VALERIAN & VERONIQUE

Pierre Christin – Jean-Claude Mézières

Das Ende war apokalyptisch. Eine Wasserstoffbombenexplosion am Nordpol hatte zur rapiden Erwärmung der Erdatmosphäre geführt, Gletscher und Polkappen waren geschmolzen, ganze Städte in den Fluten versunken. Schon nach zwei Wochen waren aus dem All nicht einmal mehr die Umrisse der Kontinente zu erkennen, die Erde ertrank. In der Zukunft des 28. Jahrhunderts weiß man wenig über die Katastrophe von 1986 und das ihr folgende dunkle Zeitalter, das über dreihundert Jahre währte, denn Raum-Zeit-Reisen in diese Epoche sind untersagt. Die Menschheit lebt inzwischen in paradiesischen Zuständen, der technische Fortschritt erlaubt ununterbrochenen Müßiggang, nur in der Hauptstadt Galaxity wird noch gearbeitet: Einige Hundert Technokraten organisieren hier die Verwaltung, die Diplomatie mit außerirdischen Zivilisationen und die Einsätze der Raum-Zeit-Agenten, die Forschungsreisen zu fernen Planeten unternehmen oder unbefugte Zeitreisende durch die Geschichte verfolgen. Das ist die eine Version, doch es gibt noch eine andere, in der die Katastrophe ausbleibt und dafür die Welt von Galaxity versinkt. Um das zu verstehen, muss man allerdings weit in die Vergangenheit reisen. Und in die Zukunft.

Es begann am 9. November 1967, als in dem französischen Comic-Magazin Pilote die erste Folge einer unscheinbaren Erzählung erschien, in der der Raum-Zeit-Agent Valerian aus dem Galaxity des Jahres 2720 ins Mittelalter aufbricht, um einen Wissenschaftler aus der Zukunft aufzuspüren, bevor der die Geschichte durcheinanderbringt. Story wie Zeichnungen schwankten unentschlossen zwischen Abenteuer und Groteske, aber immerhin begegnete Valerian in den dunklen Wäldern des Jahres 1000 einer kleinen Amazone, und da das Mädchen seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war, blieb ihm keine andere Wahl, als es mit zurück in die Zukunft zu nehmen. In Galaxity wird Veronique ebenfalls Raum-Zeit-Agentin und fortan Valerians Partnerin. Die erste gemeinsame Mission führt ausgerechnet in die verbotene Epoche, ins Jahr 1986 unmittelbar nach der Katastrophe: Im bis in den zehnten Stock überfluteten New York, in dem sich nur noch eine Handvoll Plünderer herumtreiben, müssen sie abermals dafür sorgen, dass der Lauf der Geschichte nicht manipuliert wird.

Als New York auf den Seiten von Pilote im Chaos versank, stand in der Wirklichkeit Paris in Flammen. Studenten lieferten sich im Mai 1968 Straßenschlachten mit der Polizei, zehn Millionen Franzosen waren in den Streik getreten und zwangen die Regierung de Gaulles zu sozialen Reformen. Die Rebellion gegen die verkrusteten autoritären Herrschaftsverhältnisse spiegelte sich unmittelbar in Valerian. Die nächste Raum-Zeit-Reise führte ins Reich der tausend Planeten, wo Valerian und Veronique auf dem Gestirn Syrtis in den Aufstand einer Kaufmannsgilde gegen die feudalistische Kaste der Kundigen verwickelt werden, deren maskierte Priester sich schließlich als Überlebende einer vor Jahrhunderten hier gestrandeten Raumexpedition von der Erde entpuppen. Am Ende stehen der Sturm auf den Königspalast und die Zerschlagung der absolutistischen Ordnung, eine Revolution.

