BLUTSBRÜDER
Die Geschichte einer Freundschaft im „Dritten Reich“
Von Andreas C. Knigge
„Mal das Hakenkreuz nicht wieder falsch rum“, flüstert Daniel. Es ist dunkel in den Straßen von Altona, ein eisiger Wind weht von der Elbe hoch, und obwohl sie erst 13 sind, sehen die beiden Jungs mit den tief ins Gesicht gezogenen Schiebermützen im fahlen Licht der Straßenlaternen aus wie Hafenarbeiter, die gerade von der Spätschicht kommen. Eigentlich Wahnsinn, ausgerechnet mitten im Revier der Roten zu pinseln, mitten in „Klein Moskau“, aber Daniel und Armin sind ja keine Schisser. Und außerdem muss man was tun gegen diese andauernde Provokation, diesen durch die Straßen marschierenden Pöbel: Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren!
Daniel ist Armins bester Freund. Mehr noch, die beiden sind Blutsbrüder, seit jener Nacht in der Verwahrungszelle, nachdem man sie doch noch erwischt hatte. Der eine aus gutbürgerlichem Haus, der andere der Sohn eines arbeitslosen Sozialdemokraten. Was sie verbindet, ist ihre Begeisterung für die Bewegung, die den „neuen Menschen“ schaffen will. Sie spielen gerade die Schlacht an der Somme mit Zinnsoldaten nach, als im Radio Bruckners 5. Symphonie abbricht und der Sprecher verkündet, Hindenburg habe Hitler zum Reichskanzler ernannt. Begeistert stürmen Daniel und Armin aus dem Haus. Durch die Straßen ziehen Fackeln tragende SA-Männer und singen das Horst-Wessel-Lied, Zeitungsjungen verteilen Extrablätter, und überall die roten Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz.
An diesem 30. Januar 1933 spürt Daniel, dass seine Kindheit zu Ende ist: „Es ging um Leben und Tod, nicht ums Abendessen oder Fußballspielen, sondern um etwas ganz Bedeutendes. Daniel wollte auch zu denen gehören, für die es um Leben und Tod ging. Und er beschloss, in die HJ einzutreten. Jetzt konnten es ihm seine Eltern nicht mehr verbieten.“ Aber es kommt anders, denn Daniels Mutter ist Jüdin, er damit Halbjude, „Nichtarier“. Das erfährt er erst, als die Eltern seinen Aufnahmeantrag für die Hitlerjugend unterschreiben sollen, und für Daniel zerplatzt eine Welt. Zunächst hofft er, niemand würde von der Schmach erfahren, doch schon bald kursieren Gerüchte, und schließlich kann sich Daniel nicht mehr verstecken. „Du bist auf alle Fälle mein Freund“, versichert ihm Armin. „Daran wird sich nichts ändern.“
Auf einmal geht es wirklich um Leben und Tod. In seinem Roman Daniel Halber Mensch erzählt David Chotjewitz, wie das Gift der Rassenlehre langsam in das Leben der beiden Jungs sickert und ihre Freundschaft schließlich brutal zerstört: Von seinem HJ-Gebietsführer wird Armin genötigt, sich an einem Überfall auf die Familie des „Judenbastards“ zu beteiligen, Daniels Vater zu erniedrigen, zu schlagen. Der Sadismus geht auf, Armin trifft seine Entscheidung.
Als Dolmetscher der Royal Army kehrt Daniel im Juni 1945 nach Hamburg zurück, doch die Stadt, aus der er nach der Kristallnacht geflüchtet ist, gibt es nicht mehr. Armin entdeckt er bei einem Verhör deutscher Soldaten. Die Frage „Mitgliedschaft in der SS?“ auf dem Formblatt hat er mit „Nein“ beantwortet. Daniel weiß, dass Armin lügt. Jetzt muss er sich entscheiden.
David Chotjewitz: Daniel Halber Mensch. Carlsen, Hamburg 2000, 318 Seiten, 29,90 DM
(Frankfurter Rundschau, 7. Mai 2003)