LEBENSPRINZIP: WÜRDE

Eine Annäherung an das Menschliche bei Will Eisner
Von Andreas C. Knigge

Willie und Buck sind zusammen durch dick und dünn gegangen. Begonnen hatte es mit einer der üblichen Prügeleien auf der Straße. Buck war der Größere damals. Und er hat die anderen Kids auf seiner Seite. »Mach ihn fertig, Buck!«, feuern die ihn an. »Du bist stärker!« Denn Willie ist Jude und damit Außenseiter in der New Yorker Bronx, ein Prügelknabe. Doch er schlägt sich wacker. Einen Sieger allerdings gibt es an diesem Nachmittag nicht, denn plötzlich taucht Willies Mutter auf und setzt der Rauferei ein Ende. »Um Himmels Willen, Ma«, mault Willie. »Wegen dir muss ich mich schämen!« Keineswegs, denn Buck ist schwer beeindruckt von Willies Schneid. Und so werden aus den Widersachern Freunde, dicke Freunde. Das war 1933, Amerika ächzt unter der Depression, im fernen Deutschland kommt ein gewisser Adolf Hitler die Macht. Und dann verliert Willies Vater auch noch seinen Job und die Familie muss umziehen. Die Jungs verlieren sich aus den Augen.

Will Eisner hat die Geschichte seiner ebenso unbekümmerten wie innigen Freundschaft mit Buck in seiner autobiografischen Graphic Novel Zum Herzen des Sturms erzählt. Sie lag ihm offensichtlich sehr am Herzen, denn er hat dieser Episode seiner Jugend breiten Raum gewidmet. Und sie ist mit Willies Wegzug auch noch nicht erledigt, Jahre später begegnen er und Buck sich zufällig wieder. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!« Aus den beiden Jungs sind junge Männer geworden. In Europa herrscht inzwischen Krieg. »Seit der Schulzeit nicht!«, pflichtet Will bei. »He, es fängt an zu regnen! Gehen wir einen Kaffee trinken und plaudern über die alten Zeiten!«

»Was hatten wir für ‘ne gute Zeit damals«, gerät Will alsdann ins nostalgische Schwärmen. »Wir waren die dicksten Freunde«, bestätigt Buck. »Seufz ** Scheint als wären wir über Nacht erwachsen geworden!« Buck ist mittlerweile verheiratet, hat ein Kind, Will konnte seine Leidenschaft zum Beruf machen und zeichnet jetzt Comics. Doch nicht nur ihre Lebensumstände haben sich verändert, auch die Gedanken. »Die Juden treiben Amerika in den Krieg in Deutschland, ein Plan, den die jüdischen Bankiers ausgeheckt haben«, schwadroniert Buck los, als sie unvermeidlich auf die dramatischen Entwicklungen in Europa zu sprechen kommen. Wills religiöse Wurzeln hat er völlig vergessen, denn Glaube hat in ihrer Freundschaft nie eine Rolle gespielt. »Eins will ich dir sagen«, redet sich Buck in Rage. »Die Juden in diesem Land machen’s nicht mehr lange! Bald sind sie aufgespürt, und dann …« Er dreht sich zu Will, doch der ist verschwunden, sein Stuhl ist leer.

Diese Szene fast am Schluss von Zum Herzen des Sturms ist eine der bewegendsten in Eisners Erzählung. In ihr scheint ein Motiv auf, das sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht. Am Ende steht Will, eine Silhouette nur, im prasselnden Regen auf der Straße, allein; eine Zeichnung, die die ganze Verlorenheit einfängt, die er in diesem Moment empfand. Waren die Protagonisten lustiger Zeitungsstrips und Comic-Hefte gewöhnlich ebenso so schmerzimmun wie die späteren Helden und Superhelden, so sind Eisners Figuren verletzliche Wesen, die unter der Dummheit und Ignoranz ihrer Umwelt leiden, unter Boshaftigkeit, Arglist, Missachtung und Intrigen. Bei denen Verletzungen Wundmale zurücklassen oder die die Verzweiflung sogar aus der Bahn wirft.

