BEIM BARTE DES PROPHETEN

Im Februar 2006 wurden auf zwölf Zeichner, die im Auftrag einer dänischen Zeitung den Propheten Mohammed karikiert hatten, Kopfgelder in Millionenhöhe ausgesetzt, ein bizarrer Bilderstreit entflammte wochenlang die halbe Welt zwischen Indonesien und Westafrika. Anfang des Jahres kam es jetzt zum zweiten Mal zu einem Anschlag auf den Karikaturisten Kurt Westergaard. Von Andreas C. Knigge

Dass traditionsbewusste Muslime Versprechen beim Barte des Propheten bekräftigen, wissen wir schon aus Karl Mays Abenteuerromanen. Und in jedem Reiseführer lässt sich nachlesen, dass heute gleich an mehreren Orten wie der al-Hussain-Moschee in Kairo, dem Topkapi-Serail in Istanbul oder in Srinigar im Kaschmir angeblich von Mohammed stammende Barthaare zur Schau gestellt und als Heilige Reliquien verehrt werden. Dass es vielen Muslimen mit dem Verbot der bildlichen Darstellung von Gegenständen der religiösen Verehrung – und natürlich vor allem des Propheten selbst – blutiger Ernst ist, hat der Westen hingegen erst durch die gewalttätige Eskalation des Karikaturenstreits zur Kenntnis genommen. Als Schlüsseldatum dieser surreal anmutenden Erfahrung kann man den 31. Januar 2006 sehen. An diesem Dienstag ging bei der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten, die vier Monate zuvor ein Dutzend Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, eine erste Bombendrohung ein – der Auftakt zu einer Welle des Irrsinns, der schließlich über zweihundert Menschenleben forderte.

Das Bilderverbot wird wohlgemerkt nur von einem Teil der islamischen Welt behauptet, denn der Koran selbst enthält dazu kein einziges Wort. Seine früheste Erwähnung findet sich erst Ende des 8. Jahrhunderts, im zweiten muslimischen Jahrhundert also. Sie stammt von dem jemenitischen Rechtsgelehrten Malik ibn Anas (715[?]-795), dessen Aufzeichnungen zufolge der Prophet angesichts der bildlichen Ausschmückung der Maria-Kirche in Abessinien geäußert haben soll: „Wenn unter denen ein frommer Mann stirbt, bauen sie über seinem Grab eine Gebetsstätte und bringen darin diese Bilder an. Solche Leute sind vor Gott am Tage der Auferstehung die schlechtesten Geschöpfe.“ Zu allen Zeiten hat es jedoch immer auch muslimische Künstler gegeben, die den Propheten gemalt haben, manchmal zwar mit unkenntlichem Gesicht aber häufig auch in allen Details.

Der Ursprung der Bekämpfung von Abbildungen datiert in die Frühzeit des Monotheismus. Das Bilderverbot hatte vor allem den Zweck, der Götzenverehrung polytheistischer Religionen entgegenzuwirken, seine Wurzeln finden sich in der hebräischen Bibel. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“, heißt es da. „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“ Allerdings wurde die Kunst im Verlauf der Jahrhunderte innerhalb der christlichen Kirche durchaus kontrovers gesehen. Viele Geistliche begrüßten bildliche Darstellungen, um die Inhalte der Bibel auch ungebildeten Bevölkerungsschichten, die des Lesens nicht fähig waren, vermitteln zu können. Zeitgleich mit der Bilderschmähung im Islam kam es in der orthodox-katholischen Kirche zwischen Ikonoklasten (Ikonenzerstörern) und Ikonodulen (Ikonenverehrern) zum „Byzantinischen Bilderstreit“, den Letztere Mitte des 9. Jahrhunderts für sich entschieden.

Mit dem Karikaturenstreit hat der Krieg der Ikonoklasten nun Anfang dieses Jahrhunderts eine hitzige Wiederbelebung erfahren, in der viele Beobachter den von Samuel P. Huntington prophezeiten „Clash of Civilizations“ bestätigt sehen. Vorausgegangen waren etliche muslimische Unmutsäußerungen und Proteste gegen westliche Islamkritik, die schließlich im November 2004 in dem bestialischen Mord an dem Satiriker und Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam wegen seines Films Submission über die Unterdrückung der Frau durch den Islam kulminierten.

