SEX & DRUGS & ROCK ‚N‘ ROLL

Barbarella, Robert Crumb und die Emanzipation der Gattung
Von Andreas C. Knigge

Das Jahr beginnt euphorisch und hätte um ein Haar mit einem atomaren Konflikt enden können. Mit John Glenns erfolgreicher Erdumkreisung im Februar 1962 ziehen die USA bei der Eroberung des Weltraums mit der Sowjetunion gleich, im Oktober eskaliert die Kubakrise. Die frühen Sechzigerjahre sind eine Welt der verhärteten Fronten, zunehmend auch zwischen den Generationen. Das erste Beatles-Album lehnt die Decca 1962 ab, weil Derartiges »nicht in Mode« sei; doch etwas Neues bahnt sich längst den Weg.

Zaghaft spiegelt das auch der Comic. In New York erscheint im gleichen Jahr The Amazing Spider-Man, findet ein Publikum besonders bei Studenten und wird zum Prototyp eines neuen »superhero with human touch«. Im französischen Pilote beginnt Cabu Le Grand Duduche um einen Hochschüler, der wie das Abbild seines jungen Zeichners wirkt und so gar kein »Held« oder Vorbild ist. Allerdings erfolgt 1962 auch ein gleich doppelter Paukenschlag, simultan fast auf beiden Seiten des Atlantiks.

Jean-Claude Forests Barbarella platzt im April in dem in Paris erscheinenden erotischen V Magazine per Raumgleiter in die Welt. Die Titelheldin »ohne Vergangenheit«, eine Kreuzung aus Brigitte Bardot und Flash Gordon, erscheint über dem Planeten Lythion und lässt sich fortan nie viel Zeit damit, den ohnehin hautengen Raumanzug abzustreifen. Legendär wird ihr Schäferstündchen mit dem Roboter Viktor. »Ihr habt Stil«, seufzt Barbarella im Anschluss, nur spärlich in ein dünnes Laken gehüllt, doch der Apparat bekennt mit glasigem Blick: »Madame sind zu gütig … Ich kenne meine Schwächen. Meinen Impulsen haftet immer etwas Mechanisches an.«

Das ist ein unerhörter Tabubruch, noch nie haben sich Comic-Figuren vor den Augen ihrer Leser so hemmungslos entblößt. Und dann tritt sechs Monate später im Oktoberheft des Playboy zudem Little Annie Fanny auf den Plan, splitternackt in der Badewanne und von einer Meute Männer begafft. Die schlüpfrig-satirischen Eskapaden des strohblonden Busenwunders schreibt der MAD-Mitinitiator Harvey Kurtzman, die imposant gemalten Comic-Bilder stammen von Will Elder. Der lässt mittels seiner bombastischen Farb- und dank exzellenter Drucktechnik Annies Ballonbrüste geradezu plastisch wirken, was die Leser des Playboy noch bis 1988 beglückt.

Damit hat sich der Comic neu positioniert, der Beginn einer Revolution. Als die Abenteuer von Forests fescher Heroine 1964 auch als Album erscheinen, führt das im Jahr darauf zum Verbot – was in der Heimat Baudelaires jedoch das Interesse stimuliert, bald sind zweihunderttausend Exemplare verkauft, ein Succès de scandale. Es folgen Übersetzungen, auch in den USA, und eine Verfilmung mit Jane Fonda in der Titelrolle. Als die 1968 in die Kinos kommt, ereignet sich in Kalifornien gerade ein weiteres Beben, nach dem die Welt der Comics fortan nicht mehr dieselbe ist.

Die hatte sich erheblich eingetrübt, als in den USA 1954 der Code in Kraft trat und seitdem dem Comic im Namen des Jugendschutzes ohne Unterschied die Flügel stutzte. Nicht einmal Scheidungen dürfen zum Thema werden, wenn sie nicht negativ konnotiert sind oder wenigstens ins Verderben führen. Der Comic wird per se als eine reine Jugendkultur betrachtet und kindgerecht glattgebügelt bis zur puren Langeweile. Das Anarchische, das ihm stets innewohnte und ihm seine Frische verlieh, weicht keimfreiem Zeichen-Fast-Food. Allein auf den Seiten von MAD sind jetzt noch subversiver Witz oder freche, ehrvergessene Rebellen wie Spion & Spion anzutreffen.

