HIS IDEAS MADE SOME PEOPLE MAD
Frank Miller und das amerikanische Babylon
Von Andreas C. Knigge
This old town is filled with sin
it will swallow you in
if you’ve got some money to burn
Gram Parsons‘ Sin City, im Woodstock-Jahr 1969 erschienen auf The Gilded Palace of Sin, dem ersten Album der Flying Burrito Brothers, war als bissiger Hieb gegen die Musikindustrie gemeint, die den Traum von einer freien und friedlichen Gesellschaft hemmungslos absorbierte und begonnen hatte, den Soundtrack der Gegenkultur kommerziell auszuschlachten. Den profitgierigen Plattenbossen prophezeite der Song Finsteres:
It seems like this whole town’s insane
on the 31st floor, a gold-plated door
won’t keep out the Lord’s burning rain
Würde es Frank Miller nicht zurückweisen, könnte man auf den Gedanken kommen, er habe diesen Refrain vielleicht im Ohr gehabt, als er gut zwei Jahrzehnte später eine Story in einer Jubiläumsausgabe des Comic-Heftes Dark Horse Presents ebenfalls mit Sin City betitelte. Denn auch er wählte Los Angeles als Vorbild für seinen Sündenpfuhl und stilisierte die Stadt zur Kloake des Irrsinns, in der Habgier und Korruption regieren, zu einem amerikanischen Babylon. Und wie Parsons‘ Song war auch Millers Sin City in der Konsequenz ein Hieb gegen einen Zweig der Unterhaltungsindustrie, gegen die Comic-Branche, die er mit diesem Schlag bis ins Mark erschütterte. (Gram Parsons war weniger Glück beschieden. Obwohl The Gilded Palace of Sin als erstes echtes Country-Rock-Album in die Annalen der Popmusik eingegangen ist und die Flying Burritos längst als authentischste Band des Genres gelten, schaffte es die Platte damals nur knapp in die Top 100. Parsons setzte sich 1973, 26jährig, im Tequila-Rausch den goldenen Schuss.)
A friend came around
tried to clean up this town
his ideas made some people mad
Als die erste Episode von Sin City im April 1991 in der Jubiläumsausgabe zum fünfjährigen Bestehen des Verlags Dark Horse Comics erschien, war Miller bereits seit einigen Jahren der unumstrittene Superstar der amerikanischen Comic-Szene, eine wandelnde Legende. 1957 in einem Kaff im ländlichen Maryland zur Welt gekommen, aufgewachsen als Comic-Book-Junkie und mit Mickey-Spillane-Romanen, zog er als 20jähriger nach New York City – „das ich bislang nur aus Filmen und Comics kannte“ –, um Comic-Zeichner zu werden. „Zeichnen war alles, was ich wollte“, erinnerte sich Miller später. „Ich hatte einen Stapel Entwürfe für Crime-Storys mit harten Kerlen in Trenchcoats und mit dicken Kanonen. Aber in den Verlagen machte man mir schnell klar, dass das einzige, was sie interessierte, Superhelden-Storys waren.“ Seine ersten Monate in New York verbrachte Miller ohne Job, ohne Geld, ohne feste Bleibe, ohne Freunde.
Hilfe kam schließlich von Neal Adams, dem Zeichenstar der Siebziger. Adams hatte mit seinem dynamischen Strich die von Jack Kirby geprägte, erdige Ästhetik der Comic-Books revolutioniert und seinen Storys einen atemberaubenden Realismus eingehaucht. Er nahm den Novizen unter seine Fittiche, vermittelte ihm erste Jobs, und 1979 schließlich vertraute Marvel Miller die Serie Daredevil an. Die Reihe um den blinden Superhelden, dessen Abenteuer Gene Colan zuvor dreizehn Jahre lang gestaltet hatte, lief gerade noch gut genug, um nicht begraben zu werden. Miller komponierte eine temporeiche Erzählung aus gewagten Perspektiven und rasanten Schnitten, verblüffte durch aufregende Layouts und Bildformate und schlug den fatalistisch-brutalen Ton der hard boiled-Kriminalromane an. Zwei Jahre später war Daredevil der bestverkaufte Marvel-Titel. Vor allem seine tragische Heldin Elektra – Daredevils Jugendliebe, die sich aber für die andere Seite entschieden hatte, und zu der Miller gleichermaßen die Schwester des Orest in Aischylos‘ Tragödie über den Irrsinn der Blutrache wie Will Eisners Sand Saref inspiriert hatten – begeisterte die Fanboys. Miller war zum heißesten Zeichner der amerikanischen Comic-Szene avanciert.
