BARFUSS DURCH HIROSHIMA

Keiji Nakazawa

1945, 6. August, 8 Uhr 13 Ortszeit. Am wolkenlosen Himmel über der Südküste Japans erhält der Schütze Tom Feerebee an Bord der Enola Gay per Funk den Befehl zum Abwurf. Zwei Minuten und siebzehn Sekunden später ist die B-29 in 10.400 Meter Höhe über Hiroshima in Position. Feerebee klinkt die tödliche Last aus; nach fünfundvierzig Sekunden explodiert sie über der 310.000-Einwohner-Stadt in einem bläulichen Blitz, der seine grellen Strahlen bis an den Horizont wirft. Als dann der aufsteigende Atompilz den Himmel verdunkelt, notiert der Co-Pilot der Enola Gay nur einen Satz in das Bordbuch: „Mein Gott, was haben wir getan?“ Am Boden sind auf der Stelle achtigtausend Zivilisten verbrannt, sechzigtausend weitere sterben bis Ende des Jahres. Die Bombe war drei Meter lang und wog vier Tonnen, doch ihre Zerstörungskraft entsprach zwanzigtausend Tonnen konventionellen Sprengstoffs. Die amerikanischen Militärs hatten ihrer neuen Wunderwaffe den Namen Little Boy gegeben.

Ein kleiner Junge sah die Enola Gay an jenem Morgen am Himmel über Hiroshima schweben. Dann sah er, wie etwas von dem Flugzeug herabfiel. Keiji Nakazawa war am 6. August 1945 sechs Jahre alt und hatte Glück: „Als die Bombe fiel, stand ich hinter einer Betonmauer vor meiner Schule und spürte nur die Hitze im Nacken. Wie durch ein Wunder kam ich mit leichten Verbrennungen davon. Ich war gut einen Kilometer vom Zentrum der Explosion entfernt, in diesem Radius haben nur sehr wenige überlebt. Die Mutter eines Mitschülers, mit der ich eben noch gesprochen hatte, lag neben mir auf der Straße, verkohlt. Mein Vater, meine Schwester und mein Bruder wurden unter unserem Haus verschüttet und verbrannten. Meine Mutter, die gerade Wäsche aufhängte, wurde vom Dach des Hauses vor dem Hitzeblitz geschützt und blieb unverletzt. Sie war im neunten Monat schwanger und brachte das Baby inmitten der nuklearen Hölle am Straßenrand zur Welt. Meine Schwester starb nach vier Monaten.“ Die japanischen Behörden registrierten Nakazawa als Strahlenopfer mit der Nummer 0019760.

Zwanzig Jahre später war aus dem Jungen ein junger Mann geworden, der in Tokio lebte und Comics zeichnete. „Damals war die Atombombe das letzte, mit dem ich mich beschäftigen wollte, ich konnte noch nicht einmal das Wort ertragen“, erinnerte sich Nakazawa später aus gutem Grund: Strahlenopfer wurden von vielen wie Aussätzige behandelt, also begrub er seine Geschichte. „In dem Glauben, dass Comics unterhalten sollen, zeichnete ich Science-Fiction- und Baseball-Serien. Aber als dann im Oktober 1966 meine Mutter nach zwanzig Jahren qualvoller Schmerzen an den Folgen der Verstrahlung starb und eingeäschert wurde, machte ich eine furchtbare Entdeckung, die mich in ohnmächtige Wut versetzte: Kein Knochen war übriggeblieben, das radioaktive Cäsium hatte sie zerfressen, sie waren einfach zu Asche zerfallen. Die Bombe hatte mir alles genommen, selbst die Knochen meiner Mutter. Und neben allem Zorn, der in mir brannte, spürte ich ihr gegenüber die Verpflichtung, die Wahrheit zu erzählen.“ Ab 1968 zeichnete Nakazawa eine Reihe von Abenteuergeschichten, die vom Krieg, von seinen Folgen und seinen Ursachen handelten, und schließlich ermutigte ihn sein Redakteur Tadasu Nagano, das Erlebte als Erzählung aufzuzeichnen. Das Ergebnis erschien 1972 in Form der 48seitigen Geschichte Ore wa Mita (Ich habe es gesehen). Noch im gleichen Jahr begann er in Shonen Jump, dem größten japanischen Comic-Magazin, Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima).

