SCHWARZE GEDANKEN

Von Andreas C. Knigge | Vor knapp neun Monaten erschien das »Heft der Überlebenden« und fast möchte man glauben, Charlie Hebdo habe sich wieder gefangen. Doch sind nun die Medien im Begriff, zu Ende zu bringen, was den Attentätern nicht gelang. Warum das so ist, expliziert eine Stimme aus dem Jenseits.

Die Rue Béranger liegt einen Steinwurf entfernt von der Place de la République, auf der am Sockel der Marianne noch immer »Je suis Charlie« prangt. Auf dem Platz sollte am 11. Januar die Marche Républicaine ihren Anfang nehmen und kam dann kaum voran, weil allein in Paris anderthalb Millionen Menschen auf der Straße waren, mit dabei Dutzende Staats- und Regierungschefs, die größte Demonstration in der Geschichte Frankreichs.

Trotz der Gendarmen an der Ecke zum Boulevard du Temple fällt die schmale Einbahnstraße fast nicht auf, denn bewaffnete Militärs in Tarnanzügen sind derzeit im Pariser Stadtbild überall präsent, in Métro-Stationen wie vor Schulen und Museen. Doch als wir in die Béranger einbiegen, stutzt selbst der Taxifahrer. Alle zwanzig Meter ein Posten mit Maschinengewehr, der Eingang zur Tageszeitung Libération weiträumig abgesperrt, Security-Leute mit kugelsicheren Westen. Ich bezahle das Taxi und als ich mich umdrehe, blicke ich in zwei Mündungen.

Ich treffe mich hier, wo Charlie Hebdo sein Notquartier hat, mit Gérard Biard, dem neuen Chefredakteur, der vielleicht nur deshalb noch am Leben ist, weil er am 7. Januar gerade in London war. Inzwischen ist ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, wie auf beinahe jeden bei Charlie. Niemand, das hatte er mir schon vorab gemailt, kommt in das Gebäude, der nicht persönlich abgeholt wird. Da wir zum Essen verabredet sind, warte ich unten. Kein Mensch betritt oder verlässt die Redaktion während dieser Zeit, später erfahre ich, dass die Mitarbeiter derzeit nur einen Hintereingang durch die Parkgarage benutzen.

Nach zehn Minuten kommt Gérard aus der Tür. Mit seinen beiden Bodyguards im Schlepptau machen wir uns auf den Weg zu einem nahegelegenen Restaurant, vor dem ebenfalls schon ein Gendarm mit MG steht. Die Leibwächter bleiben am Eingang, wir nehmen ganz hinten in einer von außen nicht einsehbaren Ecke Platz. Gérard legt die aktuelle Ausgabe auf den Tisch, »Sauvez l’Europe«, lautet der Titel, rettet Europa. Die Zeichnung dazu von Laurent »Riss« Sourisseau, der das Attentat mit einem Schuss in die Schulter überlebte, zeigt Christian Noyer, Gouverneur der französischen Nationalbank, der den Kopf eines Mannes in einen Wasserbottich drückt: »Noyer un Grec« – ertränke einen Griechen.

»Was ist los?«, will ich wissen, als wir bestellt haben. »Geht es etwa tatsächlich ums Geld?« Auch deutsche Zeitungen berichten mittlerweile von Zerwürfnissen, gar Fehden bei Charlie. Die wichtigsten Stimmen des Blattes seien »verstummt, und die Überlebenden kommen mit ihrer neuen Rolle kaum zurecht«, meint der Spiegel und spricht von einer »komplizierten Analyse«; »Charlie Hebdo vor dem Aus«, so die Süddeutsche Zeitung. »Keiner will mehr Charlie sein«, titelte am Donnerstag vor unserem Treffen (völlig unpassend zu einem dann brillanten Dossier) die Zeit. Und immer wieder ist von den dreißig Millionen die Rede, die das Heft der Überlebenden, das sich sensationelle acht Millionen Mal verkauft hat, über zweihunderttausend Solidaritäts-Abonnements und Spenden von mehr als vier Millionen Euro einbrachten, Charlie ist so reich wie noch nie.

