließlich startet er in dem Magazin Pilote einen eigenen Western, Leutnant Blueberry, geschrieben von Jean-Michel Charlier anfangs noch unter dem Titel Fort Navajo, der sich rasch als Meilenstein des Genres entpuppt und neue Maßstäbe setzt. Bereits wenige Monate zuvor hatte er in dem satirischen Hara-Kiri aber auch einige Storys veröffentlicht, die auf jede erwartbare Erzähllogik pfeifen, inszeniert mit fahrigem Strich und schwarz-weiß. Signiert sind sie mit »Mœbius«, einem Künstlernamen, zu dem ihn der Mathematiker August Ferdinand Möbius (1790-1868) inspiriert hat, bei dessen »Möbiusband« Vorder- und Rückseite eines Papierstreifens zu ein und derselben Fläche werden, indem man eins der Enden vor dem Zusammenfügen zu einem Ring um 180 Grad dreht.
Die Arbeit an Blueberry jedoch lässt ihm jetzt wenig Zeit für anderes. Erst 1973 erscheint, nun ebenfalls in Pilote, mit Die Umleitung erneut eine kurze Story, »die von Jean Giraud mit der Feder aufgezeichnet wurde bei verwirrendem und von ihm selbst verschuldeten Fehlen eines Szenarios«, wie es eingangs heißt. Darin tritt er selbst in Erscheinung, als langhaariger Erzähler am Zeichentisch ebenso, wie den albtraumhaften Ereignissen seiner Geschichte schutzlos ausgeliefert (ganz wie es im Jahr zuvor in The People’s Comics Robert Crumb schon einmal mit The Confessions of R. Crumb exerziert hatte). Von nun an stecken zwei gänzlich verschiedene, ja geradezu widerstreitende Zeichner in ein und derselben Haut.
Mœbius gerät Anfang 1975 ins Scheinwerferlicht, als Métal Hurlant debütiert, zu dessen Begründern er zählt. Höhepunkt der ersten Ausgabe ist seine achtseitige, gänzlich textlose Story Arzach, in der in einem wie vom Unterbewussten eingegeben wirkendendem Bilderrausch ein mediäval gewandeter Krieger auf dem Rücken eines weißen Pterosauria eine archaische Welt in psychedelischen Farben überfliegt. Einen Sinn sucht man darin vergebens, doch die surrealen Szenen fluten ins kollektive Bildgedächtnis. Mit Die hermetische Garage des Jerry Cornelius dann setzt er im Jahr darauf die Konventionen der Gattung vollends außer Kraft, indem er das Geschehen sich nach dem Prinzip der écriture automatique ungeplant von einer Szene und Folge zur nächsten entwickeln lässt; die »hermetische Garage« versinnbildlicht dabei einen gegen das Vorhersehbare und den gespeicherten Reflex abgeschirmten Raum, in dem Assoziationen sich nach einer rein intuitiven Logik verketten – was die »Geschichte« letztlich uninterpretierbar macht.
Bald ist von »Mister Mœbius et Docteur Gir« die Rede, seiner Autobiografie gibt er 1999 den Titel Histoire de mon double – Geschichte meines Doppelgängers: auf dem Umschlag ein Selbstporträt, auf dem er durch ein zu einer Acht gedrehtes Möbiusband schaut wie durch eine Brille. Doch wen man auch vor sich hat, Mœbius oder Gir, zu bewundern ist in jedem Fall eine erstaunliche grafische Meisterschaft. Blueberry mit Charlier ist ein chef d‘œuvre des klassischen frankobelgischen Abenteuer-Comics nach dessen bewährten Mechanismen und Regeln (selbst wenn Mœbius zuweilen auch hier stilistisch Spuren hinterlässt), letztlich also eine Auftragsarbeit zum Zwecke des Broterwerbs, die Jean Giraud erledigt, mit »Gir« zeichnet und bei Pilote Woche für Woche pünktlich abliefert.
