LEERE RÄUME, LAUTE STIMMEN

Von Andreas C. Knigge

Immer wieder gibt es Scherereien mit den Autos, als müsse es einfach so sein. Als würden die Vehikel Pierre Christin festhalten wollen, anstatt ihn an sein Ziel zu bringen. Gerade vier Seiten vergehen, bis einer der Greyhounds, mit denen er durch die verschneiten Rocky Mountains tourt, ins Schleudern gerät und in die Böschung kippt. Das später in Salt Lake City erstandene Oldsmobile hält zwei Seiten durch, seine Nachfolger sind kaum verlässlicher. Mitten in der Wüste bricht der Erste auseinander, dem Zweiten fällt die Fahrertür heraus – und da dafür rasch eine Lösung zur Hand ist, schließt sich alsbald ein Vorderreifen auch noch vorbeiwirbelnden Tumbleweeds an. This is the place.

Das mag wie ein Running Gag erscheinen, tatsächlich jedoch ziehen sich Autopannen recht zuverlässig durch Pierres Reisen rund um den Globus, fast wie ein orphischer roter Faden. Nicht anders war es jedenfalls 1999 in Argentinien. Von Buenos Aires aus waren wir nach Río Gallegos geflogen, die südlichste Stadt auf dem Festland. Eine Handvoll Backsteinhäuser an der Ruta National 3, markantestes Gebäude das Hotel mit immerhin drei Stockwerken, sowie eine Ansammlung flacher Baracken in der zweiten Reihe, der Rest verliert sich irgendwo im staubigen Nichts. Glücklicherweise allerdings haben drei junge Kerle gerade in die Zukunft investiert, zusammengelegt und sich ein Auto besorgt, das sie an Touristen vermieten, sollten die sich hierher verirren: einen nicht eben pistenaffinen Ford Ka, die Windschutzscheibe ist von oben bis unten bereits gesprungen.

Die Jungs rufen einen mutigen Tarif auf für ihr Gefährt und sehen uns finster an dazu. Ihr Büro liegt abseits der Hauptstraße, dem Schreibtisch fehlen Beine, er wird von Ziegelsteinen gestützt, durch eine offen stehende Tür blicken wir auf ein lange nicht geputztes Klo im Hintergrund. Uns bleibt keine Wahl, sie haben das Monopol, also verstauen wir unser Gepäck und brechen auf.

Zwei Tage darauf kommen wir nach El Chaltén, 1985 erst gegründet, um den argentinischen Anspruch im Streit mit Chile um diesen abseitigen Andenflecken zu untermauern. Nichts als einige verstreute Holzhütten und Finale einer Schotterpiste, auf der uns den Tag hindurch ein einziges Auto begegnet war. Jenseits des Fitz Roy liegen jetzt nur noch los glaciares, die größten nicht antarktischen Gletscher auf der Südhalbkugel, irgendwann die chilenische Grenze. Von hier führt keine Straße weiter, Endstation.

Nach einer windumtosten Nacht in der kargen Herberge geht es zurück und wir haben schon gut hundert Kilometer geschafft, als ein Hinterreifen platzt. Mist! Wir halten an und steigen aus. Merde! Bis auf das Knistern des Motors herrscht um uns herum eine beinahe fühlbare Stille. Reifenwechsel, und es geht weiter, doch nach einer halben Stunde platzt der nächste. SHIT! Da sitzen wir nun, ganz wie in der Szene in Pierres Erinnerungen, als sein Rambler den Geist aufgibt. Keine Hilfe weit und breit und am Abend geht unser Flug zurück nach Buenos Aires.

Den Verdacht, dass derartige Pannen Pierre nicht lediglich widerfahren, Pech sozusagen, hege ich schon eine Weile. Nicht, dass er sie etwa durch Unbedachtheit oder mangelnde Vorsicht verursachen würde, nein, gar nicht. Und dennoch zieht er sie an wie ein magischer Magnet, da gibt es kein Entrinnen, paradox. Pierre reist am liebsten en voiture – natürlich, die Freiheit, planlos und überall bleiben zu können oder andere Wege einzuschlagen, Unabhängigkeit. Vor allem jedoch und ganz besonders ist es das Gefühl, unterwegs zu sein, on the road.