Barfuß durch Hiroshima setzt vier Monate vor der Katastrophe mit der Schilderung der totalen Militarisierung des japanischen Alltags und der Repressalien gegen seine Eltern ein, die als Kriegsgegner auch von den Nachbarn als Verräter beschimpft und ausgegrenzt werden. Isoliert und ohne Unterstützung, lebt die Familie in bitterer Armut, in einer Szene streiten sich die beiden Söhne sogar um ein einzelnes Reiskorn. Nakazawa selbst hat sich in seiner Erzählung den Namen Gen gegeben, was im Japanischen „Wurzel“ oder „Quelle“ bedeutet: „Das geschah in der Hoffnung, dass der Name zum Quell der Kraft für eine neue Generation werden mag, die eines Tages wieder barfuß über die verbrannte Erde von Hiroshima geht und den Mut hat, dem atomaren Wettrüsten eine Absage zu erteilen.“ Der 6. August, ein Montag, bricht auf Seite 244 an und verspricht ein schöner Sommertag zu werden. Als Gen auf dem Weg zur Schule ist, sieht er über sich am blauen Himmel den Rumpf eines Bombers in der Sonne glitzern und wundert sich, dass es keinen Luftalarm gibt. Dann sieht er, wie etwas von dem Flugzeug herabfällt.

Gens Rückkehr zum Elternhaus, durch die mit Verbrannten und Sterbenden übersäten Straßen der weggeblasenen Stadt taumelnd, Panik und Hilflosigkeit, der Abschied von dem kleinen Bruder Shinji, den er nicht mehr aus den Trümmern befreien kann, als die Flammenwand heranrast – all das ist erlebt und dennoch in hölzern wirkenden Zeichnungen geradezu nüchtern geschildert. Der erste Band endet mit der durch den Schock verursachten Niederkunft der Mutter inmitten des Infernos. Verzweifelt hält sie das Baby in Richtung des Flammenmeers: „Denk immer daran, das hat uns Vater, Bruder und Schwester geraubt. Das ist der Krieg. Wenn du groß bist, darfst du nicht zulassen, dass so etwas jemals wieder geschieht!“

Das Überleben der folgenden Wochen – den Abwurf der zweiten Bombe auf Nagasaki, die Kapitulation, die Irreise durch die Provinz, die Massengräber, die Suche nach Essbarem – hat Nakazawa in drei anschließenden Bänden geschildert. Die Geschichte endet nach neunhundert Seiten, als die kleine Schwester Tomoko in Gens Armen stirbt. Aber auch damit, dass Gen entdeckt, dass ihm das ausgefallene Kopfhaar nachzuwachsen beginnt – vielleicht war die Zukunft ja doch noch nicht verloren.

Keiji Nakazawa wurde 1939 in Hiroshima geboren. Im Alter von sechs Jahren überlebte er den Atombombenabwurf über seiner Geburtsstadt und wuchs inmitten von Trümmern und Armut auf; etwas Abwechslung vom trostlosen Nachkriegsalltag boten ihm die Mangas von Osamu Tezuka. Nach seinem Schulabschluss arbeitete Nakazawa zunächst als Schildermaler, dann zog er nach Tokio und begann ab 1962 eigene Sport- und Abenteuer-Mangas zu zeichnen. Mit Kuroi Ame ni Utarete (Unter schwarzem Regen) erzählte er 1968 zum ersten Mal eine Geschichte vor dem authentisch geschilderten Hintergrund des atomaren Holocaust, zwei Jahre später sprach er in Aru hi Totsuzen ni (Plötzlich, eines Tages) auch die japanische Mitschuld an der Katastrophe an, ein bislang kollektiv verdrängtes Thema. 1972 zeichnete Nakazawa mit Ore wa Mita (Ich habe es gesehen) seine erste autobiografische Erzählung, und noch im gleichen Jahr begann er die umfangreichere Geschichte Hadashi no Gen (Barfuß durch Hiroshima), die mit schlussendlich über 2.000 Seiten sein Lebenswerk werden sollte: Die Kernerzählung wurde in vier Bänden nachgedruckt, anschließend folgten sechs weitere Bände. Daneben entstanden zahlreiche andere Arbeiten, deren thematisches Spektrum von der Comedy bis zur Polit-Fiction reicht. Japanische Friedensaktivisten gründeten 1976 das Project Gen, um Hadashi no Gen in andere Sprachen zu übersetzen; als erster Manga überhaupt erschien die Erzählung in den USA, in Frankreich, Deutschland, Norwegen, Schweden, Italien, Portugal, Russland, Indonesien und Korea. Anfang der 1980er Jahre begann sich Nakazawa als Autor und Produzent der Verfilmung von Hadashi no Gen als Anime zu widmen und hat inzwischen auch Realfilme produziert.

(Andreas C. Knigge: 50 Klassiker Comics. Von Lyonel Feininger bis Art Spiegelman, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 2004) 

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