Auf der anderen Seite Mœbius, der autonome Künstler, der allein seiner Intuition folgt und sich für Projekte frei entscheidet. Womit auch seine Stilistik sich ständig (ver)wandelt und bald eine beeindruckende Palette aufweist: von kruden, von MAD und den amerikanischen comix beeinflussten Storys – darunter legendäre Episoden wie Albtraum in Weiß, Zwischenlandung auf Pharagonescia oder Der irre Ständer – über die pralle Farbopulenz bei Arzach oder luftig filigrane Linienlabyrinthe in der Hermetischen Garage bis zur zeichentrickhaften Science-Fiction-Ästhetik der Sternenwanderer. Das somit Unfassbare seines Alter Egos steigert er zuweilen noch, indem er Variationen seiner Künstlernamen verwendet wie »Gyr«, »J.G. Mœbius« oder »Mœb«.
John Difool allerdings scheint zwischen diesen Welten zu schweben, was vor allem, wenn auch nicht allein, in dessen erzählerischer Stringenz begründet liegt. Und tatsächlich: Die Titel der Alben – Der schwarze Incal/Der Incal des Lichts, In tiefsten Tiefen/In höchsten Höhen, In weiter Ferne/In nächster Nähe – manifestieren zwar Antagonismen, doch als Difool am Ende des letzten Bandes in einen endlos scheinenden Schacht der Zukunftsstadt stürzt wie bereits schon einmal ganz zu Anfang, schließt sich ein Kreis zum Möbiusband, Mœbius und Gir, die beiden so gegensätzlichen Artisten in einer Hülle, erleben hier ihre größte Annäherung.
Das gilt auch für Lust & Glaube: Die Layouts und Panelabfolgen sind von eher klassischer Schule, expandierende Universen sieht das Szenario nicht vor – vor allem sind es die Dialoge, die das Geschehen treiben, ein deutliches Zeichen dafür, dass hier der Autor die Hand am Steuer hat und weniger der Bilderzähler. Und so debattieren die Charaktere, wie es Menschen in urbanen Räumen tun, in der Wohnung, im Büro, im Auto auf dem Weg von hier nach dort. In den Dekors und Hintergründen zeigt sich die Perfektion des naturalistisch arbeitenden Gir, doch vor allem bei den Gesten und Gesichtern ist es Mœbius: »Die Idee war eine Art moderne Heiligenlegende, wie sie Alejandros und meiner Vorstellung entspricht. Aber das war gar nicht so leicht, denn es erforderte das Hinzuziehen etlicher Quellen wie der Bibel und den Evangelien. Recht ambitioniert, so etwas hat es in der Form noch nicht gegeben.«
Das Verhältnis zwischen Elisabeth und dem Hochschullehrer Alain Mangel wirft einen illustren Blick auf das universitäre Leben linksliberaler Prägung in Paris, endet dann allerdings abrupt mit Mangels Entführung. »Und wo haben sie in dieser verdammten Kiste die Toilette?«, fragt sich der Philosophie-Professor noch am Ende des zweiten Bandes, hoch über den Wolken. Der Antwort muss er fünf lange Jahre harren, erst 1998 erscheint der dritte und letzte Teil. Fünf Jahre, in denen Mœbius‘ Stil sich abermals gewandelt hat, eine neue Leichtigkeit entfaltet und gleichzeitig das Finale verdichtet.
Fünf Jahre, in denen aber trotz der Unterbrechung unerwartet noch ein anderes gemeinsames Projekt entsteht, Des Engels Kralle (1994), ein lyrischer, großzügig illustrierter Prosatext, von Jodorowsky schlicht ein »Pornowerk« genannt: »Ziel war es zu zeigen, dass sich selbst aus den Elementen des Hardcore-Pornos und Sadomasochismus Kunst schaffen lässt.« Und sicher einmal mehr auch die Provokation.
