NEUE HORIZONTE

Der Comic zwischen Kunst und Literatur

Andreas C. Knigge

Die Emanzipation des Comics als eine »sequenzielle Kunst« und »grafische Literatur« beginnt mit Hugo Pratt und einem seltenen Glücksfall in Italien. Pratt, der einen großen Teil seiner Kindheit und der Weltkriegswirren in Abessinien und Äthiopien verbringt, ist ein passionierter Zeichner mit expressionistischem Strich. Wieder in Venedig, stellt er fest, dass er für die Comics, die ihm vorschweben, vor Ort kein Interesse wecken kann; wie überall in Europa adressieren die Verlage ihre Hefte ausschließlich an Kinder, je schlichter (und billiger), desto lieber. 1949 siedelt Pratt deshalb über nach Buenos Aires mit einer zu dieser Zeit florierenden Heftproduktion, hier entstehen in den nächsten Jahren Klassiker wie Capitain Cormorant, Ernie Pike oder Fort Wheeling. Später zeichnet er auch für britische Hefte, vornehmlich Kriegs-Comics.

In seiner Heimat sind Pratts Arbeiten kaum zu sehen, doch gönnt sich der Genueser Immobilienmakler Florenzo Ivaldi als ein großer Verehrer 1967 das Hobby eines Comic-Magazins, in dem dessen verstreut publiziertes Werk nun auch in Italien erscheinen soll. Nach einem in Argentinien entstandenen Western Pratts heißt es Sgt. Kirk. Zudem lädt Ivaldi Pratt ein, eine neue Geschichte beizusteuern – ohne jede Vorgabe bezüglich Thema und Gestaltung oder Begrenzung im Umfang.

Pratts Südseeballade spielt im pazifischen Inselkosmos, wo sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Wege ganz ungleicher Charaktere kreuzen. Die Erzählung umfasst nach ihrem Abschluss zwei Jahre später 163 Seiten und die Figuren haben sich wieder aus den Augen verloren, ohne dass es einen Gewinner oder Helden gegeben hätte. Für den Comic ist das eine ganz neue Erzählhaltung, die sich mit einer eigenen Bildsprache verbindet. Pratts schwarz-weiße Zeichnungen bleiben stets Vehikel seiner Erzählung, sind flüchtig oft, abstrahierend, die Panelformate verändern sich kaum und betonen dramatische Szenen nicht durch visuelle Aufregung. Ihm genügen wenige grafische Kürzel – Wolken, im Wind treibende Blätter, Blicke – um eine Stimmung oder Emotion geradezu meisterhaft einzufangen.

1972 erscheint in Italien eine Buchausgabe, drei Jahre später auch eine französische Übersetzung. In Frankreich macht schnell das Wort vom »roman bd« die Runde und mit der Entdeckung des epischen Erzählens steht zudem das Comic-Album mit seinen standardmäßig 48 oder 64 Seiten als Produkt zur Diskussion: Nicht nur die Inhalte und Stilistik des Comics bedürfen der Auffrischung, sondern ebenso das Format, das ihm bisher seine Grenzen setzt.

Heavy Metal

Im Konflikt mit der Zensur um Barbarella war zuvor juristisch klargestellt worden, dass Comics sich durchaus an ein älteres Publikum richten können und es damit fortan gelte, die »bande dessinée« nicht mehr alleinig als »pour la jeunesse« zu betrachten. Beinahe ein halbes Jahrhundert nach Tims Aufbruch ins Land der Sowjets erst widmet sich der Comic nun auch einem Publikum jenseits der Pubertät. Dass »Comics für Erwachsene« dabei zum neuen Prädikat wird, unterstreicht seine starke Verortung als »Lesefutter für Kids«, während für die Literatur oder das Kino das Kinderbuch und der Jugendfilm die Spezialitäten sind. Erotische Comics allerdings bleiben insgesamt ein überschaubares Genre, ein älteres Publikum erobert der Comic auf ganz andere Weise.

