DIE VIELEN GESICHTER DES ED McBAIN

oder: Ein Liebesbrief, eine Million Worte lang
Von Andreas C. Knigge

Sein Name ist McBain.

Ed McBain.

Allerdings: Ed McBain existiert gar nicht, der Name ist ein Pseudonym. Wie auch Curt Cannon ein Pseudonym ist. Oder Hunt Collins. Oder Richard Marsten. Oder John Abbott oder Ezra Hannon. Alles Namen eines Autors, der eigentlich Evan Hunter heißt. Namen eines Autors, der rund hundertzwanzig Romane mit einer Gesamtauflage von über hundert Millionen Exemplaren geschrieben hat, mehr als die Hälfte davon unter dem pen name Ed McBain. Und der unter diesem Namen einen Platz ganz oben in der Hall of Fame des modernen Kriminalromans einnimmt. „Zu sagen, Ed McBain sei ein Gigant unter den populären Autoren“, schrieb der amerikanische Krimiexperte John C. Carr einmal, „wäre etwa so, als würde man sagen, der Koloss von Rhodos sei ein recht gelungenes Stück kommunaler plastischer Kunst gewesen.“

„Dialoge, die einem den Atem verschlagen, Charaktere mit Herz und Charaktere, die diese Herzen aufspießen“, jubilierte sogar die altehrwürdige New York Times, und auch McBains Kollegen sind voller Anerkennung. „Ich habe noch nie einen McBain gelesen, ohne nicht das fürchterliche Gefühl zu haben, noch eine Menge lernen zu müssen“, sagte etwa Tony Hillerman. „Und immer, wenn ich das Gefühl habe, aufzuholen, wird er noch besser.“ Elmore Leonard pries McBains „grandiosen Stil, die starken Plots, die exzellenten Dialoge, das sichere Gefühl für seine Schauplätze und für die Wirklichkeit“.

McBains harter, auf jedes Abschweifen verzichtender Schreibstil ist zu seinem Markenzeichen geworden. Rasiermesserscharfe Dialoge, Sätze wie Hammerschläge – oder Schüsse –, die die Figuren konturieren und die Handlung voranpeitschen, dann wieder delirierende Gedankenketten über eine halbe Seite, ebenso knappe wie treffsichere Milieuminiaturen der Großstadt, in denen der Traum vom American Way of Life zerplatzt, Beschreibungen der Stadt, die für ihn immer „mehr war als nur Stahl und Beton“, die vor allem mit Einbruch der Nacht „zu einem lebendigen Organismus wurde mit einem Gedächtnis und einem Herzen“. The way things are: Für McBain sind die mysteries seiner Romane vor allem der rote Faden, an dem entlang er uns die Facetten unserer modernen Gesellschaft vorführt, wie sie nun mal ist.

McBain hat einmal erzählt, wie aus Evan Hunter Ed McBain wurde. „Ich hatte gerade meinen Roman Cop Hater [deutsche Titel: Polizisten leben gefährlich; Blutiger Asphalt] beendet, der der erste einer Serie über Cops werden sollte. Ich stand auf und ging hinüber in die Küche, wo meine damalige Frau gerade die Zwillinge fütterte oder mit irgendetwas anderem beschäftigt war, und ich sagte, wie findest du McBain? Sie meinte, das klinge gut. Ich sagte Ed McBain, und sie sagte: Gut, das ist wirklich gut! Der Name war mir aus heiterem Himmel gekommen, und er klang für mich wie ein Name, den man mit jemandem in Verbindung bringen würde, der über Cops schreibt. Er klang ganz einfach richtig.“ Fans haben später gemutmaßt, dass Hunter dabei vielleicht an bane – Fluch, Verderben – gedacht haben möge, doch McBain kommentierte das nur mit einem knappen „mag sein“, daran könne er sich nicht mehr erinnern.

Auch eine andere Theorie wollte er nie bestätigen. Nämlich dass er sich Evan Hunter nannte, weil er als Kind und Jugendlicher die Evander Childs High School und das Hunter College besucht hatte. Denn auch Evan Hunter ist nicht McBains richtiger Name. Seine Eltern hatten ihn Salvatore getauft. Salvatore Albert Lombino. Doch als er dann mit dem Schreiben begann und seinen ersten Roman anbot, meinte sein Verleger, das Buch würde sich vermutlich besser verkaufen, wenn es unter einem amerikanisch klingenden Namen veröffentlicht würde. Und so wurde aus Salvatore A. Lombino Evan Hunter. Das war im Mai 1952.