Just in diesem Moment erlebte der Comic-Markt in den USA eine dramatische Veränderung. Das Business war auf ein neues Rekordtief geschrumpft, mit 150 Millionen Heften wurden sogar noch weniger Comic-Books abgesetzt als im Crash-Jahr 1954, als die Zensurbestimmungen des Comics Codes zu einem Kahlschlag in der Verlagslandschaft geführt hatten. Marvel probierte den Befreiungsschlag mit einem gewagten Versuch und lieferte seine neue Serie Dazzler im März 1981 nicht mehr über Kioske und Supermärkte aus, sondern vertrieb das Heft ausschließlich über die Comic-Shops, die man bislang kaum ernst genommen hatte: die meisten wurden schließlich von Nerds mit ungewaschenen Haaren betrieben und verfügten nicht einmal über eine Registrierkasse. Es wurden 300.000 Exemplare verkauft, und dieser überraschende Erfolg führte in der Konsequenz zu einer völlig neuen Vertriebsstrategie, der direkt sales market war geboren. Dass das Comic-Heft so vom Massenmedium zum Special-interest-Thema wurde, bedeutete auch, dass man das breite Publikum ignorieren und Experimente nicht nur riskieren konnte, sondern sogar musste, um das Interesse der nun überwiegend aus Fans und Sammlern bestehenden Zielgruppe zu wecken. Frank Miller sollte zu einer Schlüsselfigur dieser Entwicklung werden.
Schon in Daredevil hatte Miller leidenschaftlich Ninjas auftreten und seine Elektra exzessiv fernöstliche Kampftechniken vorführen lassen. Als er von Marvels Konkurrenten DC das außergewöhnliche Angebot erhielt, unter Zusicherung weitgehender künstlerischer Freiheiten ein eigenes Projekt zu entwickeln, lehnte er sich auch stilistisch stark an die japanischen Mangas an, die er kurz zuvor entdeckt hatte, und deren rasante visuelle Erzähltechnik ihn begeisterte. Ronin, die komplexe und alle Konventionen sprengende Geschichte um einen im New York des beginnenden 21. Jahrhunderts reinkarnierten Samurai, erschien ab Juli 1983, aufwendigst produziert und völlig anzeigenfrei, als sechsbändige Miniserie – doch was eine Sensation hätte sein müssen geriet zur Enttäuschung. Selbst die Kritik war überfordert und reagierte mit konfusem Unverständnis. „Ich hatte gehofft, einen neuen Trend anzustoßen“, so Miller später. „Aber ich musste mich zehn Jahre gedulden, bis die Dinge endlich ins Rollen gerieten.“
Enttäuscht kehrte Miller New York den Rücken und zog nach Los Angeles. Zwei Jahre blieb es still um ihn, doch dann, im März 1986, feierte er mit der vierbändigen Miniserie The Dark Knight Returns um einen gealterten und verbitterten Batman, der sich noch einmal in sein Fledermaus-Kostüm zwängt, um seine letzte Schlacht zu schlagen, ein furioses Comeback. „Es gab dieses seltsame Missverständnis, dass Superhelden ausschließlich etwas für Kinder seien“, so Miller. „Die Welt der Comic-Hefte war so erschreckend infantil und unrealistisch, dass es niemanden irritierte, dass irgendwelche Typen in ein Kostüm schlüpften und im Namen der Gerechtigkeit um sich droschen.“ Millers paranoider Batman mischte die Superhelden-Comics auf, sein Dunkler Ritter wurde 1986 DCs größter Verkaufserfolg und zog eine ganze Legion anderer düsterer und zynischer Helden nach sich, die sich ähnlich „grim and gritty“ gaben.