Als die Hippiebewegung in der kalifornischen Bay Area den Summer of Love zelebriert, sind Comics alles andere als »cool«. Allerdings drucken College- sowie die aufkommenden Underground-Zeitungen eigene Strips ab. Unter den Ersten, die den Comic als Medium zum Ausdruck eines gegenkulturellen Lebensgefühls entdecken, ist Robert Crumb. Es ist die Zeit, in der Andy Warhol und Roy Lichtenstein mit grellen Motiven aus der Alltags- und Konsumwelt an Sehgewohnheiten rütteln und Wes Wilson zu den mehrtätigen Partys in San Francisco mit psychedelischen Plakaten lädt. Bald reift der Gedanke, ein eigenes Heft zu veröffentlichen. Ein ganz anderes »comic book«.

Am 25. Februar 1968 verkauft Crumb an der Kreuzung Haight und Ashbury schließlich während eines Straßenfestes aus einem Kinderwagen heraus die ersten Exemplare seines im Keller eines Freundes gedruckten und noch am Vormittag eigenhändig zusammengeklammerten ZAP Comix. Das startet mit Whiteman um einen zwischen Patriotismus und Triebunterdrückung eingeklemmten Mittelstandbürger, der, sein Pech, zu feige ist, sich dem bevorstehenden Umsturz anzuschließen. »A story of civilization in crisis«, so der Untertitel. Dann folgen schierer Nonsens, Slapstick und respektlose »freak out funnies«, inszeniert mit grobem, widerborstigem und zugleich exzellentem Strich. Die Ästhetik ist nicht zeitgeisttypisch modern, sondern Crumb schwelgt üppig in nostalgisch anmutenden Schraffuren, die an die alten Zeitungsklassiker erinnern, die er ebenso verehrt wie den frühen Jazz. Doch er führt absonderliche Figuren vor und zeigt sie in grotesk-verrückten Szenen, wie sie im Comic bislang noch nicht zu sehen waren. Und das ist verdammt cool!

Das »x« im Titel steht für »x-rated«, nicht für Jugendliche, und wird zum Markenzeichen eines ganz neuen Genres, das als Phänomen mit dem Rückzug ins Private Mitte der Siebziger zwar schon wieder abklingt, aber dennoch zur folgenreichsten Episode in der Geschichte des Comics wird. Denn bei den Comix entscheidet erstmals kein Auftraggeber über einen Stoff und seine Gestaltung, sondern der Zeichner selbst, befreit von Beschränkungen, vermeintlicher Publikumserwartung und Jugendschutz. Damit avanciert der »Zeichner« zum Künstler.

Im zweiten ZAP stoßen im Sommer Victor Moscoso und Rick Griffin mit bizarren, LSD-geschwängerten Bildmetamorphosen dazu, weitere Zeichner wie Gilbert Shelton folgen. Gemeinsam wird entschieden, wer im Heft veröffentlichen soll, wer dabei ist, kann seine Seiten füllen wie er mag. Crumbs Arbeiten versprühen das anarchische Sendungsbewusstsein der Spaßguerilla, in Meatball regnen statt Bomben »mind grenades« vom Himmel, fußballgroße Fleischklöpse: Wer getroffen wird, ist fortan frei von allen Sorgen, macht den ganzen Mist nicht länger mit, nimmt sich einfach, was er zum Leben braucht, und selbst die heranrasenden Cops können dagegen nicht anknüppeln. In Joe Blow wird inzestuöser Sex als Alternative zur allabendlichen Fernsehberieselung empfohlen: »The family that lays together stays together.« Bald erscheinen auch andere Comix-Hefte. In der Bay Area sowie in New York und Chicago bildet sich ein Netz alternativer Verlage, der Absatz erfolgt über Headshops und Plattenläden und in Europa machen erste Übersetzungen die Runde.

Für Crumb bedeutet das Zeichnen absolute Freiheit: »You can do anything you want. Draw anything you want, say anything you want.« Das reduziert er nicht auf Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll, sondern schließt sich selbst ein und erzählt immer häufiger von den eigenen Lastern, Schuldgefühlen, ödipalen Konflikten und Psychosen. In The Confessions of R. Crumb (1972) blickt er den Leser von seinem Zeichenbrett aus an und konfrontiert ihn während eines bizarren Trips in sein Unbewusstes sodann mit seinen verborgenen Obsessionen. Damit tritt der Zeichner an die Stelle, die bisher dem Helden zustand, der Beginn des autobiografischen Erzählens im Comic. In The Many Faces of R. Crumb fragt er wenig später dann: »Who is this Crumb?« Holy shit!