1975, als in Frankreich Pratts Südseeballade Furore macht, debütiert zum Jahresanfang zudem das Magazin Métal Hurlant (»réservé aux adultes«), erscheint zunächst vierteljährlich, dann monatlich, und wird binnen kurzem zur Speerspitze einer jungen Comic-Avantgarde. Als Schwermetall hängt es bald auch in Deutschland (sowie in den USAals Heavy Metal) an den Kiosken. Die Öffnung von Pilote hin zu einer älteren Leserschaft wirkt bei den Zeichnern wie ein Katalysator, einige von ihnen haben im Kollektiv eigene Magazine gestartet, die noch weiter gehen sollen, als sich das im Verlag von Asterix und Lucky Luke erscheinende Pilote dann letztlich traut. Mitbegründer von Métal Hurlant sind Philippe Druillet und Mœbius, die zuvor ebenfalls in Pilote veröffentlicht haben.

Letzterer zeichnet dort unter seinem bürgerlichen Namen Jean Giraud seit zwölf Jahren den Western Blueberry und nimmt nun, zunächst als Gyr (während er sonst mit »Gir« signiert) und dann unter dem Pseudonym Mœbius, eine zweite künstlerische Identität an, die nicht allein stilistisch eine gänzlich gegensätzliche ist. Inszeniert er Charliers Blueberry-Szenarios in der klassischen Manier des franko-belgischen Abenteuer-Comics, präsentiert er sich auf den Seiten von Métal Hurlant mit spektakulären Bilderwelten sowie höchst bizarren Figuren und Wendungen. Arzach heißt eine achtseitige Story in der ersten Ausgabe, in der ein Krieger mit wehendem Umhang auf einem Flugdrachen über einer archaischen Wüstenwelt kreist und sonst nicht viel geschieht; ein psychedelischer Farbenrausch ohne ein Wort aber von einer Plastizität, wie sie im Comic noch nicht zu sehen war. Die Untergrabung narrativer Logik, die Mœbius hier mit wie vom Unterbewusstsein eingegeben wirkenden Bildern praktiziert, lässt an den surrealistischen Film denken.

Die hermetische Garage des Jerry Cornelius beginnt in der sechsten Nummer. Opulente Farbigkeit weicht hier einem schwarz-weißen, geradezu organisch wirkenden Gewebe aus filigranen Linien, Punkten, Schraffuren und Flächen. Abermals ist der Schauplatz eine Traumwelt und eine plausible Handlung fehlt ebenso: Mœbius überträgt auf den Comic das Prinzip der »écriture automatique« und entfesselt eine zentrifugale Erzählung, die in schließlich über dreißig kurzen Episoden auf fast hundert Seiten wuchert und ständig Sinnbrocken aus sich herausschleudert, ohne Sinn zu produzieren. Zusammen mit dem chilenischen Autor und Filmemacher Alejandro Jodorowsky entsteht 1980 John Difool, der stark auf die Optik von Science-Fiction-Filmen wie Blade Runner oder Matrix wirkt.

Aber auch Pilote wartet weiterhin mit imposanten Werken auf, 1981 etwa Treibjagd von Pierre Christin und Enki Bilal, einem (durchaus resignierten) Abgesang auf den real existierenden Sozialismus, acht Jahre vor dem Mauerfall. Als die Sowjetunion zerbricht, ergänzen Christin und Bilal den Band um eine »épitaphe« und fügen anlässlich der Machtgebärden Putins 2013 eine weitere Ergänzung an. Treibjagd ist bereits die fünfte Politfiktion, die Christin im Stil eines magischen Realismus und geprägt durch die politischen Ereignisse von 1968 für den aus Titos Jugoslawien stammenden Bilal schreibt. Allerdings ist es die Erste, bei deren Gestaltung sich Bilal des Verfahrens der »couleur directe« bedient, indem er die Farben direkt auf den Originalen selbst anlegt, anstatt dass, wie sonst üblich, die schwarz-weißen Strichzeichnungen nachträglich eingefärbt werden. So avanciert die Farbe von der reinen Kolorierung zum künstlerischen Ausdrucksmittel mit erstaunlichem Effekt, den Bilal eindrucksvoll demonstriert.

»Wirkliche Comic-Romane«

Während sich das neue Métal Hurlant nonkonformistisch und provokant in exaltiertem Bildersturm vor allem der Phantastik und Science-Fiction widmet und ein Publikum schnell bei der sich gerade bildenden Punkbewegung findet, setzt (A Suivre) – übersetzt: Fortsetzung folgt – einen gänzlich anderen, eher intellektuellen Akzent. Das Magazin erscheint ab 1978 monatlich im gleichen Verlag wie Hergés Tintin und zuvor auch Pratts Südseeballade und bleibt überwiegend schwarz-weiß, was selbstbewusst den Anspruch einer neuen Seriosität signalisiert: Hier geht es nicht um schöne Zeichnungen und bunte Oberflächen, sondern im Vordergrund stehen die Erzählungen, die die Bilder transportieren.