Oder der Zustand? Immer nur der Straße nach, Meile um Meile geradeaus, kann zu einer Art Rausch werden und tranceartige Züge annehmen. Man lässt los, wird leicht, und das unterforderte Hirn vergnügt sich damit, Gespeichertes hin und her zu rücken und zu ordnen wie sonst im Schlaf, Gedanken zu formen, Zusammenhänge zu konstruieren. Für Pierre beginnen so die Geschichten (oder sie gehen zu Ende – aber dazu später noch).

Unser Malheur (und all die anderen) erkläre ich mir inzwischen als eine Art Programm, das ihn aus seinen Phantasmen zupft. Man muss sich nur an seine Alben mit Bilal und Mézières erinnern, die von sich in die Lüfte erhebenden Dörfern handeln, von den Shinguz oder dem Grunztier-Transmutator von Bluxte, um zu erahnen, wie weit die Wachträume Pierre zu tragen vermögen. Allerdings lauern auf Gedanken im freien Flug stets auch Irrwege, auf denen die Dinge abgleiten, Fäden wieder auseinanderdriften und sich alles zu verlieren droht. Verpasst es Pierre in solchen Momenten, den inneren Film anzuhalten, einzufrieren, platzt prompt, plopp, wie eine Sicherung ein Reifen. Oder sonst etwas mit seinem Auto geschieht, das ihn zurück auf handfesten Boden holt: Willkommen in der Wirklichkeit – und nun sieh erst mal zu, wie du hier wieder rauskommen willst.

Soweit meine Theorie. Wir können es kaum glauben, als nach nicht einmal einer Stunde ein Wagen auftaucht und hält, zwei Familien auf dem Weg nach Río Gallegos. Klar nähme man uns gerne mit, den Ford müssen wir zurücklassen. Wir quetschen uns mitsamt unserem Gepäck, ihr Kofferraum ist schon voll, zu den vier Erwachsenen und haben mit eng angezogenen Knien nun mehr als dreihundert holperige Kilometer Zeit zu überlegen, wie wir die schlechte Nachricht demnächst den finsteren Jungs überbringen wollen. Pierre schlägt vor, dass wir uns am Flugplatz absetzen lassen, wo Menschen sind.

So machen wir‘s, haben jedoch außer Acht gelassen dabei, dass dort nur zwei Maschinen täglich landen. Als wir endlich da sind, ist das Gelände wie ausgestorben, nicht eine Menschenseele. Aber keine zehn Minuten nach unserem Anruf rasen schon die drei Jungs heran, es wird laut und gibt Gezeter. Doch dann ist langsam unser Flug in Sicht und es finden sich andere Passagiere ein, sogar Kaffee gibt es nun. Wir landen bei einer Extrazahlung, die die Jungunternehmer endlich zum Handschlag veranlasst, und fallen wenig später an Bord der Maschine in unsere Sitze, puh.

Tatsächlich war unser Film eben dabei gewesen, abzukippen, Overkill. Patagonien ist die letzte Etappe einer vierwöchigen Weltreise, auf der wir bereits quer durch die Kalahari und den Outback gefahren sind. Hinter El Chaltén reicht es – peng. Und als wir uns davon nicht beeindrucken lassen, knallt es gleich noch einmal: Sense jetzt! Pierres Programm arbeitet zuverlässig.

Das Reisen, das er in den Sechzigerjahren an der Seite seines Jugendfreundes Jean-Claude Mézières entdeckt, wird zu seiner wichtigsten Inspirationsquelle und für den künftigen Autor Pierre Christin unerlässlich. Während sich Jean-Claude seinen eigenen Cowboyfilm inszeniert, bewahrt Pierre die kritische Distanz des Beobachters. Sein Blick ist der des Journalisten, der seine »Entdeckungen« notiert, Kleinigkeiten zumeist, aus denen Alltag besteht.