Gut vierzig Jahre später, aus Hunter war längst McBain geworden, hat er sich an diese Zeit erinnert und diesen Moment seiner Biografie in einem Roman seiner inzwischen äußerst erfolgreichen Cop-Serie über das 87. Polizeirevier aufgegriffen. „Er gestand ihr eines Abends, dass er den Namen Salvatore nicht ausstehen konnte und ihn legal ändern lassen würde, sobald er dazu alt genug war“, heißt es ihn Mischief (deutsch: Graffiti). „Er war damals sechzehn, ein Jahr jünger als sie. Er würde sich einen guten amerikanischen Namen aussuchen, und dann würde er sich in den USA heimischer fühlen, obwohl schon seine Eltern hier geboren waren.“

Salvatore Albert Lombino also. So war der Junge getauft worden, der am 15. Oktober 1926 in New York City geboren wurde. Er kam in der 120. Straße zur Welt, auf einem Küchentisch, und hier wurde er groß, zwischen der First und der Second Avenue. Italienisch-Harlem hieß das Viertel damals, bevor die Puerto-Ricaner kamen. „Es war keine verrufene Gegend. Es war zwar ein Ghetto, aber damals gab es noch keine Street Gangs. Für ein Kind war es recht behaglich, hier aufzuwachsen.“ Seine Eltern und die Großmutter waren in den USA geboren, der Großvater kam aus Italien. „Wir waren arm, aber weil das schließlich jeder war, fiel das nicht weiter ins Gewicht.“ Nach der High School erhielt Salvatore ein Stipendium für die Art Students League, dann setzte er seine Ausbildung an der künstlerisch ausgerichteten Cooper Union fort, in deren kleinem Park der vorliegende Roman mit dem Originaltitel The Gutter and the Grave aus dem Jahre 1958 beginnt, und in dem er auch endet.

1944 trat er in die Navy ein und wurde nach Japan verschifft. An Bord eines Zerstörers verfasste er seine ersten Kurzgeschichten. Als er 1946 zurückkehrte, stand sein Entschluss fest: Er wollte Schriftsteller werden. Zunächst absolvierte er jedoch ein Studium am Hunter College in New York und arbeitete anschließend einige Zeit als Berufsschullehrer an der Bronx Vocational High School und in der legendären literarischen Agentur Scott Meredith. 1952 änderte er seinen Namen offiziell in Evan Hunter, veröffentlichte erste Kurzgeschichten und seinen ersten Roman, The Evil Sleep (Schlaf der Vergessenen). „Ich war 26, noch fast ein Junge … Ich hatte keine Ahnung, was für ein Wirbelwind nun folgen sollte.“

Evan Hunter hatte seine Profession gefunden und zeigte sich als erstaunlich produktiver Autor. 1954 landete er seinen ersten Bestseller: In The Blackboard Jungle (Die Saat der Gewalt) verarbeitete er seine kurzen aber eindrücklichen Erfahrungen als Lehrer in einer schonungslosen Bloßstellung des amerikanischen Schulsystems. Das Halbstarken-Drama gilt als sein erster ausgereifter Roman und wurde ein Jahr nach Erscheinen von Richard Brooks mit Glenn Ford, Sidney Poitier und Vic Morrow in den Hauptrollen verfilmt. Ein Film, der auch wegen seiner Titelmusik Geschichte schrieb, weil durch ihn Bill Haleys Rock Around the Clock zum Welterfolg wurde. Im Mai 1954 war der Song in die Top 30 gelangt, schon nach einer Woche jedoch wieder aus den Charts verschwunden. Jetzt wurde er zur Hymne der Nachkriegsjugend und Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Auch in Großbritannien, Australien und in Deutschland, wo Haleys Auftritte legendäre Saalschlachten in Berlin, Hamburg, Essen und Stuttgart auslösten und Rock Around the Clock die erste ausländische Platte wurde, die sich über eine Million Mal verkaufte – damit hatte der Rock ’n’ Roll seinen Siegeszug begonnen, noch bevor Elvis Presley auf den Plan getreten war (und Haley & the Comets bald abdrängte, worauf McBain in The Gutter and the Grave – der Film war bei Erscheinen gerade vier Jahre alt – eine bissige Anspielung platziert hat).