Miller hatte Batman zu einer Popularität verholfen, die die Figur seit dem Film Batman hält die Welt in Atem (1966) nicht mehr genossen hatte, doch er fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Rolle: „Ich kam mir vor wie ein Grabräuber. Ich arbeitete mit Charakteren, die andere Künstler zwei Generationen zuvor geschaffen hatten. Und ich sagte mir: ‚Wenn meine Generation jemals zum Zug kommen will, dann müssen wir damit aufhören, die Vergangenheit zu plündern.‘“ DC allerdings hatte andere Interessen. Warner Communications, zu der der Verlag gehörte, bereitete die Fusion mit dem Medienkonzern Time vor, Batman sollte – vor allem in Form eines 50 Millionen Dollar teuren Kinofilms von Tim Burton – das nötige Kapital in die Kassen spülen. Miller verspürte wenig Lust, zum Rädchen in einer gigantischen Marketing-Maschinerie zu werden, bezüglich seiner Kreativität abhängig von den Direktiven des Verlags, dem die Charaktere, die er zeichnete, gehörten, ohne Rechte an seiner Arbeit. Zudem ärgerte ihn die Diskussion um die Einführung eines verlagsinternen Rating-Systems, das aus seiner Sicht eine künstlerische Bevormundung darstellte. Er stieg aus.
Die neuen Vertriebsstrukturen des direkt sales market und die rasant wachsende Zahl von Comic-Shops hatten in der Zwischenzeit auch die Verlagslandschaft verändert und zu einer Reihe kleinerer independent publishers geführt. „Der Comic-Markt war damals völlig einseitig, es gab nichts als Superhelden“, so Mike Richardson, der 1985 2.000 Dollar zusammengekratzt und Dark Horse Comics gegründet hatte. „Ich wollte Comics machen, die ich selbst lesen wollte. Ich wollte ein vielseitiges Programm mit interessanten Geschichten, und ich wollte, dass die Künstler die Rechte an ihren Arbeiten behielten.“ Das war genau das, wovon Miller immer geträumt hatte und womit er bei den beiden Giganten Marvel und DC auf wenig Gegenliebe gestoßen war.
Miller dockte bei Dark Horse an. Der Verlag wuchs und gedieh inzwischen prächtig, Miller jedoch schien sich in seiner neuen Rolle erst einmal zurechtfinden zu müssen: Zwei Jahre lang (in denen er das Drehbuch für Irvin Kershners Robocop II schrieb) hatte er nicht gezeichnet, „das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so lange keine Comics gemacht hatte“. Die beiden Projekte Give Me Liberty und Hard Boiled, die er als Autor für Dave Gibbons und Geof Darrow konzipierte und schrieb, blieben kommerziell hinter den Erwartungen zurück. Aber dann wagte er sich an eine Idee, die ihm bereits am Herzen gelegen hatte, als er vor über zehn Jahren aus der Provinz nach New York gekommen war, um Comic-Zeichner zu werden: eine graphic novel mit der düsteren Atmosphäre und dem rauen Zungenschlag der Romane von Mickey Spillane. Das Ergebnis war Sin City.
Ich begegnete Frank Miller im Sommer 1991 während der Comic Convention in San Diego. David Scroggy, Vice President von Dark Horse, hatte ein paar Freunde zu einer Party in seine Suite im Westgate Hotel eingeladen. Ich traf Miller beim Rauchen auf dem Balkon und erzählte, dass ich The Dark Knight Returns in Deutschland verlegt und gerade auch mit Ronin begonnen hätte. „I have something new“, sagte er. „It’s black and white. You have to see it.“ Wir verabredeten uns für den nächsten Tag in der Lobby seines Hotels, doch kaum hatten wir uns in eine Ecke gesetzt, stand plötzlich Jack Kirby vor uns. „This guy is doing my stuff in Germany“, stellte Miller mich vor. „My pleasure“, nickte Kirby höflich. „Good taste.“ Und dann: „I am hungry, what about you guys?“ Wir brachen auf, um ein Restaurant zu suchen, und so bekam ich Sin City erst etliche Wochen später in gedruckter Form zu sehen. Noch bevor die erste Story in Dark Horse Presents 62 abgeschlossen war, hatte ich die deutschen Rechte gekauft. (Der deutschen Erstausgabe sollte es dann allerdings nicht besser gehen als seinerzeit Ronin in den USA – auch in diesem Fall mussten erst zehn Jahre geduldigen Wartens ins Land gehen.)