Und da zum journalistischen Handwerk die Neugier zählt, zieht es ihn bald weiter und er entdeckt einen ganz anderen, antithetischen Kosmos weit im Osten von Paris. Lebensrealitäten, von denen das Kino nicht schon Bilder vorgeprägt hat im Kopf, und die Pierre schnell weit mehr inspirieren als das bunt glitzernde plakative Amerika. Denn hier lohnen sich Blicke hinter die Fassaden und Oberflächen tatsächlich noch: »Unter jedem Klodeckel, den du anhebst«, wird es Jean-Claude später einmal formulieren, »lauert ein Monster.«

Von nun an beginnt die Arbeit an einem Album in der Regel mit einer Reise – und so lernen wir uns 1986 kennen, in einem eisigen Februar. Pierre hat gerade mit »Lady Polaris« begonnen und kommt mit Jean-Claude deshalb nach Hamburg. Ich arbeite für den deutschen Verlag von »Valerian und Veronique« und habe nun die Aufgabe, die beiden durch die verschneite Stadt und den Hafen zu begleiten. Es ist so kalt, dass wir spät in der Nacht zurück ins Hotel über die zugefrorene Alster schlittern können. Noch im gleichen Jahr lade ich Pierre und Jean-Claude nach Erlangen auf den Comic-Salon ein, fortan sehen wir uns immer wieder. Eines Abends in Paris erzählt Pierre, dass sein Sohn für ein Jahr in Hamburg studieren werde, und ich biete an, Olivier könne bei mir unterkommen, bis er etwas habe. Wir verstehen uns dann so prächtig, dass es dabei bleibt.

Als Pierre in dieser Zeit zu Besuch kommt, reden wir auch über den »Comic-Roman« (»Graphic Novel« ist noch nicht in Mode) zum Thema Aids, den ich mit meinem norwegischen Freund Jón Jónsson zusammen gerade schreibe – und dessen Bilder ich von Annie Goetzinger gezeichnet vor mir sehe, mit ihrem subtilen Strich, ein Traum, an den ich selbst kaum glaube. »So you want to steal my artist«, lacht Pierre, und eine Woche später ruft er an und sagt, er habe mit Annie gesprochen, sie sei sehr interessiert an unserem Projekt. Ein erstes Treffen findet in Barcelona statt, weitere folgen in Paris, Oslo und Hamburg, wo unsere nun wahrlich europäische Geschichte spielt und ihren Lauf nimmt (eine Weile später heiraten Annie und Jón, aber das ist eine andere Geschichte). »Die verlorene Zukunft« erscheint 1992 in sechs Ländern, ein Prozedere, das ich anlässlich eines Bandes mit Pierre zwei Jahre zuvor erprobt hatte.

Die Idee zu »Durchbruch« war 1989 in einem kleinen Restaurant nahe der Place de la Bastille entstanden, unmittelbar nach dem 9. November. Auf allen Fernsehkanälen laufen dieser Tage die unfassbaren Bilder aus Berlin, der Zerfall der bipolaren Welt, das Ende zwar nicht der Geschichte, doch einer Epoche. Mir fällt Enki Bilals Portfolio »Die Mauer« ein, das ich vor einigen Jahren verlegt hatte, und natürlich das Album »Treibjagd«, mit dem Enki und Pierre das Ende der kommunistischen Utopie quasi vorweggenommen haben. Also war ich nach Paris geflogen, sitze nun vor etwas auf meinem Teller, das Pierre als »typical french« empfohlen hat, und frage ihn, ob er sich vorstellen könne, diesen Moment mit Enki zusammen in eine Geschichte zu gießen. Pierre runzelt die Stirn. Allein bis Enki, der gerade dabei ist, seine Nikopol-Trilogie abzuschließen, anfangen könne … und die Arbeit am Album selbst, da könnten vier, fünf Jahre ins Land gehen bis zum Erscheinen, mindestens.

Er schlägt eine Anthologie vor stattdessen, eine Sammlung spontaner, ganz persönlicher Kommentare mehrerer Künstler, Reaktionen aus dem Augenblick heraus. Kurze Beiträge, die zügig zu Papier gebracht sind, so dass der Band zeitnah erscheinen kann. D’accord, aber dann sollte es, finde ich, so international wie möglich zugehen. Wir stoßen an und am nächsten Morgen setzt sich Pierre ans Telefon. Jean-Claude ist dabei (natürlich), Enki ist dabei (klar), Annie (logisch), Jacques Tardi, André Juillard, Mœbius. Die Latte hängt damit ganz oben. Zurück in Hamburg treffe ich Matthias Schultheiss, kontaktiere in Spanien Miguelanxo Prado, Milo Manara in Italien, Dave McKean in England, Bill Sienkiewicz in den USA und so fort.

