DER GUTE ALTE CHARLIE BROWN

Eine Einführung von Andreas C. Knigge

Erst im letzten Sommer war Charles M. Schulz mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt worden, und jetzt, 1997, kündigt sich bereits das nächste Ereignis an: Auf der Peanuts-Sonntagsseite für den 16. März lehnt, wie so oft, Lucy auf Schroeders Klavier und fragt, was er da gerade gespielt habe. »Es heißt Peanuts Gallery«, antwortet Schroeder. »Ein neues Stück, das Ellen Taaffe Zwilich komponiert hat. Und wir alle sind dabei!« Zwilichs Suite für Klavier und Orchester in sechs Sätzen hat nächste Woche in der New Yorker Carnegie Hall Premiere.

Schulz schätzt die als erste Frau mit dem Pulitzerpreis für Musik ausgezeichnete Komponistin schon lange. Im Oktober 1990 sitzen in einem Strip Peppermint Patty und Marcie im Konzertsaal. »Als nächstes hören wir ein Konzert für Flöte und Orchester«, liest Patty aus dem Programm vor. »Komponiert wurde es von Ellen Taaffe Zwilich, die übrigens rein zufällig eine Frau ist!« Auf dem letzten Bild springt Marcie aus ihrem Sessel auf, reckt das Ärmchen in die Höhe und brüllt: »Gut gemacht, Ellen!«

»Stellen Sie sich vor, wie ich mich gefühlt habe, als ich den Strip eines Morgens las«, sagt Zwilich später. Es ist der Beginn einer tiefen Freundschaft, aus der nun Peanuts Gallery entstanden ist – das einzige Event mit seinen Figuren, das Schulz (hier auf Seite 33) jemals aufgreift.

Wie Carl Barks‘ Entenhausen sind die Peanuts ein hermetischer Kosmos, in dem eigene Naturgesetze herrschen – eine Comic-Welt, zu der Erwachsene keinen Zutritt haben. Zu Anfang sind sie manchmal aus dem Off zu hören, aber selbst damit hört Schulz eines Tages auf. Dennoch sagte er einmal, dass jeder, der die Peanuts »nur über einige Wochen hinweg verfolgt«, ihn kennen würde, wisse, wer er sei. »Denn alles, was ich bin, fließt in den Strip ein. Das bin ich.«

In welchem Maß das tatsächlich zutrifft, ist verblüffend. Der erste Fingerzeig in diesem Band findet sich schon auf Seite 4, als Charlie Brown erklärt, sein Vater sei Frisör. Ganz wie Schulz‘ Vater. Als Kind saß er oft Stunden in dessen kleinem Salon in St. Paul in Minnesota und hat gewartet, bis er Feierabend macht.

Er begeistert sich für die Comic-Hefte, die in den 1930er-Jahren aufkommen (149), und zeichnet viel lieber (31), als sich von widerspenstigen Drachen demütigen zu lassen (30). Kaum ist er etwas älter, wird seine Leidenschaft das Kino; später zeigt uns Schulz seine Figuren vor der Kinokasse (68) oder zitiert Lieblingsfilme wie auf Seite 207 Casablanca: Here’s looking at you, kid …

Natürlich hat auch das »kleine rothaarige Mädchen«, über das Charlie Brown hier in Bogart-Melancholie verfällt, eine Geschichte, die der ersten Liebe, über drei Jahre. Als Charles sich endlich traut, sie zu fragen, kriegt er einen Korb. 1950 war das, kurz bevor er mit den Peanuts begann. Und nur ein einziges Mal, auf Seite 220 in diesem Band, wird das kleine unerreichbare Mädchen zu sehen sein – wenigstens als Schemen.

Die Peanuts handeln von der Erinnerung – obwohl die Figuren am Rand einer Lebensphase stehen, die ihnen eines Tages wie aus dem Gedächtnis gelöscht erscheinen wird. Oder gibt es Kindheitsamnesie in ihrem Kosmos vielleicht gar nicht? »Mein Werferhügel liegt jetzt unter dem Schnee«, sagt Charlie Brown auf Seite 19. »Aber alle Erinnerungen sind noch da.«

Erinnerungen stecken auch in den Namen. Von Anfang an dabei sind Shermy und Patty. Im ersten Strip sitzen sie auf einer Stufe und Charlie Brown geht ohne ein Wort vorbei. Sherman hieß sein bester Freund in St. Paul, dem Charles mit seinem großen Hund oft Angst macht, das erste Mädchen, das er kennenlernt, Patricia. »Der gute, alte Charlie Brown«, sagt Shermy am Schluss. »Wie ich ihn hasse!«

Der Hund, mit dem sich Charles Respekt verschafft, hört auf Spike. Sein Vorgänger war Snooky. Und gleich drei Menschen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen, heißen Charles Brown. Einer von ihnen, ein Kollege an der Art Instruction School in Minneapolis, ließ sich von allen Charlie nennen (später wurde er zum Trinker und reklamierte sich in einer wütenden Autobiografie als Charlie Browns Vorbild).

Verweise finden sich überall, auf Schulz‘ Begeisterung für Eishockey (15) oder Baseball (1) wie in den an seine Anfänge erinnernden Absagen, die nun Snoopy erhält (12). Als 1959 seine zweite Tochter zur Welt kommt, kriegt prompt auch Charlie Brown eine Schwester, Sally. Und als sein Atelier abbrennt, geht kurz darauf Snoopys Hütte in Flammen auf.

Der Leser ahnt von all dem nichts. Aber er spürt, dass bei den Peanuts unter der Oberfläche aus Weisheit, Witz und Wahnsinn noch etwas vibriert – kein Hund der Welt nämlich vermag derart herzergreifend zu schluchzen wie Snoopy, als er durch das Feuer alles verloren hat: »Meine Bücher! Meine Platten! Mein Billardtisch! Mein Van Gogh! Schluchz!« Es ist die Authentizität der Erlebnisse und Erfahrungen, von denen Schulz erzählt und sie ins Komische wendet, die seine Gags so sinnreich, ja oft tiefsinnig macht.

***

Da die Zeit stillsteht in seinem Strip, lässt sich leicht vergessen, dass Schulz bereits 74 ist, als jetzt das Konzert in der Carnegie Hall Premiere feiert. Noch immer zeichnet er für jeden Wochentag einen Strip, seit fast einem halben Jahrhundert, ganz allein. Im November kann er nicht mehr und muss eine Pause einlegen, bis Mitte Januar 1998 drucken die Zeitungen – wie auch dieser Band – frühere Strips nochmals ab.

Allerdings ist Schulz trotz des Rats seiner Ärzte schon bald zurück am Zeichentisch. »Ich fühle mich am besten, wenn ich am Zeichenbrett sitze und lustige Bildchen male«, hat er einmal gesagt. »Am Zeichenbrett habe ich die Kommandogewalt. Das ist eine der wenigen Situationen in meinem Leben, in denen ich mich völlig sicher fühle.«

Zwei Jahre später jedoch muss er das Zeichnen nach einem Schlaganfall aufgeben. Auf einem der Strips, die er gerade fertiggestellt hat, versinkt Charlie Brown fast völlig in einem Knautschsessel und seufzt: »Ich sollte etwas sagen dazu, aber anscheinend bin ich weg von dieser Welt.«

Charles M. Schulz stirbt an dem Samstagabend, als gerade die Sonntagszeitungen mit seiner letzten vorproduzierten Peanuts-Seite ausgeliefert werden. Enger verschmolzen können Biografie und Werk schwerlich sein.

(Vorwort zu Die Peanuts-Werkausgabe 1997 bis 1998, Carlsen 2018)

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