Der französische Comic war gemäß seiner Ursprünge auf den Seiten klerikaler Jugendzeitschriften traditionell konservativ getränkt, die leidenschaftliche Parteilichkeit für die Linke war ein Novum. Doch Chefredakteur René Goscinny wollte ein älteres, studentisches Publikum für Pilote gewinnen, und die ökonomische Sicherheit durch den Erfolg von Asterix erlaubte Experimente jenseits der herrschenden Konventionen. In Das Land ohne Sterne (1970) entdecken Valerian und Veronique den hohlen Planeten Zabir, in dessen Innerem sich ein Matriarchat und ein Patriarchat befehden und den Unsinn erst einstellen, als eine Gefahr von außen Solidarität erfordert. Willkommen auf Alflolol (1971) schildert die Rückkehr eines bunten Haufens Psi-begabter Gesellen auf ihren Heimatplaneten, dessen Bodenschätze inzwischen jedoch von der Erde ausgebeutet werden, deren Technokraten die lebenslustigen Ureinwohner vergeblich in Reservate zu pferchen versuchen. In Die Vögel des Tyrannen (1973) helfen Valerian und Veronique ein quallenartiges Wesen zu stürzen, das einem überdimensionalen menschlichen Gehirn gleicht und die Bewohner eines abgelegenen Asteroiden in Agonie hält, und in Botschafter der Schatten (1975) widersetzen sie sich sogar ihren Vorgesetzen, die eine militärische Intervention auf dem multikulturellen Riesensatelliten Central City planen, um die Vorherrschaft der Erde im All zu sichern: Für Pierre Christin zählt die politische Kaste seines Heimatplaneten zu den eher unsympathischen Arten im Kosmos.

Retrospektiv lassen sich die Geschichten aus den Siebzigerjahren wie eine Chronik der zentralen Themen der undogmatischen Linken lesen, die Christin satirisch überspitzt reflektiert und spielerisch auf bizarre Fantasiewelten projiziert. Sein Kosmos wimmelt von schillernden Kulturen und skurrilsten Lebensformen mit widerstreitenden Interessen, aber auch zwischen Valerian und Veronique britzelt es regelmäßig: War die Rolle der Frau im Comic bislang die an der Seite des Helden, so ist es in Valerian überwiegend Veronique, die Lösungen herbeiführt, indem sie sich selbst vertraut, während sich Valerian durch seine plumpen, von Autoritätshörigkeit und Technikglauben geprägten Handlungsmuster selbst blockiert. Ende der Siebzigerjahre war Valerian die einflussreichste Serie ihres Genres geworden. Jean-Claude Mézières hatte zu einem atemberaubend barocken Zeichenstil gefunden und setzte archaische Fantasiearchitekturen ebenso spektakulär in Szene wie monumentale Zukunftsmaschinen. Keine der Welten, die er in psychedelischen Formen und Farben auf dem Papier erschuf, gleicht einer anderen – ein Einfallsreichtum, aus dem vor allem etliche Science-Fiction-Regisseure von George Lucas (Star Wars) bis Andy und Larry Wachowski (Matrix) freizügig geschöpft haben.

Christin und Mézières hatten den Erfolg nicht vorhergesehen, und langsam näherte sich das Katastrophenjahr 1986, in dem die Welt versinken sollte. Christin entsandte Valerian in die Gegenwart des Jahres 1980, wo monströse Erscheinungen für Angst und Schrecken sorgen, während Veronique in der Zukunft im Sternbild Kassiopeia ebenfalls einer Spur nachgeht. Es hat den Anschein, dass jemand auf dem Planeten Hypsis mit Hilfe zweier Großkonzerne auf der Erde plant, den Lauf der Geschichte zu ändern. Da sich zudem die Hinweise verdichten, dass die bevorstehende Nuklearkatastrophe das Resultat dieser Manipulation war, greifen Valerian und Veronique ihrerseits in die Zeit ein und verhindern die Explosion – ein Zeitparadox, das zur Spaltung des Universums und zum langsamen Erlöschen der Zukunftswelt von Galaxity führt. Die Auflösung des Durcheinanders präsentierte Christin als bissige Satire: Gott höchstpersönlich steckt hinter alledem, ein Blitze schleudernder Unsympath auf Hypsis, der aussieht wie der schmierige Orson Welles in Im Zeichen des Bösen. Ihm und seinem Sohn, einem Hippie mit gelochten Handflächen, gehören die Ausbeutungsrechte für den Weltraumquadranten, in dem die Erde ihre Bahnen zieht, und aufgrund der schlechten Geschäftsentwicklung haben sie beschlossen, die Evolution jenes Planeten noch einmal von vorn beginnen zu lassen.