Crumb (geboren 1943 in Philadelphia) hat früh schon vor der Enge einer katholisch-konservativen Erziehung Zuflucht in Comics gesucht. Er schwärmt für Carl Barks‘ Donald Duck, Walt Kellys Pogo und bald vor allem das freche MAD, zeichnet selbst viel und regelmäßig und veröffentlicht seine Geschichten 1958 in dem Fanzine Foo, das er mit seinem Bruder Charles herausgibt und in der Nachbarschaft verkauft. Schon Mitte der Sechziger finden sich in seinen Skizzenbüchern all die Charaktere, die ab 1968 dann in ZAP auftauchen. Das Zeichnen wird für Crumb eine fortwährende Selbsttherapie: Ab 1977 entstehen zudem mit seiner Frau Aline Kominsky, ebenfalls Zeichnerin, die gemeinsamen Dirty Laundry Comix, in denen sie von ihrem Familienalltag und ihrer Beziehung berichten, wobei ein jeder sich selbst dabei in Szene setzt. Crumbs zeichnerisches Werk ist somit eng verbunden mit seiner Biografie und so persönlich wie das noch keines anderen Comic-Künstlers zuvor.

Ihm ist deshalb gar nicht wohl, als er plötzlich mit dem Erfolg seiner Comics zur Ikone einer Szene wird, für die er bestenfalls Sympathien hegt, sich ihr aber nicht zugehörig fühlt. Vor allem Fritz the Cat avanciert schnell zur Kultfigur. Erste Geschichten um den feisten gestreiften Kater (der zunächst noch Fred heißt) hat Crumb schon als Teenager gezeichnet, 1959, seitdem taucht er sporadisch immer wieder auf. 1965 erscheinen erste Episoden in dem Satiremagazin Help!, vier Jahre später kommt bei einem renommierten Publikumsverlag eine Buchausgabe heraus und bald darauf sucht Ralph Bakshi um die Filmrechte nach. Fritz the Cat wird zum Star des Underground, der gar keine Stars verträgt, und seinem Schöpfer fremd. Als seine Eskapaden 1972, als erster Zeichentrickfilm mit Altersbeschränkung, in die Kinos kommen, ist Crumb so erschüttert, dass er seinen Namen aus den Credits streichen lässt und Fritz‘ Karriere ein blutiges Ende setzt: In einer letzten Episode rammt ihm, inzwischen Filmproduzent (!) mit Bauchansatz, ein unbefriedigtes Straußen-Starlet einen Eispickel ins Genick. 1976 zieht Crumb dann auch Mr. Natural aus dem Verkehr. Die letzte Episode, in der der schratige Guru in einer Nervenklinik verschwindet, mag man als Allegorie auf das Ende einer Ära betrachten.

Die währt nicht einmal zehn Jahre und doch haben die Comix weit mehr hinterlassen als Fritz the Cat und die »fabulous furry« Freak Brothers, mit denen Gilbert Shelton die Zeit der Hippies in San Francisco noch bis in die Neunzigerjahre fortleben lässt. Dazu zählt auch, dass von nun an Frauen dabei sind; bislang ist der Comic eine reine Männerwelt. Im Sommer 1970 kommt als Special der gleichnamigen feministischen Zeitschrift It Ain’t Me Babe heraus, ein Heft,in dem ausschließlich Zeichnerinnen veröffentlichen, zwei Jahre später gefolgt von Wimmen’s Comix, das bis 1985 mit insgesamt siebzehn Ausgaben erscheint. Treibende Kraft dabei ist Trina Robbins, die soeben das Kostüm der Comic-Heroine Vampirella entworfen hat, als sie 1970 in San Francisco eintrifft. Wie Crumb taucht auch sie in manchen ihrer Geschichten auf, dann jedoch nicht, um von sich selbst zu erzählen, sondern von tragischen Frauenschicksalen, von Chauvinismus, sozialer Ungleichheit und vor allem auch dem Aufbegehren dagegen. Ein anderer Teil ihres Werks ist in wechselnden Genres angesiedelt, in denen kämpferische Heroinen selbstbewusst ihre erotischen Bedürfnisse ausleben und das andere Geschlecht im Zweifel nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Später macht sie sich zudem einen Namen mit Monografien wie Women and the Comics (1983) oder A Century of Women Cartoonists (1993). 1974 taucht mit Come Out Comix auch ein lesbisches Heft auf und mit Gay Hearthrobs folgt zwei Jahre später ein schwules. Stonewall liegt gerade erst wenige Jahre zurück, heute tummeln sich sogar im Marvel-Universum ganz fraglos lesbische und schwule Superhelden.