An Geringschätzung und Demütigungen hat es in Will Eisners Leben nicht gemangelt, so weiß er die Narben aufzuzeigen, die Erniedrigung und Verachtung hinterlassen. In seiner Kindheit waren es vor allem die Ausgrenzung aufgrund der Armut, mit der er in seiner Familie aufwuchs, und die verstörende Erfahrung des Antisemitismus. »Meine wohl unauslöschbarste Erinnerung an diese Jahre sind die heimtückischen Vorurteile, die meine Welt vergifteten«, hat er im Vorwort zu Zum Herzen des Sturms notiert und stellt im gleichen Atemzug klar, dass er damit keineswegs eine Sonderstellung reklamiert oder Anspruch auf Indulgenz. »Als ich mich damit auseinandersetzte, wurde mir bewusst, dass sich tief verankerte Voreingenommenheit in unterschiedlichen Formen äußert. Gegenüber denen, deren Hautfarbe nicht weiß ist, ist es Rassismus; anderen Ethnien gegenüber der Nationalismus; Juden gegenüber der Antisemitismus.«

Aus dem Verständnis dieses Mechanismus heraus hat Will Eisner seine Kraft bezogen, sich über jedwede Engstirnigkeit hinwegzusetzen, allen Widerständen zum Trotz standhaft zu bleiben. Mit bornierten Vorurteilen kollidierte er auch, als er im Comic ein »literarisches Potenzial« entdeckte; als er das bereits 1939 in einem Interview mit der Baltimore Sun äußerte, erntete er nur Spott, selbst von Kollegen. In seiner Graphic Novel The Dreamer, in der er sich an seine Anfänge als Zeichner erinnert, erzählt er von der Zeit, als sich noch »niemand bewusst sein konnte, dass die Anekdoten, die in jenen Jahren gesponnen wurden, und die Legenden, die hier ihren Anfang nahmen, eines Tages als Beginn der Geschichte der Comic-Heft-Kultur betrachtet werden würden«.

Mein Exemplar von Zum Herzen des Sturms enthält auf der ersten Seite mit blauem Kugelschreiber die Zeichnung eines lachenden Spirit. »Hey, Knigge! It was great to see you even tho‘ it was brief«, steht in dessen Sprechblase, darunter: »To Andreas from Will Eisner in Erlangen, June 1992.« Unsere erste Begegnung, der Beginn einer langen Freundschaft, lag da bereits fünfzehn Jahre zurück. Damals unternahm der Nelson Verlag den Versuch, The Spirit erstmals in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen (und strich nach nur einer Ausgabe die Segel). Der Verleger Klaus Recht hatte Will nach Hamburg geholt, um das Magazin der Presse vorzustellen, doch ich und zwei Freunde waren die einzigen, die der Einladung gefolgt waren. Will ließ sich davon nicht im Geringsten die Laune verderben und gab uns ebenso zuvorkommend wie offenherzig ein ausführliches Interview für die Comixene (die damals eine Auflage hatte, für die man den Fotokopierer erfunden hat).

The Spirit, heute einer der am häufigsten nachgedruckten Klassiker der Comics, war nach zwei Jahrzehnten der Absenz gerade von dem rührigen Underground-Verleger Denis Kitchen wiederentdeckt worden. Und bereits in der ursprünglich 1940 erschienenen ersten Episode der Serie spielt Verletzbarkeit die entscheidende Rolle: Der Privatdetektiv Denny Colt wird von einem Schurken so übel zugerichtet, dass man ihn für tot erklärt und zu Grabe trägt. Bekanntermaßen ist Colt aber alles andere als tot und führt seinen Kampf gegen das Verbrechen künftig als »The Spirit« fort. Dessen Maske, ein Zugeständnis an seinen Verleger, ist jedoch auch schon die einzige Gemeinsamkeit mit den Superhelden. »Der Spirit ist nicht unverletzlich«, hat Will in unserem Gespräch herausgestellt. Und ganz wie Denny Colt alias Spirit hat auch er sich nie durch Misserfolge entmutigen lassen, selbst wenn ein Ziel unerreichbar schien. Über seine Spirit-Lieblingsgeschichte um Gerhard Shnobble, der an seinem achten Geburtstag vom Dach stürzt und, als er im freien Fall panisch mit den Armen rudert, plötzlich entdeckt, dass er fliegen kann, dann von seinen Eltern aber gehindert wird, seine einzigartige Fähigkeit zu entfalten, sagte er etwa, sie sei aus dem Gefühl der Frustration heraus entstanden: »Ich schrieb und zeichnete den Spirit, aber niemand bemerkte ihn wirklich.«

