WIE WÄR’S MIT MICKEY?

Von Andreas C. Knigge

Obwohl ungleich prominenter als Pete Burns, Bowie, Boy George und Conchita Wurst ohnedies, ist Micky Maus von den Genderdebatten der letzten Jahre verschont geblieben. Kein Wunder, denn von Anfang an steht mit Minnie eine ewige Verlobte bereit, da drängen sich Gedanken wie vielleicht bei Batman und Robin kaum auf. Nicht einmal Dan O’Neill, der Mickys Sexus Anfang der Siebziger unter die Lupe nahm, schöpfte Argwohn. Aber der Micky und die Maus?

Die Micky Maus, so will es der Duden. Zwischen »Mickrigkeit« und »Microburst« steht »sie« – lange nur in der Schreibweise »Mickymaus« – als Synonym für alles, das man nicht ernst nehmen muss. Mickymaus-Argumente wischt man vom Tisch, will man andere kleinmachen, sind es schlicht »Mickymäuse«. Und das, obwohl das seit 1951 erscheinende Magazin Micky Maus zur erfolgreichsten deutschsprachigen Jugendzeitschrift wurde, in den besten Zeiten mit einer Druckauflage von über einer Million Exemplare jede Woche, und ihr Namensgeber zum Gründungsmythos der Disney-Studios, mit einem Jahresumsatz von zuletzt fast 70 Milliarden US-Dollar heute ein Gigant der Unterhaltungsindustrie. »Ich hoffe, dass wir eines nie vergessen werden«, sagte Walt Disney zu Lebzeiten gern. »Dass alles mit einer Maus begann.«

Allerdings hatte sich Disneys Passion für den Zeichentrickfilm schon früher gezeigt, 1920 in Kansas City, wo er erste Kurzfilme für eine kleine Kinokette produziert. Als er damit auf keinen grünen Zweig kommt, siedelt er um ins pulsierende Hollywood und richtet gemeinsam mit seinem Bruder Roy, einer geliehenen Kamera und 500 Dollar Startkapital ein Studio in der Garage seines Onkels ein. Der Vertragsabschluss über zwölf Alice-Filme mit einem New Yorker Verleih am 16. Oktober 1923 gilt heute als offizielles Gründungsdatum des Disney-Konzerns. Dennoch bleibt der lange Zeit kursierende Mythos ingeniös, auch wenn seine Stunde später kommt, im März 1928.

Walt und seine Frau Lillian sind damals auf dem Rückweg von der Ostküste nach Kalifornien. Mit Oswald the Lucky Rabbit war Disney eine Figur gelungen, die selbst den Zeichentrick-Star Felix the Cat seines Konkurrenten Pat Sullivan in Bedrängnis brachte. Nun lief sein Vertrag mit dem Universal-Filmverleih aus und in New York hatte er dessen Verlängerung sowie eine Aufbesserung seines Honorars verhandeln wollen, von 2.250 Dollar auf 2.500 pro Folge. Universal aber besitzt als Auftraggeber die Rechte an der Figur, weiß um die Abhängigkeit des kleinen Studios von Oswald und sagt 1.800.

Ein schwerer Schlag. Auf dem Weg zurück grübelt Disney über eine neue Idee nach. »Chug-chug-mouse, chug-chug-mouse« macht der Zug – vielleicht eine Maus? Mortimer? »Wie wär’s mit Mickey?«, schlägt seine Frau vor. Walt nickt. So die Legende.

Wieder in Hollywood lässt Disney Ub Iwerks, der ein weit besserer Zeichner ist als er selbst und mit dem er schon in Kansas City zusammengearbeitet hatte, seine Idee visualisieren. Mickey Mouse ist geboren und hat seine Leinwandpremiere am 18. November 1928 im Vorprogramm des Colony Theatre am Broadway, Ecke 53. Straße: Steamboat Willie ist der erste Zeichentrickfilm mit Ton, das Publikum ist hell begeistert. »Die Lacher kamen so rasch«, schreibt das Branchenblatt Variety, »dass sie sich selbst im Wege standen.« Schon bald ist Mickey der unumstrittene Trickfilmstar und Oswald schnell vergessen.