Der endgültige Durchbruch kam 1956. Herb Alexander, Cheflektor des amerikanischen Verlages Pocket Books, waren Hunters Romane aufgefallen. Er verabredete sich mit ihm zum Dinner und fragte Hunter, ob er sich vorstellen könne, gleich eine ganze Reihe von Kriminalromanen zu schreiben. „Ich habe dafür zwar keine Idee“, erwiderte der, „aber ich denke darüber nach und melde mich wieder bei Ihnen.“ Hunter kam bald zu dem Schluss, dass die Einzigen, die einen stichhaltigen Grund hatten, sich mit Mordfällen zu befassen, nicht Privatschnüffler sondern Cops seien. „Ich möchte eine Serie über Cops schreiben“, ließ er Alexander wissen. „Aber über echte Cops, und ich will ein Team zum Helden machen.“ Evan Hunter bekam einen Vertrag über drei Bände. Autor und Verlag beschlossen, diese unter einem neuen Pseudonym zu veröffentlichen. Hunters Frau gefiel McBain, also wurde es McBain.

Als noch im gleichen Jahr mit Cop Hater der erste Roman über das 87. Polizeirevier in der fiktiven amerikanischen Millionenstadt Isola – einem allegorischen New York City, für dessen Anatomie McBain einfach den Stadtplan von Manhatten auf den Kopf gedreht hatte – erschien, waren Leser und Kritik gleichermaßen begeistert. Die New York Times nahm Cop Hater und gleich auch dessen Nachfolger The Mugger (Clifford dankt Ihnen) in ihre Liste der besten Spannungsromane des Jahres 1956 auf. 1957 erhielt Hunter alias McBain den Edgar Allan Poe Award der Mystery Writers of America, 1959 wurden seine Romane als gebundene Ausgaben neu aufgelegt, und 1961 folgte eine erste Fernsehserie mit dreißig Folgen. Auch für mehrere Kinofilme, unter anderem in der Regie von Akira Kurosawa, Claude Chabrol und Martin Scorsese, haben McBains Romane über die Cops aus dem 87. Polizeirevier seitdem als Vorlage gedient.

Trotz des Erfolges schrieb McBain weitere Romane auch als Evan Hunter und unter anderen Pseudonymen sowie Drehbücher für Kinofilme – darunter 1963 Die Vögel für Alfred Hitchcock (über diese Zusammenarbeit veröffentlichte er 1997 das Buch Me & Hitch) – und das Fernsehen. 1978 begann er eine zweite Reihe um den in Florida ansässigen Anwalt Matthew Hope, und 1986 wurde Ed McBain alias Evan Hunter zum „Grand Master“ der Mystery Writers of America ernannt – die höchste Auszeichnung, die einem Kriminalschriftsteller widerfahren kann. Als bis dahin einziger amerikanischer Autor erhielt er zudem 1998 den Diamond Dagger der British Crime Writers Association. Und 2001 schließlich kam es sogar zu einer „Zusammenarbeit“ zwischen Hunter und McBain: Der erste Teil des Romans Candyland, in dessen Mittelpunkt der manische Architekt Ben Thorpe steht, ist in dem eher transzendierenden Stil Hunters verfasst, der zweite, der die Ermittlungen der Polizistin Emma Boyle im Fall einer ermordeten Prostituierten in New York schildert, stammt von McBain.

Die Autorenfotos auf dem Backcover von Candyland zeigen zweimal den gleichen Mann. Einmal im schwarzen Anzug, einmal in Jeans und mit Baseballcap.

Mit seinen Geschichten um das 87. Polizeirevier, in denen kein Held im Mittelpunkt steht, sondern gleich ein ganzes Team von Ermittlern unterschiedlichen Charakters mit all ihren Vorlieben und Schwächen und Konflikten untereinander, hatte McBain eine ganz neue Variante des Kriminalromans begründet. Der police procedural hatte seinen Anfang schon 1945 mit Lawrence Treats V as in Victim genommen, aber aus einer Truppe von Cops einen menschelnden Mikrokosmos zu bilden, das war in den Fünfzigerjahren ein Novum, das bald auch das Fernsehen inspirieren sollte und bis heute inspiriert: Serien wie Hill Street Blues oder NYPD Blue basieren letztlich auf McBains Idee. Als 1999 mit The Last Dance der fünfzigste Band erschien, notierte das Branchenblatt Publisher’s Weekly: „Der fünfzigste Roman um das 87. Polizeirevier ist einer der besten, ein melancholischer, bitterer Lobgesang auf das Leben – und auf den Tod. McBain zeigt sich in Höchstform, breitet die ganze Weisheit aus, die er während seiner über vierzigjährigen Arbeit gewonnen hat, und liefert einen Krimi, der ebenso kraftvoll schlägt wie das Herz der amerikanischen Großstadt.“

