FEMMES DE PARIS

Annie Goetzingers Comeback bei Kult ist eine faszinierende Zeitreise zurück in eine fast vergessene Epoche
Von Andreas C. Knigge

Wer im Arrondissement de Reuilly nach dem »alten Paris« sucht, muss mittlerweile bescheiden sein. Die letzten Kalkstein-Lagerhallen aus dem 18. Jahrhundert, die im einstigen Quartier der Weinhändler noch stehen, sind herausgeputzt und beherbergen jetzt Vinotheken und Restaurants für Touristen. Die Gentrifizierung schreitet rasant voran, inzwischen findet man auch hier im Zwölften mehr Confiserien und Pâtisserien als Bäckereien mit vernünftigem Baguette am Morgen.

Jemand, der sich gut daran erinnert, wie es in dem Viertel am rive droite einmal aussah und zuging, ist Pierre Christin. Er wurde direkt nebenan im Vorort Saint-Mandé geboren, wo die Familie in schlichten Verhältnissen lebt und der Vater einen Friseurladen betreibt. Das 12. Arrondissement beginnt gleich hinter dem Boulevard Soult und ist der Dreh- und Angelpunkt einer schon siebenbändigen Albumreihe, die Christin seit 2001 für Annie Goetzinger schreibt. In einer Hinterhofpassage befindet sich hier das Büro der Agentur Hardy, deren Spezialität das Auffinden vermisster Personen ist. Es ist das Jahr 1955, blätterloser Herbst bereits, und wir befinden uns in dem gleichen Reuilly, das der damals gerade achtzehnjährige Pierre Christin erlebt, kurz bevor er sein Studium an der Sorbonne beginnt.

Im Mittelpunkt von Agence Hardy steht eine ebenso elegante wie selbstbewusste und modern denkende junge Frau. Edith Hardy ist, assistiert nur von dem manchmal etwas unbedarften Vittorio, die Inhaberin der kleinen Agentur. Das ist eine ungewöhnliche Besetzung in einem der patriarchalsten Genres der populären Kultur, in dem Frauen oft ohne Nachnamen auskommen, Mike Hammers Velda etwa in immerhin vierzehn Bänden und zig Verfilmungen, oder als »Miss Marples« verbannt sind ins Subgenre der Häkelkrimis. In ihrem ersten Fall erhält Edith den Auftrag, nach einem Chemiker zu suchen, der gemeinsam mit den Formeln für ein neues Medikament verschwunden ist.

Die Spurensuche führt in die gehobenen Kreise ebenso wie in die »Zone«, jenen Slum aus verrosteten Bussen und Holzbaracken, der sich auf dem mit Bauverbot belegten Gürtel vor dem einstmaligen Befestigungswall, wo schon bald der »Périférique« entsteht, um die ganze Stadt zieht; sie führt in die Tunnel der Pariser Métro, durch Kugelhagel und im dritten Band sogar nach Moskau. Es wird nicht der einzige Fall bleiben, der im 12. Arrondissement nur seinen Anfang nimmt; im sechsten Band verschlägt es Edith im Winter 1958 in den französischen Sektor von Berlin. Derzeit arbeitet Christin an einem abschließenden achten Band, der auch in Ediths Vergangenheit leuchten soll. Und damit in ein noch ferneres Paris.

Denn neben Edith gibt es in der nach ihr benannten Serie eine weitere Protagonistin, die Stadt – das Kolorit und die Lebensverhältnisse der Fünfzigerjahre. Wie auch die besseren Ausgaben von Léo Malets Nouveaux mystères de Paris im Vorsatz den Plan des jeweiligen Stadtteils enthalten, in dem der Roman spielt, so ist das auch bei der französischen Originalausgabe von Agence Hardy der Fall. Der Krieg liegt zehn Jahre zurück, langsam geht‘s bergauf. Annie Goetzinger fängt die Inertie und Genügsamkeit dieser Zeit, in der sich die gerade herausgekommene »Déesse« von Citroën ausmacht wie die fliegende Untertasse aus einer futuristischen Welt, in verhaltenen Farben sowie einer detailfreudigen, atmosphärisch dichten Melange aus Naturalismus und einem Hauch Nostalgie ein und führt uns an Orte, die längst verschwunden sind.

Gleich im ersten Band etwa zu den Entrepôts de Bercy, wo seit dem Mittelalter auf einem beachtlichen Areal die Weinvorräte für die Hauptstadt lagern. Oder im vierten Band auf die Île Seguin im Westen, auf der damals noch die Fabriken von Renault qualmen. Als vor etlichen Jahren in Hamburg das Gebäude an der Elbe abgerissen wurde, in dem Annie Goetzinger und ich seinerzeit die Figuren unseres Albums Die verlorene Zukunft untergebracht hatten, machte sie eine letzte Zeichnung von dem Haus und schickte sie mir mit den Worten: »Le papier est plus fort que les pierres« – Papier ist beständiger als Steine. Das klingt beinahe wie ein Motto auch für Agence Hardy.