Es dauert gar nicht lange, bis Hearsts King Features Syndicate nach einem Comic-Strip für Tageszeitungen anfragt. Unter Verwendung früherer Filmideen und -sequenzen schreibt Walt Disney eine erste Story und Iwerks liefert die Zeichnungen, vier bis fünf Panels jeden Tag. Zusätzlich zu seiner Arbeit an den Filmen geht das nicht lange gut. Und so kommt es zu einer Sternstunde der Comic-Geschichte, als den noch keine drei Monate laufenden Strip schließlich Floyd Gottfredson übernimmt und Mickys Welt während der nächsten Jahre maßgeblich prägen wird.

Gottfredson arbeitet erst seit einigen Wochen in den Disney-Studios und ist über den Wechsel vom Film zum Comic zunächst gar nicht begeistert. Es sei ja nur übergangsweise, verspricht Disney. »Einen Monat darauf begann ich mich zu fragen, ob Walt tatsächlich nach einem anderen Zeichner suchte«, sagt Gottfredson später. »Nach zwei Monaten hatte ich Angst, dass er es tatsächlich tat.« Unter seiner Feder weichen die Slapstick-Purzelbäume der ersten Wochen schon bald handfesten Dramen, die inspiriert sind von den gerade aufkommenden Abenteuer-Comics. Der Clou der Strips ist jetzt nicht mehr, dass Micky ein paar Hühnereier auf den Kopf fallen, nun sitzt er am Ende eines Streifens in der Wüste, an Kater Karlo gefesselt und kurz vor dem Verdursten – Fortsetzung morgen.

Mehr als 45 Jahre wird Gottfredson den Mickey Mouse-Strip schreiben und zeichnen – und dabei gänzlich anonym bleiben. Als er sich mit 70 Jahren zurückzieht, hat noch kaum jemand je von ihm gehört. Heute hingegen fällt sein Name in einem Atemzug mit Carl Barks, dem genialen Erschaffer Entenhausens. Beide vereint, dass es ihnen auf ganz unterschiedliche und jeweils ureigene Weise gelungen ist, als Künstler innerhalb eines standardisierten Produktionssystems einen individuellen Stil zu entwickeln, der bis in unsere Zeit unübertroffen ist.

Imponiert Barks durch die visuelle Grammatik seiner Geschichten, ist es bei Gottfredson die dramatische Konstruktion als Motor seiner sich über Monate erstreckenden Abenteuer – wenigstens bis 1955, als King Features beschließt, mit der Umstellung auf den isolierten Lacher am Ende jedes Strips der Beschleunigung des amerikanischen Alltags durch den Ausbau des Highway-Systems, Flugverkehr, Supermärkte, Fernsehen und Fastfood-Ketten Rechnung zu tragen.

Obgleich Micky Maus bereits 1930 auch in Deutschland Furore machte und es kurz darauf sogar auch schon Figuren, Anstecknadeln und Postkarten gab sowie erste Produkte, die mit Disneys Figur warben, ist Gottfredson hier verglichen mit Barks bis heute eher unbekannt geblieben und sein Werk – was in der Natur des Zeitungsstrips begründet liegt – unentdeckt. Während sich im Micky Maus-Heft die von Paul Murry für die comic books gezeichneten Storys fanden, lief der Strip in den Fünfzigerjahren (in seiner bereits modernisierten gag-a-day-Form) nur vereinzelt in Zeitungen wie Weser-Kurier oder Hamburger Abendblatt.

Erst seit den Siebzigern erscheinen Klassikerausgaben wie Ich Micky Maus oder Ich Goofy auch mit frühen Storys Gottfredsons – die jedoch nachträglich koloriert wurden, was ihnen ihre ursprüngliche Wirkung und Magie nahezu vollständig raubt. Die vorliegende Ausgabe holt mit der originalgetreuen und vollständigen Reproduktion des Strips nach, was mehr als überfällig ist, und bietet somit endlich die Gelegenheit, ein außergewöhnliches, höchst originäres und charmantes Zeichenuniversum zu entdecken und dabei zurückzureisen in jene Zeit, in der, wie Walt es gerne sagte, alles mit einer Maus begann.

(Vorspann zur Floyd-Gottfredson-Library Micky Maus, Bd. 1, Egmont 2020)

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