Flemming Rose, Feuilletonchef der für ihre provokanten und polarisierenden Kampagnen bekannten Jyllands-Posten, mit 170.000 verkauften Exemplaren die größte Tageszeitung in Dänemark, sah eine vor allem unter Künstlern um sich greifende Angst vor religiösen Fanatikern aufziehen und die Meinungsfreiheit bedroht. Im Spätsommer 2005 lud er über die Vereinigung der dänischen Zeitungskarikaturisten 40 Künstler ein, Zeichnungen von Mohammed anzufertigen, „so, wie Sie ihn sehen“. Bei dem Vorhaben ging es gezielt und ausschließlich darum, sich über das Bilderverbot einer strengen Islamauslegung hinwegzusetzen – eine in einem von der rigiden Ausländerpolitik der Rechtsregierung Anders Fogh Rasmussens geprägten Klima heikle Attacke. Zwölf Zeichner kamen dem Aufruf nach. Unter der Überschrift „Mohammeds Antlitz“ wurden ihre Arbeiten am 30. September ganzseitig veröffentlicht.

Zunächst geschah nichts. Erst als Jyllands-Posten die Karikaturen an islamische Organisationen verschickte, erfolgten die erhofften Reaktionen, und das Blatt konnte titeln: „Muslime fordern Entschuldigung!“ – eine gute Schlagzeile im kleinen Dänemark. Es kam zum Eklat, der sich schnell über die Landesgrenzen hinaus ausweitete (siehe Comixene 93). Am 10. Januar 2006, zum Abschluss der jährlichen Pilgerzüge, forderte der Iman Abdul Rahamn in seiner Predigt in Mekka vor zwei Millionen Gläubigen, sich der „Kampagne gegen den Propheten“ zu widersetzen. Am 3. Februar rief der 79jährige sunnitische Geistliche Jussuf al-Kardawi, einer der einflussreichsten religiösen Führer in den islamischen Ländern, in seiner von dem arabischen Satellitensender Al Jazeera weltweit übertragenen Freitagspredigt in Katar den „Internationalen Tag des Zorns“ aus: „Wir sind keine Nation von Eseln. Wir sind eine Nation von Löwen!“

Beim Barte des Propheten! Zehntausende zwischen Casablanca und Karatschi, die die Karikaturen nie gesehen hatten, trugen ihre Wut auf die Straßen, verbrannten dänische Fahnen und Fotos von Ministerpräsident Fogh Rasmussen (beides schien plötzlich wundersamerweise massenhaft selbst in Ländern vorrätig zu sein, in denen die meisten Menschen nicht einmal wissen, wo Dänemark liegt). In Riad verkündete der Imam Scheich Badr Bin Nader al-Mashari: „Brüder dies ist ein Krieg gegen den Islam. Greift zu euren Schwertern! Wo sind eure Waffen? Eure Feinde haben auf dem Propheten herumgetrampelt. Erhebt euch!“ Damit war der Karikaturenstreit in vollem Gange.

Heute brennen zwar keine Botschaften mehr, doch der Konflikt ist nach wie vor höchst virulent. Youssef al-Hajdib, einer der beiden Verantwortlichen für die misslungenen Kofferbomben-Anschläge auf zwei Regionalzüge von Köln nach Dortmund und Koblenz Ende Juli 2006, war am 10. Februar auf einer Demonstration gegen die dänischen Karikaturen in Kiel gefilmt worden; nach libanesischen Geheimdienst-Angaben war auch sein Vater zuvor bereits bei einer gewalttätigen Demonstration gegen das Uno-Büro in Beirut aufgefallen. „Tatsächlich können sich Hajdibs Mitkollegiaten gut an ein Reizthema erinnern, das sie als Muslime allesamt bewegte“, schrieb Jochen Bittner, der den Werdegang des 21jährigen Libanesen für die Zeit recherchiert hat. „In Hajdib mag es einen Schalter umgelegt haben. Die Mathematiklehrerin wollte mit den Schülern über die umstrittenen Mohammed-Karikaturen reden. ‚Hajdib, ein sonst eher ruhiger Schüler, rastete bei dem Thema regelrecht aus’, berichtet einer, der mit im Klassenzimmer saß. Die Pädagogin habe darauf gepocht, dass sich auch Muslime bei aller berechtigten Kritik an die staatlichen Gesetze halten müssten. ‚Das wollte er aber nicht akzeptieren. Er verstand einfach nicht, dass in Deutschland Staat und Religion getrennt sind. Er sagte, nein, für einen Muslim sei das das schlimmste Vergehen überhaupt, sich ein Bild von Allah zu machen. Dafür verdiene der Täter Strafe.’“