Der Sex ist nicht allein emanzipatorisches Thema, sondern oft auch derb und chauvinistisch, bildgewordene Männerfantasien. In Richard Corbens archaischen Märchen- und Unterwelten, die durch seine explosive Farbtechnik geradezu plastisch wirken, schlagen die platzprallen Brüste und totschlägergroßen Genitalien nackter Muskelmassenwesen dem Leser förmlich ins Gesicht. Sex ist in Corbens Kosmos eine permanent im Raum schwirrende Energie, eine treibende Urkraft, der die verletzlichen fleischigen Leiber oft so hilflos ausgesetzt sind wie einer Naturkatastrophe.

Der Umgang mit der Sexualität und manche Frauenbilder führen zu zeitweise scharfen Kontroversen auch unter den Zeichnern selbst. Während die einen Tabus brechen wollen und Fantasien ausleben, mahnen andere politische Korrektheit an. Die Comix sind die schrille Reaktion auf die stickig-verklemmte Norman-Rockwell-Idylle der Elterngeneration, Hemmungslosigkeit und »free love« gleichbedeutend mit Selbstbefreiung. Und zudem eine garantierte Provokation. 1971 erscheint das Heft Air Pirates Funnies, in dem mehrere Zeichner populäre Figuren wie Bugs Bunny oder die drei kleinen Schweinchen ihre Sexualität entdecken lassen. Berühmt wird die Story von Dan O‘Neill, in der Micky Maus Minnie Maus an die Wäsche geht und auch an das darunter. Die Folge ist ein langjähriger Prozess mit der Walt Disney Productions um die übliche Frage, ob es sich dabei um Satire handelt oder Urheberrechtsverletzung. Die Gerichte geben der Klägerin Recht; erst 1980 endet das Verfahren, als Disney seine ohnehin nicht vollstreckbare Schadenersatzforderung zurückzieht gegen die Zusage O’Neills, künftig keine weiteren Parodien zu veröffentlichen.

Die Comix bringen auch erstaunliche Bildvirtuosen hervor wie Vaughn Bodé oder Jeff Jones, die ganz ohne den Impetus des Affronts höchst eigenwillige kunstvolle sowie poetische Zeichenuniversen entwerfen, für die es anderswo keinen Raum gäbe. Harvey Pekar dagegen veröffentlicht ab 1976 in seinem autobiografischen American Splendor eine Chronik seines eher trübsinnigen Alltags, obwohl er selbst nicht zeichnen kann: Er arbeitet bei den einzelnen Episoden mit wechselnden Künstlern zusammen, darunter auch Robert Crumb. Als bei Pekar 1990 Krebs diagnostiziert wird, beschreibt er in Our Cancer Year (gezeichnet von Joyce Brabner, 1994) minutiös auch die Zeit der quälenden Therapie und der Ungewissheit.

Vor allem aber demonstrieren die Comix auch, wie leicht sich ein Medium kapern lässt und zu handhaben ist für die eigenen Zwecke. Mitte der Siebzigerjahre beginnen erste Zeichner damit, ihre Comics, für die sich die Verlage nicht interessieren oder die ihnen zu eigenwillig sind, im Selbstverlag zu veröffentlichen und vertreiben sie über die zur gleichen Zeit im ganzen Land entstehenden »comic book stores«. Hefte wie Mike Friedrichs Star*Reach (1974) beleben die Szene, verschwinden bald jedoch wieder, andere wie Elfquest (Wendy Pini, 1978) behaupten sich bis heute. Kleinverlage wie Fantagraphics veröffentlichen schwarz-weiße Hefttitel wie Love and Rockets (1982) oder Neat Stuff (1985) für ein alternatives Publikum.

Love and Rockets vereint die ganz differenten und unabhängig voneinander stehenden Geschichten der Brüder Gilbert, Jaime und zeitweise auch Mario Hernandez. Während Gilberts Geschichten um die Menschen des fiktiven Dorfes Palomar kreisen, handeln die Jaimes von einer Gruppe mexikanischer Punks in Los Angeles und liefern mit deren Verirrungen und Alltagsverstrickungen eine komplex schillernde Soziografie der Achtziger. Peter Bagge erzählt in Neat Stuff von den bizarr überdrehten Bradleys, einer exzentrischen Vorstadtfamilie am Rande New Yorks. Schließlich rückt der schlaksige Buddy Bradley in den Mittelpunkt und zieht 1990 unter dem neuen Hefttitel Hate! von der Ostküste nach Seattle, ins schmuddelige Zentrum des Grunge.

