BRUEGELS ERBEN

Die Liebe der Belgier zu bunten Bildern: Brüssel ist die Comic-Hauptstadt Europas
Von Andreas C. Knigge

Für skurrile Typen hatten die Brüsseler schon immer ein Faible. Welche andere Stadt etwa hätte schon so viel Humor, ein seine Notdurft verrichtendes Manneken-Pis zu seinem Wahrzeichen machen? Und so wundert es kaum, dass man beim Schlendern über die Boulevards und durch die engen Gassen der Altstadt überall auch auf bekannte Comic-Figuren stößt wie den chaotischen Redaktionsboten Gaston Lagaffe, den detektivisch ambitionierten Reporter Ric Hochet oder den lustigen Cowboy Lucky Luke, der schneller schießt als sein Schatten.

Die sympathischen Helden sind die Verbündeten Hervé Hasquins, dessen Ministerium für Raumordnung Ende der Achtzigerjahre ein neues Konzept zur Stadtsanierung entwickelte. Lebendiger sollte alles werden, vor allem aber lebensfroher. Zehn graue Fassaden im historischen Zentrum wurden deshalb 1991 mit poppig-bunten, überlebensgroßen Gestalten aus Comic-Alben bemalt. Die originelle Idee kam an, und jedes Jahr sind seitdem weitere Motive entstanden. Ein Plan, der im Touristenbüro an der Grand Place erhältlich ist, führt den Besucher durch diesen weltweit einmaligen Bilder-Parcours.

Brüssel ist die heimliche Hauptstadt der Comics. Nirgendwo sonst in Europa leben so viele Zeichner wie im Herzen Belgiens. „Bandes dessinées“ werden ihre bunten Bilderbücher genannt, die respektvoll als „neunte Kunst“ verehrt werden. Und da jede Kunst ein Museum braucht, gibt es in Brüssel natürlich auch längst das „Centre Belge de la Bande Dessinée“, in dem sich die Originale der beliebtesten Interpreten des Sprechblasenmetiers bewundern lassen. Als erste Comic-Galerie Europas öffnete es im Oktober 1989 seine Pforten in dem ehemaligen Kaufhaus Waucquez in der rue des Sables, einem der letzten noch erhaltenen Art-Nouveau-Meisterwerke Victor Hortas.

Redet man über Brüsseler Kultur, fällt der Name Hergé in einem Atemzug mit Brel und Magritte. Hinter dem Pseudonym steckt der 1907 im Stadtteil Etterbeek geborene Georges Remi, der als der Vater der belgischen Comics gilt. Seinen klaren Strich, den Experten später „Ligne claire“ tauften, nehmen sich viele Zeichner bis heute zum Vorbild. Im Alter von 22 Jahren erfand Hergé den Reporter Tintin und dessen Terrier Milou. Inzwischen zählt Tim, so sein deutscher Name, zu den berühmtesten Comic-Helden überhaupt, seine Silhouette mit der kecken Haartolle ist ebenso bekannt wie die der Micky Maus.

Wie die Stadt, in der er geboren wurde, gibt sich Tintin kosmopolitisch. In seinen Alben, von denen bisher weltweit über 200 Millionen Exemplare verkauft wurden, bereist er Ägypten und Tibet, China und Amerika. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag wurde ihm im Wolvendael-Park ein Denkmal errichtet, das schnell zur Touristenattraktion wurde. Erst als begeisterte Fans versuchten, die Bronzestatue über Nacht zu stehlen, wurde sie ins Centre Culturel d’Uccle in Sicherheit gebracht. Ein 135 Meter langes Wandbild mit den bekanntesten Figuren aus den insgesamt 22 Tim und Struppi-Abenteuern schmückt die U-Bahn-Station Stokkel, und ein eigenes Fachgeschäft für „Tintinophiles“ findet sich in der rue de la Colline, einen Steinwurf entfernt von der Grand Place.

Ebenfalls zu den großen Brüsseler Stars gehört André Franquin, der 1946 begann, die Abenteuer von Spirou und Fantasio aufzuzeichnen. In einem Band fanden seine Helden, die es wie Tim um den Erdball und in fremde Länder treibt, eines Tages mitten im Dschungel Palumbiens ein gelb geschecktes Wundertier mit einem neun Meter langen Schwanz. So wurde das Marsupilami geboren, eine der originellsten Figuren der Comic-Welt. Und auch die Schlümpfe, die in diesem Jahr bereits ihren vierzigsten Geburtstag feiern, wurden von ihrem Schöpfer Peyo in Brüssel zu Papier gebracht.

Inzwischen sind Comics neben Bier und Schokolade längst einer der bedeutendsten Exportartikel des Landes. Über 30 Millionen Alben rollen jährlich von den Druckpressen. Was aber macht die Bandes Dessinées gerade zu einer belgischen Spezialität? „Das Land war in seiner Geschichte fortwährend besetzt, dauernd war eine Sprache verboten“, meint der Comic-Experte Charles Dienck. „Bilder waren daher über Jahrhunderte das wichtigste Kommunikationsmittel. Das ist bis heute so geblieben. Belgier kommunizieren mit Leidenschaft über Bilder.“

(Süddeutsche Zeitung, 24./25. August 2002)

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