„Gut möglich, dass ein solcher Geist selbst wie ein Zwei-Komponenten-Sprengstoff funktioniert,“ folgerte Bittner. „Der radikale Grundstoff ist alleine noch nicht gefährlich, aber wehe, er kommt mit anderen, falschen Elementen in Berührung – dann kann er explosiv werden. Hat Hajdib vielleicht erst in Deutschland so richtig gelernt, den Westen zu hassen? Waren die Frauen, die ihn unterrichteten, die Mitschüler mit ihrer Popmusik und ihren Bierflaschen, all die kleinen und großen Sünden um ihn herum, ein paar Kulturschocks zu viel?“

Jedenfalls hat es seitdem den Anschein, als hätten wir es tatsächlich mit einem „Kampf der Kulturen“ zu tun, bei dem jede Verständigung durch grundsätzlich differente Wertesysteme und verbohrte Positionen unmöglich erscheint. Fünf Monate, nachdem Jyllands-Posten einen Flächenbrand ausgelöst hatte, publizierte Flemming Rose einen an Naivität kaum zu unterbietenden Essay, um den Abdruck der Mohammed-Karikaturen zu rechtfertigen. „Als ich im vergangenen Jahr zwölf Karikaturen von Mohammed veröffentlicht habe, sandte ich eine wichtige Botschaft: Ihr seid keine Fremden, ihr seid dauerhaft unter uns, und wir akzeptieren euch als ein integrierter Bestandteil unseres Lebens. Und wir werden euch auch der Satire aussetzen. Es war ein Akt der Einbeziehung, nicht der Ausgrenzung, ein Akt des Respekts und der Anerkennung.“

Inzwischen verstreicht kaum eine Gelegenheit, ohne dass jede Anstrengung unternommen wird, dem „radikalen Grundstoff“ weitere Sprengstoffkomponenten hinzuzufügen. Schon am 7. Februar 2006, als die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen ihren Höhepunkt erreichten, schrieb Hamschahri, die größte Zeitung des Iran, einen internationalen Wettbewerb aus und forderte unter dem Titel „Wo liegt die Grenze der westlichen Meinungsfreiheit?“ auf seiner Website und in Anzeigen zur Einsendung von Holocaust-Karikaturen auf. „Die westlichen Zeitungen haben die gotteslästerlichen Karikaturen unter dem Deckmantel der Pressefreiheit gedruckt“, kommentierte Chefredakteur Farid Mortazawi. „Jetzt wollen wir sehen, ob sie zu dem stehen, was sie sagen, und auch die Holocaust-Karikaturen drucken.“

Um den Vorwurf, der Westen würde die Meinungs- und Pressefreiheit nur einseitig für sich auslegen, zu entkräften, kündigte Flemming Rose am Tag darauf in einem CNN-Interview an, selbstverständlich werde Jyllands-Posten auch die Holocaust-Karikaturen veröffentlichen. Chefredakteur Carsten Juste beurlaubte seinen Feuilletonchef daraufhin auf unbestimmte Zeit – auch im Westen hat die Meinungsfreiheit klare Grenzen. Einen ersten Vorgeschmack auf das, was Hamschahri angestoßen hatte, gaben hingegen schon bald etwa die Zeichnungen, die eine „Arab-European League“ in Antwerpen auf ihrer Website veröffentlichte. Eine zeigt Hitler im Bett mit Anne Frank. „Nach den Lektionen, die Arabern und Muslimen von den Europäern über freie Meinungsäußerung und Toleranz erteilt wurden, haben wir uns entschlossen, in das Cartoon-Geschäft einzusteigen und unser Recht auf künstlerische Freiheit zu nutzen,“ hieß es erläuternd dazu.