Mit diesen zwei Version der Erdgeschichte hätte alles seine Ordnung haben können, doch dann lösten am 26. April 1986 zwei Explosionen die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl aus – in Valerian nur der erste einer Reihe weiterer mysteriöser Nuklear-Zwischenfälle. Valerian und Veronique, die nach dem Verbleichen von Galaxity mit ihrem mangels Wartung zunehmend klappriger werdenden Raumschiff nun auf eigene Rechnung unterwegs sind, schwant, dass sich der Lauf der Dinge abermals ändern könnte.

Pierre Christin wurde am 27. Juli 1938 in Paris geboren. Er studierte Sprach- und Politikwissenschaft an der Sorbonne und promovierte mit der Arbeit Le Fait divers: littérature du pauvre. Anschließend unterrichtete er Französisch an der Universität von Salt Lake City, wo er 1965 seinen Jugendfreund Jean-Claude Mézières wiedertraf. Zurück in Frankreich, veröffentlichten sie 1966 ihre erste gemeinsame Comic-Kurzgeschichte Le rhum du punch, die Christin mit dem Pseudonym Linus signierte, in Pilote, wo im Jahr darauf mit Schlechte Träume auch das erste Abenteuer von Valerian erschien. Ebenfalls 1967 nahm Christin eine Professur an der Universität Bordeaux an, wo er den Fachbereich Journalismus gründete. 1972 begann er die Reihe Légendes d’aujourd’hui, in der er das Genre der Polit-Fiction mit der Fantastik verband: Dem ersten von Jacques Tardi gezeichneten Band Rumeurs sur le Rouergue folgten ab 1975 fünf weitere mit Enki Bilal, von denen vor allem Treibjagd (1983), eine eisige Schilderung der verkrusteten Machtstrukturen des real existierenden Sozialismus, ein Meisterwerk wurde. Für Annie Goetzinger schrieb Christin ab 1980 die Reihe Portraits souvenirs, dann entstanden „grafische Erzählungen“ wie Los Angeles. L’étoile oubliée de Laurie Bloom (mit Bilal, 1984), Lady Polaris (Mézières, 1987) oder Le tango du disparu (Goetzinger, 1989). Mit Andreas C. Knigge gab er zum Fall der Mauer die Anthologie Durchbruch heraus, die 1990 simultan in zwölf Ländern erschien. Impressionen von seinen zahlreichen Reisen veröffentlicht er seit 1997 in der Reihe Les correspondances de Pierre Christin, und mit Annie Goetzinger begann er 2001 die im Paris der 1950er Jahre spielende Krimiserie Agènce Hardy. Neben rund 70 Comic-Alben hat Christin fünf Romane und das Drehbuch für Enki Bilals Film Bunker Palace Hôtel geschrieben sowie für das Theater und die Oper gearbeitet.

Jean-Claude Mézières kam am 23. September 1938 in Paris zur Welt. Erste Zeichnungen veröffentlichte er im Alter von 13 Jahren, zwei Jahre später begann er ein Studium an der Hochschule für angewandte Künste und zeichnete ab 1955 auch Comics für die Magazine Cœurs Vaillants und Spirou. 1961 trat Mézières in das Studio des Verlags Hachette ein, wo er u.a. an einer Histoire des civilisations mitarbeitete. 1965 traf er während einer Reise durch die USA seinen Jugendfreund Pierre Christin wieder, mit dem er zwei Jahre später Valerian in Pilote begann. Mit Ausnahme einiger Kurzgeschichten für das Magazin Métal Hurlant hat sich Mézières im Comic-Bereich weitgehend auf Valerian konzentriert. Ebenfalls mit Christin legte er 1987 die „grafische Erzählung“ Lady Polaris vor. 1991 erschien mit Die Bewohner des Himmels eine Enzyklopädie der außerirdischen Lebensformen in Valerian, der 2000 ein zweiter Band folgte. Parallel dazu arbeitete er für die Werbung, gestaltete Plakate und entwarf das Design für Luc Bessons Science-Fiction-Film Das fünfte Element (1997). 1984 wurde Mézières in Angoulême mit dem Prix Alfred ausgezeichnet.

(Andreas C. Knigge: 50 Klassiker Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 2004) 

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