Vor allem gelingt es uns, Künstler auch aus osteuropäischen Ländern an Bord zu holen, Boguslaw Polch aus Polen, Ilona Kiss aus Ungarn, Bane Kerac und Zeljko Pahek aus Jugoslawien, aus der noch existierenden Sowjetunion Dimitri Savitski sowie der DDR Jörg Reuter, Jens Uwe Schubert, Andreas Pasda (unter dem gemeinsamen Künstlernamen »Zonic«) und Lothar Dräger. Im April liegt »Durchbruch« zeitgleich in zwölf Sprachen vor und wird auf dem Comic-Salon im italienischen Lucca 1990 als beste internationale Veröffentlichung mit dem Targa Oesterheld ausgezeichnet.

Wir sind zu dieser Zeit wiederholt in der DDR unterwegs, in einer antiken Straßenbahn hinaus zum Müggelsee mache ich eines Tages Fotos von Pierre und seiner Frau Florence, die später André Juillard als Vorlagen dienen für die erste Seite von »Lenas Reise«. Auf die Authentizität seiner Schauplätze legt Pierre größten Wert. Dabei geht es ihm nicht um »Postkartenmotive«, sondern um Dinge, die man schnell übersieht, Details am Rande, in denen sich Zeit verfängt und gerinnt, Petitessen, die wie Mosaiksteine später ein Bild entstehen lassen und sich in seinen Geschichten zu Eindrücken und -blicken fügen. Die Kamera hat Pierre deshalb stets dabei – ebenfalls für die Zeichner ist eine sorgfältige Dokumentation später unerlässlich.

Aus wenig erfreulichem Anlass allerdings sitzen wir 1998 im La Coupole in Montparnasse. Es ist einer der ersten Sommertage, und es gilt, den Deckel auf einen Band über Lady Diana (und, das war unser Tenor, den Beginn des virtuellen Zeitalters) zu nageln, denn ich hatte mich mit meinem Verlag überworfen und damit war die Sache vom Tisch, obgleich erste Beiträge schon fertig waren (darunter einer auch von Philippe Aymond). Pierre fragt nach meinen Plänen, ich habe noch keine, und dann wechselt er das Thema. Demnächst werde er ja nun sechzig und wolle sich unbedingt einen Traum erfüllen – einen Trip um die südliche Halbkugel. »Hättest du nicht Lust, mitzukommen?«

Die grobe Route ist fix abgesteckt, Südafrika, Perth, und von Sydney weiter nach Buenos Aires, gut ein halbes Jahr später geht es los. Wir treffen uns in London Heathrow, wo ich mit dem Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören, meine letzte Zigarette ausdrücke. »Was hast du denn zu lesen dabei?«, fragt Pierre, kurz bevor wir über dem Mittelmeer sind, und es zeigt sich, dass wir dieselben Autoren im Gepäck haben: Nadine Gordimer, Bruce Chatwins »Songlines« und für Argentinien natürlich Borges. Uns fällt auf, dass nicht ein Schwarzer im Flugzeug sitzt.

Dann sind wir in Johannesburg, mit zwanzig Morden am Tag derzeit einer der brisantesten Plätze weltweit. Man lebt hinter Stacheldraht, die jüngsten Gewaltverbrechen rekapituliert der »Star« allmorgendlich auf seinen ersten Seiten; die Nacht zuvor ist der CEO von Daewoo Motors erschossen worden, sechs Angestellte einer überfallenen Firma wurden in einen Kühlwagen gesperrt und sind erfroren, mitten in Südafrika.

Wir bleiben nicht lange, fahren raus nach Soweto, besuchen das kleine einstige Backsteinhaus Nelson Mandelas und essen etwas auf einem Markt, auf dem wir die einzigen Weißen sind. Danach geht es sechshundert Kilometer geradeaus bis Van Zylsrus am Wadi Kuruman, wo wir in der Kaschemme vor Ort, in der wir den Abend über allein sitzen, ein Steak bekommen und übernachten können, spartanisch, doch zumindest einen Ventilator gibt es.