Am 14. August eröffnete das Karikaturenhaus in Teheran, ein kleiner heruntergekommener Flachbau direkt neben der Vertretung der palästinensischen Autonomiebehörde, in der vor der Islamischen Revolution 1979 die israelische Botschaft untergebracht war, seine Ausstellung der Zeichnungen zum Holocaust. Gezeigt wurden 204 Cartoons, die aus knapp 1.200 Einsendungen aus 61 Ländern ausgewählt worden waren. Der Iraner Maziyar Bizhani etwa hatte eine Handvoll Männchen mit Judenbärten und -hüten gezeichnet, die im Kreis durch eine Gasuhr laufen, deren Zähler – in Anspielung auf sechs Millionen ermordete Juden – bei 5.999.999 steht. Aus Indonesien stammte eine Zeichnung der New Yorker Freiheitsstatue, in der linken Hand ein Buch über den Holocaust, die rechte zum Hitlergruß gestreckt. Nur zwei der Arbeiten beschäftigten sich mit den dänischen Mohammed-Karikaturen. Für die zwölf „besten“ Karikaturen – genau so viele, wie dänische zuvor in Jyllands-Posten erschienen waren – waren Preisgelder in Aussicht gestellt worden; der erste Platz war mit 12.000 Dollar dotiert, der zweite und der dritte mit 8.000 und 6.000 Dollar, für die weiteren Plätze gab es je drei Goldstücke. Den ersten Preis gewann schließlich der Marokkaner Derkaoui Abdellah. Sein Beitrag zeigt einen israelischen Kran, der zwischen der islamischen Welt und dem Westen eine Mauer errichtet, auf der Auschwitz prangt.

Die Reaktion auf die Ausstellung, die bis zum 13. September zu sehen war, war allerdings nicht sehr groß; Antisemitismus hat im Iran keine große Tradition und sollte mit den Exponaten offenbar künstlich geschürt werden. In den Monaten zuvor hatte Präsident Mahmud Ahmadinedschad kontinuierlich den Genozid an den Juden als „Mythos“ abgetan und die Verlegung des jüdischen Staates nach Deutschland, Österreich oder Alaska gefordert: Israel müsse von der Landkarte getilgt werden.

„Wir wollen herausfinden, wo die Meinungsfreiheit für den Westen endet,“ betonte Ausstellungsleiter Seyed Massoud Shodschai. „Über den Propheten dürfen Sie schreiben, was Sie wollen. Wer jedoch den Holocaust in Zweifel zieht, der muss Strafe zahlen oder ins Gefängnis.“ Israels Regierungssprecher Gideon Meir rief am 17. August zur internationalen Empörung über die „antisemitische und unmenschliche Veranstaltung“ auf, die Leitung des Holocaust-Museums in Jerusalem bezeichnete sie als „schreckliche Propaganda“, die den Massenmord der Nazis leugnen solle. „Wenn wir annehmen, es hat wirklich einen Holocaust gegeben,“ konterte Shodschai, „wieso müssen die unterdrückten Palästinenser dann dafür büßen? Und wieso muss Israel ihr Land besetzen?“

Der portugiesische Zeichner Augusto Cid wollte genau wissen, wie es um die von Shodschai viel beschworene Meinungsfreiheit tatsächlich bestellt sei. Er sandte eine Arbeit ein, auf der Präsident Ahmadinedschad inmitten von Leichen in Auschwitz steht und sagt: „Ach, ich glaube, diese Leute sind alle an der Vogelgrippe gestorben.“ Cids Zeichnung wurde nicht nur nicht ausgestellt, sie ging im Karikaturenhaus auch unauffindbar „verloren“.

Noch bevor die Ausstellung in Teheran eröffnet wurde, hatte der israelische Karikaturist Amitai Sandy einen weiteren Wettbewerb initiiert. Er rief Kollegen zu einem „Israeli Anti Semitic Cartoons Contest“ auf, um den grassierenden Antisemitismus ad absurdum zu führen und „das Feuer mit Humor zu bekämpfen“. Schließlich sei es bei den Juden alter Brauch, sich über Juden lustig zu machen. „Bevor die anderen mit dem Finger auf uns zeigen, machen wir es lieber selbst.“ Unter den fünf Juroren, die die über hundert Einsendungen begutachteten und für eine Ausstellung in Tel Aviv auswählten, war auch Art Spiegelman. Der erste Preis ging an den 24jährigen Aron Katz aus Los Angeles, der einen orthodoxen Juden gezeichnet hatte, der auf der Brooklyn Bridge fidelt, während im Hintergrund die Türme des World Trade Center brennen – eine Parodie des in der islamischen Welt kursierenden Gerüchts, hinter dem 11. September stecke der Mossad. Ilan Touri, der den zweiten Preis erhielt, zeigte, was Auschwitz in den Augen der Holocaust-Leugner „wirklich“ war: eine Filmkulisse.