Und dennoch hat Will die Vision vom »literarischen Potenzial« der Comics nicht fallenlassen; als wir uns damals kennenlernten, hatte er gerade ein neues Projekt in Arbeit. »Im Augenblick bin ich mit etwas in der Länge eines Romans beschäftigt, was auf dem Gebiet der Comics etwas Neues ist. […] Es gibt bestimmte Dinge, die einfach getan werden müssen, und wenn ich und andere, die in dieser Richtung experimentieren, erfolgreich sind, wird eine neue Generation von Comic-Künstlern heranwachsen.«

Das Buch, von dem Will sprach, erschien 1978 mit dem Titel A Contract With God und gilt heute als Keimzelle für das Erzählformat Graphic Novel. Und um ein Haar, hätte das Spirit-Magazin vielleicht mehr Käufer gefunden, hätte Ein Vertrag mit Gott sogar in Deutschland Premiere gehabt: »Möglicherweise werden wir in Deutschland beginnen«, so Will. »Ich habe mit Klaus Recht darüber gesprochen, denn in den USA ist man noch nicht reif dafür. Ich glaube, dass gerade in Europa neue Dinge passieren. So etwas ist in den USA nur sehr schwer möglich, neue Ideen kann man nur in den Undergrounds verwirklichen, in den etablierten Comics geht das kaum.«

Die neue Generation von Comic-Künstlern, von der Will 1977 sprach, gibt es längst, seine Vision vom »grafischen Roman«, der auf menschlichem Erleben und Empfinden fußt, ist Realität geworden. Comic-Figuren sind heute nicht mehr zwangsläufig Abziehbilder in schablonenhaften Storys. Will steht am Beginn einer Zäsur, mit der der Comic tatsächlich »erwachsen« wurde. Die Bezeichnung »Graphic Novel« (die Will zwar immer wieder zugeschrieben wird, da sie beim Vertrag mit Gott zum ersten Mal auf einem Cover stand, die tatsächlich aber schon 1964 zum ersten Mal auftauchte) mag umstritten sein, da eine Definition, die literaturwissenschaftlichen Kriterien genügt, noch aussteht; für mich meint der Terminus, unabhängig vom Umfang, eine Erzählung, in der ich Charakteren begegne, die sich wandeln und entwickeln, in der ich von Menschen lese, die sich mit den Widernissen des Lebens herumplagen, und nicht allein von Spektakeln, ob nun komischer oder spannender Couleur.

»Dem Spirit habe ich dadurch, dass ich ihn menschlich reagieren ließ, Würde gegeben«, sagte Will damals in Hamburg. »Indem ich das tat, wurde er glaubhaft.« Dass er seine eigene Lebenserfahrung auf Bildergeschichten-Figuren übertragen und seine Charaktere mit Würde ausgestattet hat, sie uns als verletzliche Wesen mit ganz menschlichen Schicksalen, mit Schwächen und Begierden begegnen lässt, ist neben allen künstlerischen Errungenschaften und Pioniertaten, die ihm sonst noch zugeschrieben werden, Will Eisners größtes Verdienst.

(Reddition 53/2016, Vorspann zum Themenheft Will Eisner)

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