Wie will man diese Comics nennen, die so ganz in der Tradition des »underground« stehen und doch keine Comix sind, sondern vielmehr eine ganz neue Generation von Comics, die von den Innenleben ihrer Charaktere erzählen und deren sozialem Mikrokosmos? »New comics« ist im Gespräch und »alternative comics«, sogar »small press« oder »post-underground comics«, da kommt der Begriff »graphic novel« schließlich gerade recht. Der verdankt sich, genau besehen, ebenfalls der kurzen Ära der Comix, auf die seinerzeit auch Will Eisner aufmerksam wird. Eisner hatte früh schon im Comic ein »literarisches Potenzial« gewittert, sich dann aber, als seine Ideen kein Gehör fanden, Mitte der Fünfzigerjahre zurückgezogen. Nun entdeckt er eine Generation junger Zeichner, die sich befreit haben von aller Einengung und den Comic nach ganz eigenen Vorstellungen neu erfinden. 1972 tritt er mit Denis Kitchen in Kontakt, der soeben die erste Ausgabe des Heftes Bizarre Sex herausbringt: Auf dem Titelbild bricht ein mächtiger Phallus in die triste Betonwelt einer leblosen Großstadt und beäugt aus einem einzelnen Auge verwundert die aufgeschreckten faden Bürger. Das ist das Lebensgefühl der Flower-Power-Generation und nicht die Welt des mittlerweile 55-jährigen Eisner, doch den begeistern die Freiheiten, die sich die Zeichner erschließen. Im gleichen Jahr noch steuert er ein Titelbild für das Heft Snarf bei, auf dem sein Spirit in ein chaotisches Kellerstudio von Comix-Zeichnern platzt, von denen einer seufzt: »After Crumb what is there left to say?« So kehrt Eisner schließlich zurück zum Comic und legt 1978 den Band Ein Vertrag mit Gott vor, den er in Abgrenzung zu den üblichen »comic books« im Untertitel »a graphic novel« nennt.

Ebenso Maus entspringt dem kurzen Moment der Comix. Den ersten Anlauf zu seiner »Geschichte eines Überlebenden« unternimmt Art Spiegelman 1972 zwischen anderen Storys in einem Heft, das ausgerechnet Funny Aminals (sic) heißt. Die drei Seiten sind schon mit Maus betitelt und lesen sich wie eine Essenz seiner später fast dreihundertseitigen Erzählung. Wie Crumb verehrt auch Spiegelman die Zeitungsklassiker der frühen Jahre, als der Comic noch kaum Regeln kannte. Von 1980 bis 1986 gibt er mit seiner Lebensgefährtin Françoise Mouly im Eigenverlag das einflussreiche »graphix magazine« RAW heraus, das zum Zentralorgan einer neuen Comic-Avantgarde wird und in dem er Maus neu angeht. Als die Erzählung nach dreizehn Jahren abgeschlossen ist, erhält er 1992 für die zweibändige Buchausgabe den Pulitzerpreis.

Dreißig Jahre zuvor war mit Barbarella der Startschuss gefallen zu einer grundlegenden Erneuerung der Gattung, der Rückeroberung eines Publikums jenseits der Pubertät durch die Befreiung von Jugendschutz und Verlagswünschen. In den USA vollzieht sich dieser Wandel als Phänomen einer Gegenkultur mit eigener alternativer Infrastruktur, in Europa bleiben Magazine, Zeitungskioske und der Buchhandel das Vehikel. Anzeichen einer Zäsur werden sichtbar, als sich im Klima des Pariser Vor-Mai eine neue Generation junger Zeichner vor allem in dem 1960 von Jean-Marc Reiser gegründeten Hara-Kiri zu Wort meldet. Die satirische Zeitschriftgerät immer wieder in Konflikt mit der Zensur. 1970 wird sie auf Anordnung des Innenministers verboten, nachdem sie de Gaulles Ableben mit der Schlagzeile »Tragischer Schlag: 1 Toter« kommentiert hatte, und benennt sich um in Charlie Hebdo. Eine weitere Plattform wird Pilote, dessen Chefredakteur René Goscinny mit dem Erfolg von Asterix im Rücken ein neues, älteres Publikum vor Augen hat, das Zeichner wie Marcel Gotlib, Claire Bretécher oder Cabu mit Le Grand Duduche ansprechen. Cabu kommt von Hara-Kiri zu Pilote, Gotlib und Bretécher dagegen haben zuvor für Jugendliche gezeichnet. Während Gotlib ästhetisch bei seinen Wurzeln bleibt und vor allem den Ton und die optische Überdehnung verschärft, entwickelt Bretécher nun einen eigenen minimalistischen Strich, der 1973 in ihrer Serie Die Frustrierten im Nouvel Observateur über den Kater der Rebellen von Achtundsechzig gipfelt.