Dass ein Starzeichner wie Frank Miller den Marktführern den Finger zeigte und lieber bei einem kleineren unabhängigen Verlag veröffentlichte, wirkte wie ein Signal zum Aufbruch, viele andere Künstler wie Alan Moore oder Howard Chaykin folgten seinem Beispiel. Das Monopol von Marvel und DC, die den amerikanischen Comic-Markt über Jahrzehnte dominiert hatten, war gebrochen. „Von all den Dingen, die ich in meinem Leben getan habe, bin ich darauf am meisten stolz“, hat Miller einmal gesagt. „Manchmal wünschte ich nur, ich hätte es früher getan. Sin City hätte ich niemals machen können, ohne Spillane und all die anderen hard boiled-Autoren gelesen zu haben. Und natürlich auch nicht ohne die großartigen Werke des Film noir.“
Die Autoren des hard boiled-Genres haben sich im Gegensatz zu denen der viktorianischen mystery stories wie Edgar Allan Poe oder Arthur Conan Doyle weniger für das Verbrechen selbst und dessen Aufklärung durch das Deuten von Spuren und Hinweisen und cleveres Kombinieren interessiert, sondern drückten in ihrem ungeschminkten Realismus vielmehr eine Haltung zum Verbrechen aus, kommentierten in einer knappen, lakonischen Sprache den Zustand der amerikanischen Gesellschaft. Dashiell Hammett, der als Begründer der Gattung gilt (tatsächlich gebührt dieses Verdienst dem heute vergessenen Carroll John Daly, dessen The False Burton Combs Anfang 1922 erschienen war), veröffentlichte zuerst in Pulp-Magazinen, billigen, reißerischen Groschenheften, deren Format und Themen die Vorlage für die frühen Comic-Books lieferten. Er wusste, wovon er erzählte, denn bevor er mit dem Schreiben begann, hatte er acht Jahre als Detektiv für die Pinkerton-Agentur gearbeitet. Das hatte gereicht, um ihm jeden Glauben an Gerechtigkeit in der modernen Massengesellschaft, deren Reichtum und Wohlstand auf Gewalt und Betrug gründeten, zu rauben.
Das organisierte Gangstertum, das in den Jahren der Prohibition prosperierte und die Schlagzeilen der Tageszeitungen bestimmte – allein 1931 forderten die Schießereien nur in den Straßen von Chicago 486 Todesopfer –, hatte längst auch Polizei und Justiz infiziert. Die amerikanische Stadt war zum mörderischen Asphaltdschungel geworden, ein modernes Babylon, in dem die Politiker korrupt, die Cops gekauft und die Sünde billig waren. Hammetts Sam Spade, der einsame, wortkarge und desillusionierte Privatdetektiv, der für zehn Dollar am Tag plus Spesen zur letzten Instanz der Gerechtigkeit in einer von Gott verlassenen Welt wurde, avancierte zu einer der großen literarischen Heldenfiguren des 20. Jahrhunderts. Andere Autoren taten ihm nach und gaben dem private eye neue Gesichter. Während etwa Raymond Chandler seinen Phil Marlowe melodramatisch romantisierte, machte Mickey Spillane Mike Hammer zum wütenden Rammbock, der die Dinge bis zur letzten Konsequenz zu Ende brachte: „Jetzt bin ich der Richter und das Gericht, und ich muss ein Versprechen einlösen“, sagte Hammer, als er 1947 am Schluss von I, the Jury den Mörder seines Kumpels erschoss, eine atemberaubende Blondine.
Das Donnern meiner .45er erschütterte den Raum. Charlotte taumelte zurück. In ihren Augen stand Fassungslosigkeit. Langsam blickte sie hinunter auf das Loch in ihrem nackten Unterleib. Ein dünner Strom Blut rann heraus.
„Wie konntest du …?“ keuchte sie.
Mir blieb nur ein kurzer Augenblick, bevor ich zu einer Leiche sprechen würde, aber ich schaffte die Antwort gerade noch.
„Es war leicht“, sagte ich.
Danach war der Kriminalroman nicht mehr derselbe. Obwohl von Kollegen wie Chandler als Pornograph beschimpft, von der Kritik als faschistoid und rassistisch geschmäht, wurde Spillane zum populärsten amerikanischen Autor der Fünfzigerjahre, der sich selbst gerne als „Kaugummi der Nation“ bezeichnete. Ein Satz, der auch von Frank Miller stammen könnte, dessen Marv in der vorliegenden Erzählung nicht nur wie ein in die heutige Zeit gebeamter Mike Hammer wirkt, sondern der mit Sin City auch ganz ähnliche Reaktionen auslöste wie einst I, the Jury. Allerdings ist Miller noch einen Schritt weitergegangen als Spillane, denn in seiner Sündenstadt verspricht nicht einmal mehr ein Privatdetektiv Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit. Marv stirbt am Ende auf dem elektrischen Stuhl. In Millers korrupter Welt ist das Böse bereits so mächtig geworden, dass ihm nicht mehr beizukommen ist.