Überall breitete sich die Angst vor dem „Kampf der Kulturen“ aus, auch in Deutschland. Aus Sorge über mögliche islamistische Übergriffe sprach Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) im August 2006 Sicherheitsbedenken gegen die für den November geplante Aufführung von Mozarts Oper Idomeneo, uraufgeführt im Jahr 1781, aus, woraufhin die Deutsche Oper die umstrittene Inszenierung des Regisseurs Hans Neuenfels im September absagte. Neuenfels hatte eine schockierende Schlussszene vorgesehen, in der der König von Kreta die blutigen Köpfe der drei Religionsgründer Jesus, Buddha und Mohammed neben den Poseidons auf Stühle setzt, womit er sich, so der Regisseur, „gegen die Diktatur der Götter“ wehre. Die Entscheidung führte zu vehementen Protesten, schließlich schaltete sich auch Angela Merkel ein. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht aus Angst vor gewaltbereiten Radikalen immer mehr zurückweichen“, sagte die Kanzlerin. „Wir müssen uns der Diskussion stellen und an dieser Stelle der Presse- und Meinungsfreiheit den Vorzug geben.“ Idomeneo kam wieder auf den Spielplan, die Aufführungen fanden unter Polizeischutz statt.

Natürlich sind auch Autoren und Verlagsprogramme betroffen. Der Münchener Verlag C. Bertelsmann etwa nahm 2008 den geplanten Roman Das Juwel von Medina der amerikanischen Journalistin Sherry Jones über Mohammeds Lieblingsfrau Aische wieder aus dem Programm. Aische, die bei der Hochzeit sechs Jahre alt gewesen sein soll, wird von Jones als starke und eigensinnige Frau geschildert, in die Mohammed laut ihrer Darstellung tatsächlich verliebt war. Zuvor hatte schon der renommierte Verlag Alfred A. Knopf in New York den Vertrag mit der Autorin, der er einen Vorschuss von 50.000 Dollar gezahlt hatte, aus Angst vor Anschlägen aufgelöst. In den USA erschien Jewels of Medina schließlich bei Beaufort Books, eine deutsche Übersetzung wagte der kleine Pendo Verlag.

Ob in Berlin, München, New York oder natürlich auch in Hollywood – die durch den Karikaturenstreit geschürten Ängste zeitigen ihre Spuren bis heute. In seinem Ende vergangenen Jahres angelaufenen Katastrophenspektakel 2012 zertrümmert Roland Emmerich einmal mehr die Welt, atomisiert den Petersdom in Rom, zerreißt das Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle (genau dort, wo Gottes Finger fast den von Michelangelos Adam berührt) und kippt die Christusstatue in Rio de Janeiro vom Corcovado. Die bei der Zerstörungsorgie ebenfalls kurz auf der Leinwand auftauchende Kaaba in Mekka hingegen bleibt verschont. Dabei hatte sie ursprünglich von einer Flutwelle überrollt werden sollen, aber dann kamen Emmerichs Co-Drehbuchautor Harald Kloser Zweifel. „So etwas müssen wir in der westlichen Welt nun einmal bedenken“, so der Regisseur. „Christliche Symbole kann man jederzeit zusammenkrachen lassen. Aber wenn man das mit einem arabischen Symbol macht, bekommst du eine Fatwa. So ist eben zurzeit der Zustand der Welt, und so habe ich die Kaaba stehen gelassen.“ Und für den Fall, dass dies angesichts der schnellen Schnitte jemandem entgangen sein sollte, wurde Emmerich nicht müde, in Interviews immer wieder zu betonen, dass er das zentrale Heiligtum des Islam nicht angerührt habe.