Mœbius ist ein Ausnahmekünstler, man könnte sagen: ein Jahrhundertkünstler. Auf welchem Gebiet er auch umtriebig ist, welcher Herausforderung er sich stellt, es sitzt jeder Strich, jedes Panel atmet Bewegung, jedes Gesicht reflektiert präzise den Augenblick. Und dabei entstehen seine Figuren und Landschaften mit einer Leichtigkeit, die nur verblüffen kann, die Zeichnungen scheinen ohne jede Anspannung, ja nicht einmal ein Überlegen förmlich aus ihm herauszufließen. In Pierre Christins unlängst erschienener Autobiografie Ost-West gibt es eine ganzseitige Szene von Philippe Aymond, in der Christin und Jean-Claude Mézières den jungen Giraud in der Metrostation Saint-Mandé treffen. Als er seine Mappe öffnet, um seine Zeichnungen zu zeigen, schießt wie aus einem Scheinwerfer daraus ein Lichtstrahl hervor, der alles um sie herum illuminiert.
Kaum anders mag es gut zwei Jahrzehnte später Ridley Scott ergangen sein, als ihm Dan O’Bannon die 1976 in Métal Hurlant in zwei Teilen erschienene, von ihm verfasste Story The Long Tomorrow zeigt, heute ein Klassiker: Auf den acht Seiten der ersten Folge schlittert der Privatdetektiv Pete Club durch eine Zukunftsmetropole, wie er sie sich exakt so für Blade Runner denkt. Scott bietet Mœbius an, mitzuarbeiten an seinem Film, doch der muss absagen, er sitzt gerade an René Laloux‘ Zeichentrickfilm Herrscher der Zeit.
Wie für Jodorowsky die Comics, so ist für Mœbius inzwischen der Film zum zweiten Standbein geworden. Begonnen hatte es verzagt 1973 mit der Gestaltung einiger Kinoplakate, nach der vergeblichen Arbeit an Dune entwirft er 1979 die Raumanzüge in Alien und fertigt 1981 Storyboards für Steven Lisbergers Disney-Produktion Tron. 1984 siedelt er sogar zeitweise von Paris nach Los Angeles über, um an Masters of the Universe, Willow und Abyss mitzuarbeiten. Weitere Projekte folgen, und am 30. Dezember 2005 schließlich findet in Cannes die Erstaufführung eines in Hongkong von Glenn Chaika digital generierten 3D-Films statt, dessen Story Mœbius entwickelt hat: Thru the Moebius Strip, die Geschichte des Physikers Simon Weir, den ein Raum-Zeit-Portal in eine andere Welt katapultiert, aus der er sich selbst nicht zu erlösen vermag.
Mœbius alias Jean Giraud war zeit seines Lebens in den unterschiedlichsten Welten unterwegs, und an Drangsal hat es dabei kaum gemangelt: Als er drei Jahre alt ist, 1941, lassen sich die Eltern scheiden, er wächst bei den Großeltern mütterlicherseits auf, dann Internat. 1955 besucht er die nach Mexiko ausgewanderte Mutter, die er stark vermisst, bleibt acht Monate (wobei er die Magie der Wüste entdeckt, die später wie ein roter Faden sein Werk durchzieht), anschließend 27 Monate Militärdienst in Deutschland und Algerien. Mit 29 heiratet er, zwei Kinder, 1988 die Scheidung; die überwiegende Zeit seiner ersten Ehe ist er Anhänger der Ufo-Sekte Ios, von der er sich jetzt ebenfalls lossagt (mit seiner Familie hat er längere Zeit in deren Landkommune gelebt und war ihr 1983 sogar nach Tahiti gefolgt). Dann 1989 der Tod Charliers, inmitten der Arbeit an dem Blueberry-Band Arizona Love, nach dem er sich in Guy-Claude Burgers »Instinktotherapie« flüchtet und deren Rohkost-Flausen in seinem Sternenwanderer-Zyklus huldigt. Bald wird das zur Projektionsfläche für die Interpretation seiner oppositären schöpferischen Naturelle als Ausdruck schizophrener Persönlichkeitsspaltung, die Mœbius selbst, etwa in Interviews, freimütig nährt: Mit seiner Person treibt er fortan das gleiche Spiel wie mit seinen künstlerischen Identitäten.
