DIE SCHWARZEN BRÜDER

Von Andreas C. Knigge

So etwas hat Giorgio noch nicht gesehen: Überall Menschen, die Waren begutachten und laut um die Preise feilschen. Zwischen den Marktständen Schausteller, Musikanten und seltsame Tiere. Häuser so hoch, dass die Gassen ganz im Schatten liegen, und deren Fenster er kaum zu zählen vermag. Bänke, auf denen man sitzen und ausruhen kann. Und fröhliche, ausgelassene Kinder, die vornehme Kleider tragen, wie er sie nur für Erwachsene kennt.

Giorgio hingegen ist barfuß, seine Kleider sind verdreckt und zerrissen. Durch das kleine Bergdorf im Tessin, aus dem er kommt, streifen selbst am Tag die Füchse und abends gibt es nach harter Arbeit Buchweizengrütze und nur für den Vater noch ein Stück Käse. Nach diesem trockenen Sommer, in dem nichts gedeihen wollte, hatte es für die Familie besonders schlecht gestanden. Erinnerungen wurden wach an die letzte Dürre, bei der in Giorgios Dorf die Menschen verhungerten. Also hatte der Vater das Angebot des Mannes mit der Narbe, der eines Tages im Tal aufgetaucht war, kaum ausschlagen können, den Jungen für 20 Franken nach Mailand zu verkaufen.

Lisa Tetzner und ihr Mann Kurt Held, der Autor auch der Roten Zora, haben in ihrem 1940/41 erschienenen Jugendbuchklassiker Die Schwarzen Brüder das Schicksal des 13jährigen Giorgio geschildert, der 1839 nach Mailand kommt, um sich als Kaminfeger zu verdingen. Alt genug, um arbeiten zu können, aber noch schmächtig genug, um in die engen, rußigen Schlote zu klettern, entdeckt er hier staunend eine Welt des Wohlstands, von der er selbst allerdings ausgeschlossen ist: Wenn er sein lebensgefährliches Tagwerk vollbracht hat, sperrt ihn sein Meister nach einem kargen Abendbrot in einen Bretterverschlag. Als Autorin dieser Geschichte um Kinderarbeit und Ausbeutung trat nur Tetzner auf, die mit ihrem Mann 1933 vor den Nazis ins Tessin geflüchtet war, da Held als Emigrant in der Schweiz nicht publizieren durfte.

Zusammen mit seinem Lektor Hans ten Doornkaat, der aus dem umfangreichen Original eine neue Textfassung kondensiert hat, hat der Zürcher Illustrator Hannes Binder eine atmosphärisch dichte und einfühlsame Neufassung konzipiert, in der die Geschichte weitgehend durch Bilder erzählt wird. Anders als bei seinen Comics nach Friedrich Glausers Romanen um den Wachtmeister Studer wechselt die Handlung hier zwischen Textschilderung und manchmal über mehrere Seiten verlaufenden Bildfolgen ohne Worte, die ganz für sich stehen. Binders Illustrationen sind jedoch nicht die schnellen Bilder des Comics, sondern gut durchdachte Kompositionen voller faszinierender Details, Momentaufnahmen, in die man sich vertiefen muss, hergestellt in einer aufwändigen Schabkartontechnik. Dieser Stil, bei dem weiße Linien und Flächen aus schwarzer Pappe herausgekratzt werden, hat sich als geradezu perfekt für sein Vorhaben erwiesen: „Ich wollte eine Geschichte, bei der man rußige Hände bekommt, wenn man sie liest.“

Das erste Drittel der über 600seitigen Originalvorlage, das in Giorgios Heimatdorf spielt, wurde in Binders Fassung weggelassen, wichtige Schlüsselszenen sind als Rückblenden in die Zeit nach Giorgios Ankunft in Mailand verlegt, wodurch geschickt Beziehungszusammenhänge geknüpft werden. Der Roman erzählt aber nicht nur von Armut und Ungerechtigkeit, sondern auch von Menschlichkeit, Mut, Freundschaft und Abenteuer. Durch den gleichaltrigen Alberto gerät Giorgio in die Bande der Schwarzen Brüder, zu der sich die halbwüchsigen Kaminfeger der Stadt zusammengeschlossen haben. Von nun an ist er den Erniedrigungen im Hause seines Meisters nicht mehr hilflos ausgeliefert. Und schließlich verhilft ihm die Solidarität unter den Jungen sogar zur Flucht.

Hannes Binder/Lisa Tetzner: Die Schwarzen Brüder, Sauerländer Verlag, 144 Seiten, DM 19,80

(Frankfurter Rundschau, 12. Dezember 2002)

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