Hinter dem Wadi beginnt die Kalahari. Stundenlang rumpeln wir die nächsten Tage durch eine surreale, pernodgelbe Leere, von anderweitigem Leben zeugen allein Reifenspuren auf der Piste. Und als wir schon lange niemandem mehr begegnet sind, stehen vor uns plötzlich drei Schwarze nur mit Lendenschurz am Rand einer Sanddüne, reglos wie phantasmagorische Skulpturen – wo kommen sie her, wo leben sie, wohin sind diese Menschen auf dem Weg?

Schon zu Beginn unserer Wüstentour war mir aufgefallen, dass Pierre zuweilen leicht abwesend wirkt. Sitzt er am Steuer, erinnere ich ihn ab und an an das Tempo (was sonst eher sein Part ist). Bald weiß ich, dass er in diesen Momenten tatsächlich in ganz anderen Sphären unterwegs ist. Er spricht nicht darüber und ich frage nicht. Inzwischen sind wir am Big Hole von Kimberley gewesen, durch Lesotho gefahren, wo brandgeschwärzte Häuser in Maseru und Militär noch an den Bürgerkrieg vor einigen Wochen erinnerten, und durchqueren jetzt, wieder in Südafrika, KwaZulu-Natal. Der Tag hat dumm begonnen. Da so gut wie kein Verkehr herrscht, hatten wir am Morgen rasch bemerkt, dass wir verfolgt wurden. Fahren wir langsamer, wird auch der Wagen hinter uns langsamer, werden wir schneller, holt er auf. Als wir in einem Dorf halten, fahren vier Schwarze an uns vorbei. Wir warten ab. Ich beneide Pierre um die Zigarette, die er sich ansteckt. Nach einer Weile geht es weiter, doch schon taucht der Wagen abermals im Rückspiegel auf. Es ist ein wenig wie in Spielbergs »Duell«.

Irgendwann aber sind wir die Jungs los und fahren unbehelligt weiter Richtung Durban. Pierre ist ganz entspannt auf dem Beifahrersitz in sich versunken, ich achte auf die Straße, die sich Meile um Meile vor uns wie eine braune Schnur durch eine sattgrüne Landschaft unter einem unwirklichen Wolkenhimmel schlängelt. Plötzlich schlägt Pierre die Augen auf, rückt sich in seinem Sitz zurecht und sagt »Jetzt hab ich’s«. Fragend blicke ich zur Seite. »Wie ich den ›Valerian‹-Zyklus zu Ende bringe. Jetzt passt alles zusammen.« Mehr werde ich erst in zwei Jahren erfahren, wenn »Unsichere Zeiten« herauskommt, aber ich beginne langsam zu ahnen, wie Pierres Geschichten entstehen.

Als die erste Episode von »Valerian« erscheint, Ende 1967 und noch unter dem Pseudonym »Linus« (nach seiner Lieblingsfigur aus den »Peanuts«), steht Pierre gerade am Beginn seiner akademischen Laufbahn und hat überhaupt nicht im Sinn, Comic-Autor zu werden. Das ist einer der Gründe dafür, dass er, als Quereinsteiger unbelastet von Konventionen, ganz neue Wege beschreiten konnte. Ein anderer ist die offene Atmosphäre bei »Pilote« in jenen Tagen. Pierre lässt in seinem Rückblick deshalb auch die Schmach nicht aus, die René Goscinny, dem das maßgeblich geschuldet war, dann seitens etlicher Zeichner widerfuhr (und die er nicht verwunden hat, sie scheint im Subtext des Bandes »Streit um Asterix« auf, französisch »La Zizanie«, Zwietracht). Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Rebellion, genug ist nicht genug, unter dem Pflaster liegt der Strand.

Pierre erzählt zwischen Ost und West auch von jenem Moment, als die bande dessinée dabei ist, sich neu zu erfinden. Er selbst hat der Entwicklung wichtige Impulse gegeben, so entstehen ab 1972 etwa mit Jacques Tardi, Enki Bilal und Annie Goetzinger Comic-Erzählungen ganz neuen Stils, die man heute Graphic Novels nennen würde. Nur prägt den Begriff Will Eisner erst sechs Jahre später und erst ab Mitte der Achtziger wird das neue Format zum Thema. Da erprobt Pierre mit »Lady Polaris« bereits eine neue Liaison von Text und Bild.