Gebrochen werden soll zudem mit den klassischen Albumumfängen: »Wir wollen eine andere Form von Comics bieten, wirkliche Comic-Romane, die in Kapitel unterteilt sind«, proklamiert Chefredakteur Jean-Paul Mougin in der Debütausgabe. »Und ich bestehe auf dem Wort ›Kapitel‹, weil wir uns abgrenzen wollen von der alten Struktur der Fortsetzungserzählung. Wo ist die Freiheit des Künstlers, wenn er nach 44 oder 62 Seiten das Wort ›Ende‹ setzen muss, nur damit der Verlag aus seiner ›Geschichte‹ später ein Album machen kann?« Und dann setzt er hinzu: »(À Suivre) ist kein weiteres ›Magazin für Erwachsene‹. (À Suivre) ist ganz einfach ein erwachsenes Comic-Magazin.«

Mougins Worte lassen sich geradezu als Manifest betrachten, als Startschuss für den Comic-Roman. Wurde die Gattung zuvor vor allem als »neunte Kunst« goutiert, entpuppt sie sich nun auch als eine Literatur. Die Geschichten in (À Suivre) enden nach beliebig vielen »Kapiteln« ganz individuell dann, wenn sie erzählt sind. Später erscheinen Buchausgaben (oder »Alben«) mit einem Umfang von bis zu zweihundert Seiten als »roman (À Suivre)«. Dabei ist ebenfalls Hugo Pratt mit dem seiner Südseeballade entsprungenem Corto Maltese, den es jetzt durch Sibirien treibt. Mit dem literarischen Anspruch sowie neuen Themen verfeinert sich auch die Bildsprache. Didier Comès etwa setzt in seinem in der Abgeschiedenheit der belgischen Ardennen spielenden Außenseiterdrama Silence der Stumme gerade das Schwarz-Weiß äußerst effektvoll ein, um aus dessen Kontrasten düstere Beklemmung zu schmieden und eine höchst eigensinnige kafkaeske Welt zu entfalten. Benoît Peeters und François Schuiten beginnen 1982 ihren mittlerweile weit gespannten Zyklus Die geheimnisvollen Städte: Jede ihrer subtil filigran gestalteten Geschichten trägt sich in einer anderen Stadt eines fernen Planeten zu, deren Verhältnisse vor allem auch bedingt sind durch ihre jeweils eigene Architektur, und sind nur gelegentlich in losen Bezügen verbunden.

Von Beginn an dabei ist auch Jacques Tardi, dessen Werk sich nach und nach zu einem imposanten Bilderbogen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formt. Vorrangiges Thema bleibt dabei der Erste Weltkrieg, der für den jungen Jacques durch das Erleben des apathisch in der elterlichen Küche vor sich hin dämmernden Großvaters, der Verdun im Kreuzfeuer zwischen den Linien, in einem Granattrichter neben einer verwesenden Leiche kauernd, überstanden hatte, selbst zum Trauma wird. Mit Hergés Ligne claire grotesk verzerrendem Strich und schmutzigen Grautönen fängt Tardi in seinen schwarz-weißen Geschichten den Irrsinn souverän ein und macht das Grauen der Schützengräben nachempfindbar. Die Protagonisten in den immer gleichen Uniformen bleiben oft namenlos, anonyme Opfer der sie fortreißenden Weltgeschichte. Ab 1988 adaptiert Tardi auch mehrere Kriminalromane Léo Malets sowie 2001 mit der Tetralogie Die Macht des Volkes Jean Vautrins Le cri du peuple über die Tage der Pariser Kommune 1871.

Sequenzielle Kunst

Wie beim Autorenfilm der Regisseur wird auch der »dessinateur« nun zum »auteur«. 1978, im gleichen Jahr, als (A Suivre) den »wirklichen Comic-Roman« postuliert, erscheint in den USA Will Eisners Ein Vertrag mit Gott und nennt sich im Untertitel »a graphic novel«. Eisner hat lange nach einem Verlag suchen müssen und zunächst bleibt der Band weitgehend unbeachtet. Genau besehen ist er nicht einmal eine »graphic novel« sondern versammelt vielmehr vier Novellen, die dadurch verbunden sind, dass sie sich während der Depressionsjahre in demselben Mietshaus in der fiktiven Dropsie Avenue in der New Yorker Bronx zutragen.