»Ach was«, sagt Gérard. »Das Problem ist vielmehr, dass man uns seit Monaten rund um die Uhr observiert. Wer hält das aus nach einem derart traumatisierenden Vorfall? Die Nerven liegen blank, wir alle sind in therapeutischer Behandlung, da kommt es schneller zu Reibereien, ein zahmer Haufen waren wir ja nie. Das sind die Nachwirkungen eines solchen Anschlags, mit dem man vielleicht sein Leben lang nicht fertig wird.« Seit dem Attentat lauern Zeitungen, Radio- und TV-Sender auf eine neue Story, stellen Verwandten und Freunden der Opfer nach, verfolgen Zeichner auf Schritt und Tritt und tun so das Ihre, um Zwistigkeiten zu befeuern. Die laufende Berichterstattung im französischen Fernsehen trägt längst die Züge einer Daily Soap.

Deren erster Höhepunkt ist ein Konflikt zwischen der Redaktion und der Religionssoziologin und Kolumnistin Zineb El Rhazoui, Autorin auch der beiden von Charb gezeichneten Alben La vie de Mahomet, seit deren Erscheinen vor zwei Jahren sie nach ständigen Morddrohungen unter Personenschutz steht. Sie bleibt im Januar verschont, weil sie einen verlängerten Weihnachtsurlaub in Casablanca bei ihrer Familie verbringt. Es geht, als sie zurück ist in Paris, darum, ob man jetzt innehalten soll, um zu trauern und sich selbst wiederzufinden, oder ob man weitermacht »um jeden Preis«. Für Zineb ist das Heft der Überlebenden ein Fehler, aber ihre Kollegen stürzen sich in die Arbeit. Auch, um zu verdrängen. Zineb hält es nicht aus in der Redaktion, ohne die Freunde, sie lässt sich kaum noch sehen, schließlich wird sie abgemahnt, nicht zuletzt, weil die Kollegen sie jetzt dringend brauchen. Und da ist sie dann, die »Story«.

Als Luz alias Renald Luzier, von dem die Titelseite des Heftes der Überlebenden stammt, im Mai erklärt, auszusteigen und auch keine Karikaturen von Mohammed mehr zeichnen zu wollen, üben sich die Medien in wilden Hypothesen, vom Streit über die künftige Ausrichtung des Blattes bis zum Eklat darüber, was mit den Millionen geschehen solle. Doch Luz, seit über zwanzig Jahren bei Charlie, ist ganz einfach am Ende. Jede Ausgabe sei eine Tortur, sagt er, »weil die anderen fehlen: Ich verbringe schlaflose Nächte damit, mich zu fragen, was die, die nicht mehr da sind, was Charb, Cabu, Honoré, Tignous, Wolinski wohl gemacht hätten.« Luz ist noch am Leben, weil er die Nacht zuvor in seinen Geburtstag gefeiert und dabei »ein bisschen gepichelt« hatte, somit zur Redaktionskonferenz zu spät kommt. Er hört Schüsse, sieht noch den schwarzen Citroën davonjagen, dann steht er inmitten des Blutbads.

Die Zeit seit diesem furchtbaren Ereignis hat Luz nun in einem Buch festgehalten, das dieser Tage auch auf Deutsch erscheint. Katharsis, betont er vorab, sei »kein Zeugenbericht, geschweige denn ein Comic«. Drei Seiten später tritt er das erste Mal jedoch als Tatzeuge ins Bild, am Abend des 7. Januar, als auf dem Kommissariat am Quai des Orfèvres seine Aussage protokolliert wird. Luz bittet um einen Stift und beginnt zu zeichnen. Mit zittriger Hand, zwei dicke Kreise, wie Tunnel, die zu einem Augenpaar verschmelzen, reglos der Blick, schockstarr. Wieder und immer wieder krakelt Luz diese weit aufgerissenen Augen, darunter ein nur winziger Körper. Er ist nicht Zeuge, er ist gleichfalls Opfer des Massakers. Sein Buch einen »Comic« zu nennen, hält er deshalb für unangebracht; weil er mit komischen Zeichnungen eine gar nicht komische Geschichte erzählt.