Zudem erzählt »Ost-West« von einer Freundschaft, die noch während des Krieges in den Katakomben von Paris beginnt, ein Wiedersehen in Salt Lake City erlebt, und die aller Unterschiede auch zum Trotz seit über siebzig Jahren andauert. »Valerian« wurde währenddessen einer der größten und einflussreichsten europäischen Comic-Erfolge, Spuren von Jean-Claudes visueller Ingeniosität finden sich bis hin zu »Star Wars«. 2017 hat Luc Besson, schon als Teenager ein Fan, die explosive Wucht, mit der »Valerian« in den Siebzigern neue Maßstäbe setzt, mit seiner Verfilmung von »Die Stadt der tausend Planeten« furios ins digitale Zeitalter übertragen, wie ich meine – während Pierres einziger Kommentar schlicht und professionell »Wir haben die Rechte verkauft« lautet. C’est ça.

Unsere Reise geht (pannenlos, von diesem Mechanismus ahne ich zu dieser Zeit noch nichts) in Australien weiter. In der kleinen Maschine nach Alice Springs winkt mich ein Aborigine an sein Fenster und zeigt auf etwas in der Trockenheit unter uns, das ich weder erkenne, noch begreife, was er meint. Es ist Zeit für Chatwins »Traumpfade«. Um den Abstecher zum Uluru hatte ich etwas ringen müssen, »Attraktionen« interessieren Pierre wenig, er ist lieber Alltäglichem auf der Spur. »That’s not human«, sagt er, als der mirakulöse Koloss in der Abendsonne seine Lightshow veranstaltet hatte und wir am Feuer sitzen und Känguru und Wombat braten. Die Milchstraße über uns funkelt wie ein Christbaum. Nein, das sei not human, »wie eine Postkarte«. »Von wegen«, sage ich, als ich nach Tagesanbruch zurück vom Sonnenaufgang am Uluru komme und Pierre beim Kaffee sitzt. »Auf Postkarten hast du nicht diese Milliarden von Fliegen um die Ohren, die machen einen ja schier irre!«

Nach elf Tagen auf gefühlt endlosen Pisten im Outback, Hunderten von Meilen auf der Great Ocean Road die Südküste entlang, in Perth, Adelaide und Melbourne, Regenwäldern und Weinkellern, sitzen wir auf dem Airport von Sydney. Unser Flug durch eine kurze Nacht über den Südpazifik hat Verspätung. In der Buchhandlung hat Pierre einen »87th Precinct«-Krimi gefunden, »nobody writes dialogues like McBain«, sagt er (und dieser Kommentar spielt sicher eine Rolle, als ich Ed McBain bald darauf im Europa Verlag ins Programm nehme). Ich sortiere derweil, was sich so angesammelt hat in letzter Zeit, und stutze über eine Quittung, mit der ich nichts anfangen kann. »Sag mal, Pierre«, sage ich. »Kannst du dich erinnern, dass wir vor ein paar Tagen in einem Ort namens … Logans Beach waren?«

Dann sind wir auch schon kurz vor Feuerland und marschieren von El Chaltén aus hoch zu den los glaciares. Gerade löst sich eine Eislawine und sackt donnernd in die Laguna Torre, als ein Gedanke in mir aufzuckt. Einige Monate zuvor, als wir in Paris im La Coupole saßen, hatte sich Pierre gegeben, als sei es ihm ganz recht, auf der Reise jemanden dabeizuhaben, der auch mal mit an den Koffer packt, immerhin ist er ja inzwischen sechzig. Erst hier am südlichsten Zipfel Patagoniens nun dämmert mir mit einem Mal seine tatsächliche Intention: In einem für mich gerade haarigen Moment führt er mir vor Augen, dass durch jede Ödnis Wege führen und lediglich der Horizont die Grenze ist, the great wide open. Vielleicht, wer weiß das schon, konnten erst jetzt, als ich Pierres Geschenk begriff, endlich die Reifen unseres tapferen Ford Ka zerplatzen.