Auslöser für die Titelgeschichte ist ein Schicksalsschlag, der Tod von Eisners Tochter Alice, die mit sechzehn Jahren an Leukämie stirbt. Schließlich macht sich Eisner daran, seine Ohnmacht in einer Comic-Erzählung zu verarbeiten. Deren Protagonist ist der gottesfürchtige Frimme Hersh, der nach dem tragischen Tod der Adoptivtochter seine Übereinkunft mit dem Allmächtigen gebrochen sieht, gerecht für seine Demut entgolten zu werden, und aus Rache nun zum herz- und skrupellosen Ausbeuter der mittellosen jüdischen Immigranten in der Bronx wird. Die vier Geschichten sind gleichsam stark von der eigenen Biografie gefärbt: Die Welt der heruntergekommenen sechsgeschossigen Mietskasernen und beengten Lebensverhältnisse sind ein Abbild der Kindheit Eisners, der 1917 als Sohn vor dem Krieg in Europa aus Wien geflüchteter Juden in New York zur Welt kommt.

Diese Ära und die »Alltagskämpfe in der Großstadt« werden sein bevorzugtes Thema, auch künftig kehrt er in seinen Geschichten immer wieder in die Dropsie Avenue zurück. Die »ist kein Hirngespinst, sondern das Abbild einer Straße, die in meinen Erinnerungen äußerst lebendig ist«, so Eisner. »Schlussendlich dokumentiere ich den Lebenslauf der Straße selbst, wie sie sich im Verlauf der Zeiten wandelt, die wechselhafte Geschichte des Mietshauses mit der Hausnummer 55 und des ethnischen und sozialen Mosaiks seiner Bewohner.« Ein Vertrag mit Gott ist keine autobiografische Erzählung, aber sie speist sich authentisch aus Eisners persönlichem Erleben und verhandelt eine existenzielle Krise des Autors. Eisner hätte sein Buch am liebsten ein »comic book« genannt, aber so titulieren sich bereits die Hefte (obwohl sie eigentlich »magazines« sind), von denen er sich gerade abgrenzen will. Also wird es »graphic novel«.

Eisner verwendet die Bezeichnung nicht allein als Label, mit dem er sich als Autor positionieren will, sondern umreißt im Vorwort den Anspruch, den er selbst an die Erzählweise stellt, die er hier erprobt. Zum einen sind das die innere Haltung des Autors sowie das »relevant subject«, ein bedeutsames Thema, aber auch eine neue und sehr viel offenere Handhabung des Comics als grafische Erzählform: »Jede der Geschichten wurde ohne Rücksicht darauf, wie viel Platz sie einnehmen würde, geschrieben, und jede konnte ihre Form aus sich selbst entwickeln, aus dem Ablauf der Erzählung. Die Einzelbilder sind im Gegensatz zur gewohnten Form der Comics nicht mehr aneinandergereiht und haben die gleiche Größe; sie nehmen sich die Formate, die sie brauchen, und oft füllt ein einzelnes Bild eine ganze Seite.« Die »Authentizität« entsteht dabei gerade durch die karikierend überzeichnende Gestaltung. In seinem Buch Comics and Sequential Art (1985) definiert Eisner den Comic schließlich als »sequenzielle Kunst«.

Das ist deshalb vor allem ein treffender Begriff, da er beide Pole benennt, zwischen denen der Comic künftig jongliert. Als eine Kunst ist er schon um 1970 anerkannt (wobei sich die Bewunderung vorwiegend auf die Bildartistik einzelner Zeichner und Klassiker der Gattung bezieht), vom Literaturbetrieb wahrgenommen wird der Comic erst mit dem Phänomen der Graphic Novel. Das setzt ein, als 1986 der erste Band von Art Spiegelmans Maus sowie gleichzeitig zwei höchst außergewöhnliche und einzeln für sich stehende Erzählungen aus dem Kosmos der Superhelden erscheinen. Frank Miller führt in Die Rückkehr des Dunklen Ritters einen gealterten und verbitterten Batman auf, eine gebrochene Figur nun, der noch einmal aus der Zurückgezogenheit zurückkehrt, um Gotham Citys Straßen von der Gewalt zu reinigen.

Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons schildert mit raffiniert konstruiertem, hintergründigem Plot eine Parallelwelt, in der Vietnam nach dem Sieg über den Vietcong zum 51. Bundesstaat der USA geworden ist und es Watergate nie gab. Dafür gibt es Superhelden – Law-and-order-Fanatiker, Großstadt-Robin-Hoods, Wichtigtuer: Männer in Kostümen und mit Masken wie in den »comic books« –, bis 1977 der Keene Act Vigilantentum ohne demokratische Legitimation untersagt. Auf eng miteinander verwobenen Erzählebenen geht es um die Mechanismen politischer Macht, das autokratische Wesen der Superhelden und, natürlich, um eine drohende Katastrophe. Damit ist zugleich effizient belegt, dass ebenso Superheroen in Ganzkörperkondomen zum Gegenstand der neuen »graphic novels« werden können.

Darüber, was unter dem Begriff genau zu verstehen ist, herrscht letztlich wenig Konsens. In den USA wird die »graphic novel« hinsichtlich der Produktform vor allem als »book length comic« verstanden, selbst wenn es sich dabei um Zusammenfassungen von einzelnen Abenteuern aus Heftserien handelt. Will Eisner ist in seiner Definition anspruchsvoller und präziser, er plädiert dafür, dass sich der Comic in neuer, innovativer Gestaltungsform »wie die Literatur und hoffentlich auf einem bisher nicht gekannten Niveau mit dem Wesen des Menschen auseinandersetzt«. Art Spiegelman nennt die Graphic Novel schlicht einen Comic, »für den man ein Lesezeichen benötigt«, bezieht das jedoch nicht zuerst auf den Umfang sondern meint den »epischen Comic, den man weiterlesen oder sogar noch einmal lesen will«.

Der klügste Junge der Welt

Zum unter den Graphic Novels in Will Eisners Sinne häufigsten Genre avanciert die Autobiografie, denn durch den Ausdruck der Zeichnung vermag der Comic eine ihm eigene Unmittelbarkeit und Intimität zu erzeugen, ähnlich der persönlichen Handschrift. Mit an Robert Crumb erinnernder Schonungslosigkeit geht dabei der Kanadier Chester Brown vor, der in The Playboy (1990) davon erzählt, wie er das gleichnamige Magazin immer wieder zwanghaft trotz Vorsatz kauft und von den Schuldgefühlen beim Masturbieren; Fuck (1991) handelt von seinen Problemen mit Frauen und in Ich bezahle für Sex (2011) schildert er offen sein Leben als Freier einschließlich des theoretischen Unterbaus. Seth (Gregory Gallant) hingegen, ebenfalls Kanadier und mit Brown eng befreundet, spürt in Eigentlich ist das Leben schön (1996) seiner nostalgischen Schwärmerei für alte Cartoons nach, indem er sich auf die Suche nach einem vergessenen Zeichner macht und dabei der eigenen Vergangenheit begegnet. Joe Sacco verarbeitet mehrere Reisen durch das Westjordanland und den Gazastreifen zu der umfänglichen Reportage Palästina (1993) und begründet damit das Sub-Genre des Comic-Journalismus, der abstumpfenden Nachrichtenbildern direkte persönliche Eindrücke entgegenzusetzen vermag und auch die Menschen hinter den Ereignissen sichtbar werden lässt.

Die Geschichten erscheinen, wie später die Buchausgaben, als Fortsetzungen (oder in »Kapiteln«) in eigenen Heftreihen wie Yummy Fur (Brown) oder Palookaville (Seth) bei spezialisierten Verlagen wie Drawn & Quarterly oder Fantagraphics. Das beibehaltene »comic book«-Format sprengt Chris Ware mit seiner Acme Novelty Library, deren Ausgaben sich ab 1994 in immer neuer Gestaltung und Größe als eigene Kunstobjekte präsentieren. Ware verortet seine Comics in der Tradition der großen Meister wie Winsor McCay oder Frank O. King und bezieht sich mit seiner klaren Linienführung und Farbgebung deutlich auf Hergé. Seine Geschichten sind komplexe Konstrukte aus parallelen Erzählungen, Rückblenden und Traumsequenzen. Für Jimmy Corrigan, der klügste Junge der Welt (2000) wird in Großbritannien zum ersten Mal der Guardian First Book Award an einen Comic vergeben und 2006 stellt in Chicago das Museum of Contemporary Art Wares Arbeiten aus.