Auch vor Gericht wurde der Karikaturenstreit ausgetragen. Eine Klage dänischer Islamverbände gegen Jyllands-Posten wegen Beleidigung einer Religionsgemeinschaft ging im Oktober 2006 in Kopenhagen mit Freisprüchen für die verantwortlichen Redakteure aus. Im Februar 2007 musste die 17. Strafkammer in Paris entscheiden, nachdem die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die die Mohammed-Karikaturen nachgedruckt hatte, von verschiedenen islamischen Organisationen wegen des Schürens von Islamophobie verklagt worden war und Chefredakteur Philippe Val im Falle einer Verurteilung bis zu sechs Monaten Haft gedroht hätten. Während des Prozesses herrschte höchste Sicherheitsstufe. Zum Verhandungsbeginn am 7. Feburar hatte die Tageszeitung Libération die Karikaturen als Solidaritätsbekundung nochmals abgedruckt, mehr als hundert Künstler und Intellektuelle hatten eine Petition zur Unterstützung unterzeichnet und auch namhafte Politiker sich auf die Seite des satirischen Magazins geschlagen: „Lieber zu viele Karikaturen als keine Karikaturen“, kommentierte der damalige Innenminister Sarkozy. Nach zweitägiger Verhandlung entschied das Gericht ebenfalls im Sinne der Meinungsfreiheit und des Rechts auf Satire mit einem Freispruch Vals. Die Charlie Hebdo-Redaktion steht bis heute unter Polizeischutz.

Nach wie vor im Fadenkreuz der Islamisten befinden sich natürlich vor allem die zwölf dänischen Zeichner, die vor fünf Jahren der Aufforderung von Jyllands-Posten nachgekommen waren, Mohammed zu zeichnen. Allen voran der heute 74jährige Atheist Kurt Westergaard, dessen weitsichtige Karikatur des Propheten mit einem bombenförmigen Turban, aus dem eine brennende Lunte ragt, den heftigsten Zündstoff geliefert hatte. Gerade seine Arbeit ist es, die auch die unterschiedlichen Wahrnehmungskategorien deutlich werden lässt, an denen eine Verständigung immer wieder scheitert. Während für uns völlig außer Frage steht, was Westergaards Zeichnung ausdrückt – der Prophet als Geisel radikaler und gewaltbereiter Islamisten –, wird sie von Muslimen als Darstellung Mohammeds als Terrorist verstanden. (Dass der sich schließlich selbst in die Luft sprengt, wenn die Bombe explodiert, scheint angesichts der Praxis der Selbstmordattentate und Märtyrerkult niemanden zu irritieren.) Westergaard verwahrt das Original seiner Zeichnung heute in einem Banksafe: „Sie ist jetzt ein Stück dänischer Geschichte.“

Im Februar 2008 vereitelte der dänische Geheimdienst PET einen Mordanschlag auf Westergaard, der sich monatelang mit seiner Familie an wechselnden, streng geheimen Wohnorten aufgehalten hatte. Zwei tunesische Zuwanderer und ein Däne marokkanischer Herkunft wurden in seinem Geburtsort Århus verhaftet. Zu einer Anklage kam es jedoch nicht, da die Festnahme „in vorbeugender Absicht in einem frühen Stadium“ erfolgte und die Beweislage damit schwierig war. Die beiden Tunesier wurden ohne gerichtliches Verfahren ausgewiesen. Wenige Tage später schilderte Westergaard im dänischen Fernsehen seine Situation. „Ich bin zu alt und zu starrköpfig, um mich noch zu beugen“, resümierte er. „Als ich jung war, habe ich Faschismus und Kommunismus erlebt. All diese -ismen haben ebenfalls Fanatiker hervorgebracht. […] Ich lasse mich von diesen Fanatikern nicht einschüchtern. Ich will den Rest meines Lebens genießen. Meine Haltung hat sich nicht geändert. Ich bin immer noch ein wütender, alter Mann, der bedroht wird, weil er seine Arbeit getan hat.“ Als Solidaritätsbekundung druckten 17 Zeitungen seine Jyllands-Posten-Karikatur nach.

Und abermals brannten Autos und dänische Fahnen bis hin nach Pakistan. In Bangkok trugen Demonstranten vorfabrizierte Schilder mit dem Schriftzug „It must be cut off!“ und dem blutigen Kopf Westergaards daneben, gegen den in weitem Bogen ein Hund pisst. Am 2. Juni folgte ein Selbstmordattentat mit einer Autobombe auf die dänische Botschaft in Islamabad, acht Tote und 15 Schwerverletzte. Die in unmittelbarer Nähe gelegene norwegische Botschaft wurde evakuiert und geschlossen. Die Verantwortung übernahm al-Qaida, Bin Ladens Stellvertreter Aiman al Sawahiri nannte die erneute Veröffentlichung von Westergaards Zeichnung als Grund und kündigte „weitere Anschläge“ an.