Annie Goetzinger, geboren 1951 in Paris, gehört mit Claire Bretécher, Chantal Montellier und Florence Cestac zu den ersten Frauen, die in der französischen Zeichenwelt Fuß fassen, ein bis dahin allein von Männern beherrschtes Universum, ebenso wie das der Privatdetektive. 1971 veröffentlicht sie erste Comics in einer Kinderzeitschrift und stößt im Jahr darauf zu Pilote, mit dem damaligen Chefredakteur René Goscinny gerade Keimzelle eines alles verändernden Umbruchs: Comics sind künftig nicht mehr allein für Jugendliche da, sondern wenden sich mit neuen Ideen und neuer Ästhetik gezielt an ein erwachsenes Publikum. Goetzingers erstes Album, Goldlöckchen, erscheint 1976. Zusammen mit Pierre Christin, der für Enki Bilal schon die Légendes d’aujoud’hui (Legenden von heute) schreibt – mit die ersten Graphic Novels, obwohl es den Begriff noch gar nicht gibt –, beginnt sie 1980 nach dem gleichen Konzept die Portraits souvenirs (erinnernde Porträts): Jeder Band erzählt das Schicksal einer Frau und steht in sich geschlossen für sich allein. In deutscher Übersetzung erscheinen aus der Reihe jedoch nur die Alben Die Diva, Das Fräulein von der Ehrenlegion und Die Frau des Sultans.

Letzteres liegt zwanzig Jahre zurück und es sah fast so aus, als sei Annie Goetzinger vom hiesigen Radar verschwunden; ihre eher leise Bildsprache scheint den Verlagen zu wenig »verkaufsträchtig«. Nun allerdings hat überraschend Kult Comics Agence Hardy ins Programm genommen – angekündigt zunächst unter dem Weglauf-Titel Agentin Hardy (und eine Agentin ist Edith wahrlich nicht, auch wenn in ihren ersten Fall Stalins Kominform und der KGB verwickelt sind), inzwischen umbenannt in Detektei Hardy (obwohl auch das kaum trifft). Im März folgt zudem Goetzingers jüngste Veröffentlichung, diesmal von ihr selbst geschrieben, in Frankreich ein beachtlicher Seller, ebenso in den USA und zuletzt auch in China: Ein Kleid von Dior – abermals eine unzulängliche, leider plumpe Übertragung des Originaltitels, Jeune fille en Dior. Denn ein Mal mehr geht es hier auch um die Geschichte einer jungen Frau.

Clara Nohant ist Journalistin, lebt im 20. Arrondissement (das gleich hinter der Place de la Nation direkt an das 12. anschließt) in bescheidenen Verhältnissen und hat gerade bei einem Modejournal angefangen. Ihr erster Auftrag führt sie ins Arrondissement de l’Élysée auf der anderen Seite der Stadt, wo am 12. Februar 1947 Christian Dior seine erste Modenschau veranstaltet. Seine Villa in der Avenue Montaigne ist eine im Stil Louis‘ XVI. inszenierte Traumwelt, genau das Gegenteil dessen, was Clara kennt. Doch fühlt sie sich davon angezogen und wird schließlich ein Mannequin des »New Look«.

Dass Annie Goetzinger vor ihrer Comic-Karriere Modedesign studiert hat, lassen die brillanten Zeichnungen deutlich spüren und machen den Band zu einer Augenweide. Jeune fille en Dior dokumentiert die große Dekade des Pariser Couturiers nach dem Krieg und ist in Zusammenarbeit mit dem Modeunternehmen entstanden. Das macht Clara jedoch keineswegs zur leblosen Schaufensterpuppe, die nur als roter Faden zwischen den biografischen Stationen dient.

Als Dior 1957 stirbt, hat gerade, nur ein Stück den Fluss aufwärts, Edith Hardy ihren zweiten Fall übernommen, der sie in die Renault-Werke auf der Seine-Insel Seguin führt. Jeune fille en Dior spielt vorwiegend in Innenräumen, doch auch dort, wo das Leben außerhalb von Diors Fantasiewelten aufscheint, zeigt sich ein luxuriöses, völlig anderes Paris als in Reuilly. So ergänzen sich Serie und Buch zu einem kaleidoskopischen Bilderbogen eines Paris, das heute nur noch in den Filmen jener Zeit existiert – und auf dem Papier.

(Alfonz 4/2016)

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