In den neuen Heften und ihrem sich außerhalb des Mainstreams positionierendem Umfeld scheinen in verändertem sozialem und künstlerischem Kontext die Comix der späten Sechziger wieder auf: Der neue Comic in den USA ist eine Off-Broadway-Show – die allerdings zunehmende Beachtung findet. In Frankreich dagegen vollzieht sich die Emanzipation der Gattung an den Zeitungskiosken, und als das Interesse an den monatlichen Magazinen schließlich erlahmt – Métal Hurlant verschwindet 1987, Pilote 1989 und (À Suivre) 1997 –, wandelt sich die Branche zu einem reinen Buchmarkt. Das bedeutet einerseits, dass sich die Künstler nun (wie Literaten) allein aus ihren Buchverkäufen finanzieren müssen, befreit zugleich aber auch vom Zeitschriftenformat: Der »roman bd« kann nun als Buch daherkommen anstatt als sperriges Album.

In Paris finden mehrere junge Zeichner zusammen und gründen 1990 den Autorenverlag L’Association, für den individuelle Formate ebenso programmatisch sind wie frische Sujets und ein neuer Stil. David B. (Pierre-François Beauchard), einer der Mitbegründer, veröffentlicht hier ab 1996 sukzessive in schlussendlich sechs Teilen Die Heilige Krankheit, eine Auseinandersetzung mit seiner Kindheit, während der er stets im Schatten seines Bruders Jean-Christophe stand, dessen Epilepsie das zentrale Familiendrama ist. David B. schaltet hier Traum- und die Handlungsebene gleich, lässt sich Traum und Wirklichkeit so gegenseitig hinterfragen oder kommentieren und entfaltet dabei eine eindrucksvolle Bildsprache der Symbole und Metaphern. 2011 erscheint der Comic-Roman auch in einem Band mit 384 Seiten – da empfiehlt sich in der Tat ein Lesezeichen.

Graphic Novels (was genau auch immer man darunter verstehen will) sind heute ein globales Phänomen, durch ein enges Netz von Verlagen finden viele Titel schnell Verbreitung durch Übersetzungen. In Asien stößt der Comic-Roman hingegen auf wenig Resonanz. Zu den Ausnahmekünstlern zählt vor allem Jiro Taniguchi, der mit Erzählungen wie Der spazierende Mann (1992) oder Vertraute Fremde (1998) in Europa mittlerweile ein größeres Publikum findet als in seiner Heimat Japan. Zum Phänomen der Graphic Novel gehört zudem, dass Zeichnerinnen keine Ausnahmen mehr sind, wie das zuvor für den Comic stets galt, und damit ganz neue Stimmen erklingen.

Die melden sich zudem überraschend von Orten ohne eigene Comic-Tradition – beispielsweise aus Deutschland. Ralf Königs Der bewegte Mann (1987) ist ein langjähriger Bestseller und in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt (einschließlich des Gälischen). Ebenfalls internationalen Erfolg genießt inzwischen Isabel Kreitz mit vor allem heimischen Themen wie Haarmann (2010). Zu Reinhard Kleists Spezialitäten zählen Comic-Biografien wie Cash (2006), Castro (2010) und zuletzt, 2017, über Nick Cave. Die eigene Biografie dagegen erzählt Flix (Felix Görmann) in Held (2003) und fährt in dessen zweiter Hälfte einfach fort mit seiner Geschichte bis zur eigenen Beerdigung mit noch weit entfernten 88 Jahren. Den Wiedervereinigungs-Comic-Roman schließlich legt 2014 Mawil (Markus Witzel, geboren 1976 in Ost-Berlin) mit Kinderland vor.

Als 1971 im damaligen Westdeutschland mit Comics von Reinhold C. Reitberger und Wolfgang J. Fuchs eine erste Monografie der Gattung erscheint, lautet der Untertitel »Anatomie eines Massenmediums«. Als solches ist der Comic inzwischen weitgehend aus der Zeit geraten und hat als populäre Jugendkultur Terrain abgeben müssen an Fernsehserien und Konsolenspiele. Dafür präsentiert er sich uns heute jedoch in so aufregender Vielgestalt wie in seiner Geschichte noch nie zuvor.

(Ausstellungskatalog Comics! Mangas! Graphic Novels!, Bundeskunsthalle, Bonn 2017)

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