Tatsächlich sind es Kurzgeschichten, dreißig an der Zahl, die höchst eigen und ganz unterschiedlich sind in Länge, Stil, Technik, Ton und Zugang, sich am Ende aber zu einer dichten Collage von großer künstlerischer Präzision zusammenfügen – dem vielschichtigen, ungefilterten Blick auf eine traumatisierte Psyche. Gleich in der nächsten Story, zwei Seiten nur, ist Luz bei der Redaktionskonferenz im Januar dabei. Verspätet, er hat ja gepichelt letzte Nacht. Er schlägt Themen vor, vielleicht wieder Houellebecq, ha ha ha, und dabei merkt er gar nicht, wie ihm der halbe Kopf weggeschossen wird. »Grrr, der Scheißstift läuft aus«, wundert er sich erst auf der nächsten Seite über all das Blut. Und dann darüber, dass plötzlich der Geburtstagskuchen weg ist, von dem er doch mitgebracht hatte, um mit den Kollegen später noch weiter zu feiern. Ein böser Traum, nicht der einzige, von dem Luz berichtet.

Die vermummten Kouachi-Brüder geistern durch etliche der Geschichten, nur diese eine aber hat das Attentat selbst im Blick. Mal erzählt Luz, der »Überlebende auf Lebenszeit«, davon, wie er sich mit seinem neuen ständigen Begleiter zu arrangieren versucht, jenem Kloß im Bauch, der umgehend klarstellt: »Wenn ich in deine Fingerspitzen krieche und dich am Zeichnen hindere, bin ich zugleich deine Angst vor der Zukunft wie vor dem leeren Blatt Papier.« Dann von dem (vergeblichen) Versuch, seine Leibwächter loszuwerden, um einen Moment für sich allein zu haben. Vom Zwiegespräch mit Charb an dessen Grab, das sich bald als Soliloquium erweist: »Du musst dich dran gewöhnen, Charb ist nicht mehr da, du redest jetzt mit dir selbst.« Von der Qual, die Trauer all derer ertragen zu müssen, die Charlie sind und sich ausweinen bei ihm: »Schrecklich …!« Vom Zusammenbruch.

Luz‘ Geschichten gehen unter die Haut, eine jede auf ihre ganz eigene Art. Über manche lässt sich auch lachen, über die mit dem Vogel etwa, der von den Schüssen aufgeschreckt auffliegt und so ein paar Straßen weiter, platsch, Hollande auf den Kopf kackt – eine bizarre Allegorie darauf, welche Rolle Zufälle spielen, wer an jenem 7. Januar zufällig wo ist. Witzig auch die, in der ein Islamist in einem Tintenklecks den Propheten erkennt, obwohl Luz beteuert, dass es bloß ein Klecks sei: »Ich verbiete dir, Mohammed mit einem Klecks zu vergleichen, Ungläubiger!« Wo ist hier Mohammed? »Ich darf nicht hingucken, ich darf nicht hingucken!« Luz schlägt den Rorschach-Test vor, aber: »Ist das nicht jüdisch, der Name …?« Die fatale Mechanik des Irrsinns.

In einer Story entdeckt Luz das Album Schwarze Gedanken wieder, das »so komisch« sei, obwohl Franquin unter schweren Depressionen litt, als er es zeichnete. Etwas, das Hoffnung gibt: »Der Beweis, dass man immer noch Schönes und Komisches zeichnen kann.« Luz‘ Einblicke in seine Seele brennen sich ein, lassen spüren, wie er den Albtraum zeichnend zu bewältigen sucht. Und dabei mit einer Intimität erzählt, die in einem starken Kontrast steht zu allem Medien-Gesummse, die uns einen neuen Zugang erlaubt – ein wahrhaft seltenes Meisterstück!

Dass die Presse bei Luz nicht gut wegkommt, hat durchaus auch mit früheren Erfahrungen zu tun. Schon vor dem Überfall ist Charlie regelmäßig in die Kritik geraten, »Rassismus« lautet der ständige Vorwurf und »Schüren von Islamophobie«. Als etwa der Autorenverband PEN dem Satiremagazin im Mai den Preis für Meinungsfreiheit verleiht, protestieren hundertfünfzig zumeist US-amerikanische Schriftsteller (inzwischen liegen über tausend Unterschriften vor). Sie bezichtigen Charlie der »kulturellen Intoleranz« und beharrlichen Verspottung einer Minderheit. Bei der Gala in New York gehört, neben Art Spiegelman und Alison Bechdel, zu den Laudatoren auch Neil Gaiman, der verwundert kommentiert, dass wohl »einige gutmeinende Schriftsteller nicht verstanden haben, dass man nicht teilen muss, was gesagt wird, wenn man das Recht verteidigt, es sagen zu dürfen«.