Barbarella folgen bald andere nackte Heroinen wie Epoxy (Paul Cuvelier, 1968) oder Pravda (Guy Peellaert, 1968). Anders als in vielen Comix bleibt der Sex hier jedoch im Rahmen sowie stets elegant, und im Zweifelsfalle ist wie bei dem Rendezvous mit dem mechanischen Viktor stets fix ein sauberes Laken zur Hand. Die Alben werden in Frankreich vor allem im Kontext der Pop-Art und der Nouvelle Vague wahrgenommen und sind ein intellektuelles Vergnügen, das Rückenwind erhält von der neuen Beachtung, die die Gattung zugleich erfährt, einschließlich der Weihen der Ausstellung Bande dessinée et figuration narrative im Louvre. In Italien entwickelt Guido Crepax in Valentina (1965), deren elegante Protagonistin die Züge von Louise Brooks trägt, mit avantgardistisch ornamentierendem Strich und filmischen Bildmontagen eine ganz neue Bildsprache. Ist bei den Comix schon das Medium die Botschaft des rebellischen Zeitgeists, emanzipiert sich der Comic in Europa als »neunte Kunst«, zu der Francis Lacassin ihn 1971 mit seinem einflussreichen Buch Pour un 9ᵉ art, la bande dessinée erklärt.

In Deutschland knüpft Alfred von Meysenbug mit seinen poppig plakativen Kampffibeln Mini-Faust, Supermädchen und Glamour-Girl 1968 an die französischen Vorbilder an, populär und zu republikweiten Szeneikonen aber werden die »Freakadellen« und »Bulletten« von Gerhard Seyfried, die bald auf keinem linken Flugblatt mehr fehlen und ganz in der anarchischen Tradition der Comix stehen. Seyfried besucht Gilbert Shelton mehrfach in San Francisco und arbeitet zeitweise auch an dessen Freak Brothers mit. Die eigenen Comics wie Invasion aus dem Alltag (1980) sind im Umfeld der Hausbesetzer-Szene verortet, mit Flucht aus Berlin (1990) erscheint nach dem Mauerfall dann ein grimmiger Abgesang auf das punkig-alternative Westberlin: Mit den Russen hatte man ja immer rechnen müssen – aber diese Okkupanten schnattern sächsisch!

Für Ralf König sind Ende der Siebziger Crumbs Comix der Initialfunke, um mit dem Zeichnen zu beginnen, bald kommt auch der Einfluss von Claire Bretécher hinzu. Mit seinen Knollennasen wird er zum Chronisten der schwulen Subkultur, die Verfilmung seiner Graphic Novel Der bewegte Mann (1987) mit Til Schweiger, Katja Riemann und Joachim Król wird 1994 mit sechseinhalb Millionen Besuchern einer der größten Erfolge der deutschen Kinogeschichte. Nach dem Eklat um die dänischen Mohammed-Karikaturen und die Frage, ob man den Propheten zeichnen darf oder nicht, wendet König sich vor allem mit seiner »Bibel-Trilogie« Prototyp/Archetyp/Antityp über Adam, Noah und den Apostel Paulus auch der Religion zu. »Das Schlimmste wäre, wenn kritische oder satirische Töne ausblieben, weil wieder irgendwelche Leute meinen, ihren Gott mit Gewalt durchsetzen zu müssen«, so König, als es bei der Vorveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Protesten christlicher Verbände kommt.

Mittlerweile ganz selbstverständlich reklamiert er für den Comic damit eine künstlerische Freiheit, auf die der während der ersten siebzig Jahre seiner Geschichte gänzlich verzichtet hat und die erstmals Robert Crumb und seine Zeitgenossen im Summer of Love eines losgelösten San Francisco entdecken.

(Ausstellungskatalog Comics! Mangas! Graphic Novels!, Bundeskunsthalle, Bonn 2017)

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