Jean Giraud war beständig auf der Suche nach einem »Meister«, einer Vaterfigur. Der erste, der in diese Rolle trat, war Jijé, bei dem er sein Handwerk lernt, dann Charlier, Chefredakteur bei Pilote und einer der erfolgreichsten Autoren seiner Zeit, mit dem zusammen er einen Bestseller kreiert wie ein Meisterstück gleichermaßen. Doch der dritte wird der wichtigste. »Jodo hat mich von Anfang an beeindruckt. Er hat die Gabe, sich in die verrücktesten Spinnereien fallen lassen zu können und schon im nächsten Moment knallhart zu verhandeln. Er ist für mich wirklich ein Meister, er hat mich mit Wahrhaftigkeit konfrontiert.«
Anders als der neun Jahre jüngere Mœbius hat Jodorowsky seinen spirituellen Weg gefunden, hält sogar Vorträge und publiziert Bücher zur Persönlichkeitsentwicklung. Vor allem den Tarot preist er in etlichen Schriften als »Schatulle, die einen spirituellen Schatz enthält«, und attestiert den Spielkarten eine »heilende Kraft«. Er legt Mœbius Eugen Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens ans Herz und führt ihn ein in die Welt des Yaqui-Schamanen Don Juan Matus: »Alejandro hat mir die Bücher Carlos Castanedas gegeben, und die Lektüre schüttelte mich ziemlich durch. Ich war regelrecht ergriffen und entdeckte ein anderes Leben, eine neue Denkweise. […] Etwas Ähnliches hatte ich nur einmal erlebt, als ich Hermann Hesses Steppenwolf las: Plötzlich konnte ich vieles in mir akzeptieren, was ich bis dahin verdrängt oder nicht ernst genommen hatte, obwohl es tatsächlich fundamentale Dinge sind. In Castanedas Büchern wird die Wirklichkeit ständig angefochten – das ist wie ein Schock, eine Erschütterung. Vielleicht erlebt man das gleiche, wenn man die frühen christlichen oder andere mystische Texte liest: Erleuchtung kann durch alles geschehen, durch Zen, sogar durch den Nazismus. Ich habe sie durch Castaneda erfahren.«
Ihren Anfang hatte die magische Assoziation der beiden Männer einmal damit genommen, dass Jodorowsky in Jean Giraud einen »spirituellen Krieger« erkannte, wie er sie für Dune gerade um sich schart. Und dass der im März 1975 seinen Plakatentwurf für François Dupont-Midis Filmkomödie Eine Leiche geht auf Achse just am richtigen Vormittag abliefert. »Ich bin Mœbius«, sagt er, als Jodorowsky ihn anspricht. »Wenn ich Science-Fiction zeichne, bin ich nicht Giraud, sondern Mœbius.«
37 Jahre später verlässt Mœbius seine irdische Hülle, als Giraud im Alter von 73 Jahren einer Lungenembolie erliegt. »Jean Giraud genannt Mœbius« steht auf dem schlichten Grabstein auf dem Cimetière Montparnasse, »1938-2012«.
Jodorowsky hat laut eigener Aussage »den Ehrgeiz, dreihundert Jahre alt zu werden«. Er schreibt weiterhin Szenarios, ein neuer Film, Amor puro, ist für 2022 angekündigt, dann ist er 93.
In seinem bislang letzten spirituellen Buch, 2015 auf Spanisch erschienen, zieht er ein Fazit seiner metaphysischen Erfahrung: La vida es un cuento – das Leben ist ein Märchen.
(Vorwort zu Mœbius/Jodorowsky: Lust & Glaube, Schreiber & Leser 2021)