Zwei Tage vor seiner Ermordung hatte Charb das Manuskript für einen Essay abgeschlossen, der als Brief an die Heuchler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Nach dem Brandanschlag Ende 2011 auf die Redaktion von Charlie war Charbs Statement, er habe weder Frau noch Kinder (»nicht einmal einen Kredit«) und wolle somit »lieber aufrecht sterben, als auf Knien zu leben«, zum Leitsatz geworden. Das war kein flotter Spruch, sondern gelebte Haltung – die sich nun tragisch erfüllt hat. Charb, Stéphane Charbonnier, war die zentrale Persönlichkeit bei Charlie, jedem, der von ihm spricht, treten die Tränen in die Augen. Der Brief an die Heuchler ist sein Vermächtnis, die kämpferische Stimme, die nun so schmerzlich fehlt.

Charb erklärt, warum Charlie mit dem Rassismus-Vorwurf auch aus dem eigenen Lager attackiert wird, und führt vor, wie der (schon etymologisch fragwürdige) Begriff »Islamophobie« von den unterschiedlichsten Interessengruppen instrumentalisiert wird – gleichermaßen um den Islam zu stärken, wie um ihm zu schaden. Seine Streitschrift ist Pflichtlektüre für jeden, der meint, Charlie zu sein; umso bedauerlicher die hölzerne, teils sogar missverständliche Übertragung, die die Lektüre streckenweise beschwerlich macht. Der Begriff des »Kommunitarismus« etwa, auf den Charb mehrfach rekurriert, hat in der politischen Debatte Frankreichs eine ganz andere Färbung als hierzulande, was jedoch nicht einmal angemerkt ist (eine kurze Fußnote führt im Gegenteil sogar noch mehr in die Irre).

Charb stellt klar, dass Kritik an der extremistischen Auslegung einer Religion nichts zu tun habe mit Menschenverachtung, die das Wesen des Rassismus ist. Dass der Spott von Charlie Terroristen gelte, die sich auf den Islam berufen, und keineswegs »den« Muslimen. Doch »wagt man es, auf dem Titelblatt den Propheten oder eine ihm ähnlich sehende Person zu zeigen, geht es wieder los! Die Zeichnung wird dann als ›neuerliche Provokation von Charlie Hebdo‹ dargestellt. Und wenn das Fernsehen verkündet, dass etwas eine Provokation ist, gibt es immer ein paar Idioten, die sich provoziert fühlen.«

Charb spricht sogar von einer »Komplizenschaft der Medien«, aus ganz profanem Grund: »Jeder Skandal, der mit dem Wort ›Islam‹ überschrieben ist, ist verkaufsfördernd. Seit dem Attentat vom 11. September 2001 setzten die Medien eine ebenso faszinierende wie erschreckende Gestalt in Szene: den islamistischen Terroristen. Ein Terrorist macht große Angst, aber wenn man islamistisch hinzufügt, macht sich wirklich jeder in die Hose. Angst verkauft sich gut.«

Die Krise ist also längst noch nicht überwunden, wie geht es jetzt weiter mit Charlie? »Ich hoffe, dass wir im September endlich umziehen können«, seufzt Gérard auf dem Weg zurück in die Rue Béranger. Neue Büros sind gefunden, doch der Ausbau zieht sich hin, weil die schweren Personenschleusen zunächst eine Verstärkung der Gebäudestatik erfordern. Subversiv zu sein, bissig, respektlos und komisch, kann das gelingen in einem Hochsicherheitstrakt? Nach dem Umzug soll ein frischer Auftritt mit neuem Konzept erfolgen. Die Medien werden berichten.

(Alfonz. Der Comicreporter 3/2015) 

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