Drei Monate später verbreitete Bin Ladens Produktionsfirma al-Sahab auf den Web-Seiten, die al-Qaida und verwandte Terrororganisationen seit Jahren nutzen, um ihre Kommuniqués und Propaganda abzusetzen, ein knapp einstündiges, äußerst aufwendig produziertes Video mit dem Titel Das Wort ist das Wort der Schwerter und Untertiteln in diversen Sprachen zum Karikaturenstreit. „Wir haben sie in der Vergangenheit gewarnt und warnen die Kreuzfahrerstaaten, die unseren Propheten in ihren Medien beleidigen und unsere Länder besetzen, nun ein weiteres Mal, dass wir zu einem angemessenen Zeitpunkt und an einem passenden Ort zurückschlagen werden“, verkündet Mustafa Abu al-Yazid, al-Qaida-Chef in Afghanistan, in dem Video. Es endet mit einer Aufforderung an junge in Europa lebende Muslime: „Es ist Zeit, für eure Religion aufzustehen und die Gotteslästerer und Propheten-Beleidiger zu töten!“

Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen sprach im Parlament von einem „Angriff auf Dänemark“, die liberale Oppositionsführerin Margrethe Vestager warnte davor, dass das Land angesichts der Terrorgefahr zum „Israel des Nordens“ werden könne. In der Folge kam es zu Übergriffen maskierter Dänen auf Moscheen und verschleierte muslimische Frauen, in einigen islamischen Ländern hingegen zu einem erneuten Einbruch beim Absatz dänischer Lebensmittel und Pharmaprodukte.

Erst im vergangenen Oktober hat das FBI in Chicago zwei in Pakistan ausgebildete Terroristen festgenommen, die Attentate auf Kurt Westergaard und den Jyllands-Posten-Feuilletonchef Flemming Rose geplant haben sollen. Und Anfang dieses Jahres wurde Westergaard tatsächlich erneut Opfer eines Anschlags. Am Neujahrstag schlug gegen 22 Uhr ein 28jähriger Somalier mit engen Verbindungen zur somalischen Terrorgruppe al-Shabaab und zu al-Qaida-Führern in Ostafrika, wie sich später herausstellte, mit einer Axt die Tür seines Reihenhauses am Grøndalsvej in Århus ein. Westergaard, mit seiner fünfjährigen Enkelin allein im Haus, flüchtete sich in das zum Panikraum ausgebaute Badezimmer, verrammelte die stahlverstärkte Tür und drückte den Alarmknopf. Die Polizei war innerhalb von zwei Minuten vor Ort und setzte den bärtigen Mann mit rasiertem Schädel, der mit seiner Axt inzwischen auf die Badezimmertür einhackte und laut Westergaard dabei immer wieder „etwas von ‚Rache’ und ‚Blut’ geschrien“ habe, mit zwei Schüssen ins Knie und durch die Hand außer Gefecht.

Seitdem ist Westergaard wieder untergetaucht. Sein Haus wird derweil mit einer Stahltür versehen und im Garten ein Bungalow für die Beamten vom Staatsschutz errichtet, die ihn künftig rund um die Uhr bewachen. Er wolle sich nicht weiter verstecken, sagt er, das sei im kleinen Dänemark ohnehin völlig sinnlos. „Es ist einfach absurd, dass man im eigenen Haus, im eigenen Land um sein Leben fürchten muss, wenn man als Karikaturist eine Meinung hat, die anderen nicht passt.“ Mit den Mohammed-Karikaturen habe Dänemark seine Unschuld verloren.

Geradezu hanebüchen nimmt sich angesichts des nur knapp fehlgeschlagenen Anschlags ein Kommentar von Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar über eine zwar dringend nötige aber schon im Ansatz völlig misslungene „Wertedebatte“ zwischen dem säkularen Westen und dem radikalisierten Islam aus. Der SZ-Feuilletonchef ging darin auf die oft gezogene Parallele zu der 1989 von dem iranischen Revolutionsführer Ayatolla Khomeini gegen Salman Rushdie erlassenen Fatwa wegen angeblicher Gotteslästerung in seinem Roman Die satanischen Verse ein und schrieb: „Schon der Vergleich zwischen Karikatur und Roman hinkt. Man kann ein Werk der Weltliteratur, in dem sich einer der klügsten Schriftsteller unserer Zeit auf kulturgeschichtlich höchstem Niveau mit den religiösen Spannungen seines Heimatlandes Indien auseinandersetzt, nicht mit der plumpen Witzelei eines dänischen Karikaturisten vergleichen. Das eine ist eine intellektuelle Meisterleistung, die es zu verteidigen gilt; das andere eine bewusste Provokation, die ungefähr so intelligent ist wie der Versuch, einen Tiger zu erziehen, indem man ihm erst ein Schinkenbrot anbietet und es ihm dann wieder wegnimmt.“