Da der Film das gefräßigste aller Medien ist, griff schon bald Hollywood ausgiebig auf die Romane vieler hard boiled-Autoren zurück. Nach John Hustons Verfilmung von Hammetts The Maltese Falcon mit Humphrey Bogart als Sam Spade kam es in den Vierzigerjahren zu einem regelrechten Boom von Filmen, in deren Düsternis, Desillusion und Zynismus sich die Stimmung einer in die Krise geratenen Gesellschaft abbildete und für die der französische Filmkritiker Nino Frank 1946 in einem Essay den Begriff Film noir prägte. Die Bezeichnung war zwar als Anspielung auf die Série noire gemeint, in der die Romanvorlagen in Frankreich bei Gallimard erschienen, geradezu charakteristisch für diese Werke war jedoch vor allem ihre schwarz-weiße, vom Expressionismus des deutschen Stummfilms beeinflusste Ästhetik, die den filmischen Raum durch scharfe Kontraste aus Licht und Schatten dramaturgisch parzelliert und ihm Spannung verleiht. Frank Miller hat diese Technik aufgegriffen und durch manchmal wie Linolschnitte oder Fotonegative wirkende Bilder ins Extrem gesteigert. Ganz in der Tradition der Noir-Regisseure behandelt er bei der Ausleuchtung seiner Panels Raum, Objekte und Personen gleichrangig, so dass seine Figuren verdinglicht und noch verlorener wirken, als sie es in ihrer aus den Fugen geratenen Welt ohnehin schon sind.
Über diesen Bezug zur Ästhetik des Film noir hinaus gab es für Miller noch einen weiteren Grund, bei Sin City auf Farbe zu verzichten. Noch bevor die ausschließlich schwarz-weiß erscheinenden Mangas in den USA Fuß fassten, hatte Miller Goseki Kojimas Samurai-Epos Kozure Okami entdeckt. Er war fasziniert von der gleichermaßen einfachen wie funktionalen Erzählweise, „die fast wie ein Daumenkino funktioniert“, und half bei der Herausgabe einer amerikanischen Ausgabe, für die er auch die Cover zeichnete: „Was die Einfachheit und Funktionalität der Zeichnungen betrifft, ist Sin City meine am stärksten vom Manga beeinflusste Arbeit. Ich denke, dass sich von den japanischen Comics eine Menge lernen lässt. Und vor allem finde ich viele ihrer Konventionen amüsant – etwa dass die Figuren Nasenbluten bekommen, wenn sie sexuell erregt sind.“ In der folgenden Story hat Marvs Erregung zwar andere Gründe, doch Blut fließt trotzdem reichlich. Bis am Schluss die Henkersmahlzeit serviert wird.
Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seitdem Marv sein letztes Steak heruntergeschlungen und das letzte Bier hinterhergekippt hat. Doch nun ist er wieder da und in den Körper von Mickey Rourke geschlüpft, in einer von drei Sin City-Storys, aus denen der The Faculty– und Spy Kids-Regisseur Robert Rodriguez, der von sich sagt, in seiner Bildsprache stark von Millers Comics beeinflusst zu sein, einen Kinofilm gemacht hat. „Es ist wirklich cool, wenn eine Szene mit richtigen Schauspielern entsteht“, hat Miller die Dreharbeiten kommentiert. „Die Bezahlung ist großartig, die Arbeit macht Spaß, aber ich könnte mir nie vorstellen, das zum Schwerpunkt meiner Arbeit zu machen.“ Dennoch wird 2005 für Miller ein großes Kinojahr werden, in dem nicht nur Sin City, sondern auch seine Elektra auf die Leinwand kommt.
„Während eines Drehs muss ich jeden Tag zeichnen“, betont Miller. „Das brauche ich dann, um einen freien Kopf zu behalten.“ Dass seine Ideen, mit denen er einige Leute wahnsinnig gemacht hat (falls Sie sich noch an die Zeile von Gram Parsons erinnern), nun den Weg sogar bis nach Hollywood gefunden haben, ist wie ein nachträglicher Applaus für Frank Miller, der sich lieber mit den Mächtigen angelegt hat, anstatt sich selbst untreu zu werden. Und der gewonnen hat.
(Sin City, Vorwort zu Bd. 1, Cross Cult, Asperg 2005)