An unserem letzten Abend in Buenos Aires schlendern wir durch San Telmo. Auf einer Plaza sehen wir zwei alten Männern zu, die zur Musik von einem Kassettenrekorder Tango tanzen, anmutig und fast über dem Asphalt schwebend, dann biegt Pierre in eine Seitenstraße ein: »Da vorne ist die Bar, in der ich oft mit Annie saß, als wir ›Le tango du disparu‹ vorbereitet haben.« Das liegt über zehn Jahre zurück, doch in einem der Fenster entdecken wir sein Buch, aufgeschlagen auf der Seite mit Annies Zeichnung von der Bar Sur an der Ecke, an der wir nun stehen, dazu ein alter Zeitungsartikel sogar. (»Klar habe ich den Leuten damals ein Exemplar geschickt«, sagt Pierre ungläubig.) »Nehmen wir einen Drink?«, frage ich und deute mit dem Kopf zur Tür. »Nein«, sagt Pierre und setzt sich in Bewegung, »besser nicht.« Wir wissen beide, dass man nicht zurückkehren darf an Orte, die einem vor langer Zeit einmal etwas bedeuteten.

Sur, das ist der Süden, und vielleicht zündete der Funke ja hier, an Annies Seite bei einem Drink am Tresen dieser Bar. Der Westen ist erledigt, der Osten implodiert, was also wartet noch im Süden? Am vorletzten Januartag des Jahres, mit dem das 20. Jahrhundert alsbald abtritt, brechen wir auf und fahren Tausende von Meilen durch drei Kontinente, durch Hitze und windige Kälte. 2012 reist Pierre mit Florence entlang des Mekong durch Burma, Laos, Thailand und Vietnam bis Phnom Penh, wo sie mein Patensohn Sina erwartet. Doch der Süden gebiert keine neuen Geschichten, der Erzähler Pierre Christin fasst hier nicht Fuß.

Das hat kaum mit Orten, Räumen und Menschen zu tun als vielmehr mit dem Wandel der Zeit. Namentlich dem wuchernden Tourismus, den Tiziano Terzani einmal die »widerwärtigste aller Industrien« nannte, da er die Welt zur Kulisse mache, sie ihrer Authentizität beraubt und jede Diversität tilgt, bis in den letzten Winkel. Was bleibt, ist not human und für Pierre nicht mehr von großem Interesse. Die drei Jungs seinerzeit in Río Gallegos jedenfalls hatten die richtige Nase, und falls sie sich gehalten haben, dürften sie heute einen ganzen Fuhrpark managen.

Obgleich inzwischen achtzig, ist Pierre ungebremst produktiv und veröffentlicht Graphic Novels (wie sie die Verlage längst labeln) mit unterschiedlichsten Künstlern, auf deren individuelle Bildsprache er sich bei der Konstruktion seiner Szenarios jeweils mit Bedacht einstellt. Mit Philippe Aymond arbeitet er seit Mitte der Neunziger zusammen. Obwohl andere Generationen, hat sich hier eine Freundschaft entwickelt, deren gegenseitige Einfühlungskraft Grundlage ihrer gemeinsamen Projekte ist.

Mit »Ost-West« hat Philippe Aymond eine sehr intime Erzählung Pierre Christins umgesetzt, die ein halbes Jahrhundert sowie ein beneidenswert ereignisreiches und kreatives Leben rekapituliert wie im Zeitraffer. Und doch gelingen ihm Szenen und Passagen, die den Leser selbst Nuancen kleinster Momente spüren lassen. Pierres Biografie verschmilzt mit den Zeichnungen nahtlos und auf ganz famose Weise. Der Mittlere Westen flimmert vor Hitze, triste Zeiten sind eher grau und eine einsam stille Nacht in Utah kommt so auf die Bühne, dass unser mentales Modell augenblicklich die Geräuschkonserve mit dem Zikadenzirpen zückt als Soundtrack. Das sind kraftvolle Bilder, die für sich sprechen und oft gar nicht vieler Worte bedürfen.

(Nachwort zu Pierre Christin/Philippe Aymond: Ost-West, Carlsen 2019; übersetzt von Camille Christin erschienen in: Pierre Christin. Le grand rénovateur du récit en bande dessinée)

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