Der Berliner Tagesspiegel nannte Kreyes Kommentar am nächsten Tag schlicht „absurd“: „Weil die Kunst- und Meinungsfreiheit der UN-Menschenrechte ebenso wie ihre Garantie in demokratischen Verfassungen gerade keine Vergleiche oder Unterschiede kennt. Sie gilt für Dumme und Kluge, Großköpfe und Kleinhirne gleichermaßen. Und wo diese Freiheit mit den Rechten anderer kollidiert, ist der Konflikt auf dem Rechtsweg zu lösen – nicht durch Lynchjustiz.“ Ebenfalls absurd ist die Äußerung allerdings auch, weil in ihr – immerhin von dem Chef des Feuilletons einer renommierten überregionalen Tageszeitung – die Arroganz gegenüber einer grafischen Kunst zum Ausdruck kommt. Die SZ „entschuldigte“ sich drei Tage nach dem peinlichen Ausrutscher mit einem ganzseitigen Text über Kurt Westergaard.

Vielleicht zählen ja Trey Parker und Matt Stone, die Autoren der amerikanischen Fernsehserie South Park, zu den Letzten, die heute noch dazu in der Lage sind, unsere irregewordene Welt geistreich zu kommentieren. Schon im April 2006 haben sie in zwei Folgen der zehnten South Park-Staffel den Karikaturenstreit unter dem Titel „Cartoon Wars“ aufgegriffen. Die erste Episode beginnt damit, dass in der idyllischen Kleinstadt South Park in den Bergen Colorados Panik ausbricht, da die Nachrichten verkünden, in Seth MacFarlanes Zeichentrickserie Family Guy werde in der nächsten Folge der Prophet Mohammed einen Auftritt haben. Um sich vor islamistischen Terroristen zu schützen beschließt man eiligst, South Park mit 16 Tonnen Sand aufzuschütten, in den die Bürger dann die Köpfe stecken sollen.

Indes machen sich Cartman und Kyle auf den Weg nach Hollywood, um den Sender Fox dazu bewegen, die Mohammed-Folge nicht auszustrahlen. Doch unterwegs offenbart der fette Cartman, der Family Guy hasst und auf eine dauerhafte Absetzung der Serie spekuliert, Kyle seine wahren Motive: „Wenn der Sender gezwungen wird, wegen den Muslimen ’ne Folge abzusetzen, kommen als nächstes die Katholiken und wollen das auch. Und dann kommen die Behinderten und fordern die Absetzung von ’ner Folge und so weiter und so weiter. Bis es überhaupt kein Family Guy mehr gibt!“

Genau diese Logik ist der Hintergrund, vor dem Ralf König schon im Februar 2006 als einziger Berufskollege der dänischen Zeichner den Mut aufbrachte, spontan auf den Karikaturenstreit zu reagieren und mit acht Cartoons Stellung zu beziehen. „Wenn die im Vatikan über die Jahrhunderte so gekonnt hätten, wie sie wollten, sähe es auch hier im Westen finster aus“, sagte König, der auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlangen „für seine künstlerische Stellungnahme im Streit um die Mohammed-Karikaturen“ den Max-und-Moritz-Preis bekam, der Berliner Zeitung. „Das Schlimmste wäre, wenn kritische oder satirische Töne ausblieben, weil wieder irgendwelche Leute meinen, ihren Gott mit Gewalt durchsetzen zu müssen.“

Ralf Königs Ausweg aus dem Dilemma sähe deshalb auch ganz anders aus als der des Bürgermeisters von South Park: „Stattdessen sollten wir alle Mohammed-Karikaturen zeichnen, gegen wen wollen die Islamisten dann etwas machen? Dazu muss man noch nicht mal zeichnen können, man pinselt einfach ein Strichmännchen, schreibt ‚Mohammed’ drunter, und fertig …“

(Comixene 107, 2009)

Zurück zum Archiv

Cookie Consent mit Real Cookie Banner