„Mir ging es immer um ein realistisches Abbild des Lebens in der Großstadt“, hat McBain sein Herangehen an das Schreiben umrissen. „Ich wollte aufzeichnen, welchen Weg unsere Gesellschaft nimmt.“ The Gutter and the Grave, ursprünglich unter dem Pseudonym Curt Cannon veröffentlicht, macht da keine Ausnahme und leuchtet in das New York der späten Fünfzigerjahre. Der Krieg ist längst vergessen, die Konsumgesellschaft hat ihren Siegeszug noch nicht angetreten, man rasiert sich noch nass und muss sich erkundigen, ob jemand zu Hause einen Telefonanschluss hat. Es ist eine Zeit, die zwischen zwei Zeiten schwankt. Und es sitzt eine neue Generation Jugendlicher in den Startlöchern, die „nicht gerade die Berufe ihrer Väter ergreifen, den des Schneiders oder Bäckers oder Schusters“, und die sich mitreißen lässt von der Musik, ihrer Musik.

Unter dem Titel Tödliche Lügen ist The Gutter and the Grave bereits 1959 auch in deutscher Übersetzung in der „Panther“-Reihe des Lehning Verlags erschienen – allerdings um nahezu ein Viertel gekürzt, da der Kriminalroman damals noch nicht als Literatur galt und man selbst Raymond Chandler auf das Standardformat von 128 Buchseiten für „Groschenromane“ zusammenkürzte. Mit Ausnahme einiger Erwähnungen fiel dabei Matt Cordells Affäre mit Toni McAllister so gut wie unter den Tisch. Die vorliegende Neuübersetzung darf somit mit Fug und Recht als deutsche Erstveröffentlichung gelten.

Die Gosse und das Grab ist ein klassischer private eye-Roman in der Tradition Hammetts und Chandlers, auch wenn McBain – er schrieb 1958 bereits seit zwei Jahren an seiner Serie um das 87. Polizeirevier – keinen Zweifel daran lässt, dass er Privatdetektive für ungeeignet hält, um Morde aufzuklären. „In dem Moment, wo Mord ins Spiel kommt, legt ein Detektiv in der Regel seine Rechnung auf den Tisch und verschwindet in der Wüstennacht“, sagt Cordell an einer Stelle. Die Kerle messen einsneunzig und haben breite Schultern, Whiskey ist ihnen bei Seelenschmerz „das beste Antiseptikum, das man sich denken kann“. Die Mädchen sind natürlich atemberaubend und blond …

Ach ja, die Frauen: Wie andere hardboiled-Autoren auch, ist auch McBain gelegentlich des Chauvinismus beschuldigt worden. Ein Vorwurf, der sich kaum aufrechterhalten lässt, denn seine Frauen sind bei genauem Lesen eine einzige Liebeserklärung an das weibliche Geschlecht; sie sehen nicht nur umwerfend aus, sie sind auch starke und selbstbewusste Charaktere, aufrecht und stolz. 1988 und 1889 betitelte er zwei Kurzgeschichtensammlungen McBain’s Ladies.

Am 6. Juli 2005 starb Ed McBain alias Evan Hunter alias Salvatore A. Lombino in Weston, Connecticut, an Kehlkopfkrebs. Sein Vermächtnis sind rund hundertzwanzig Romane mit einer Gesamtauflage von über hundert Millionen Exemplaren.

„Ohne ihnen ein größeres Gewicht geben zu wollen, als sie es tragen könnten“, kommentierte der britische The Guardian in einem Nachruf, „betrachtet man McBains Romane am besten als gewaltige Saga, die mit enormer erzählerischer Kraft die Miseren des modernen Lebens schildert. Oder vielleicht sind sie auch einfach nur ein Liebesbrief, eine Million Worte lang, an die Stadt: New York City zuerst, aber damit auch an jede andere amerikanische Stadt.“

Liebesbeziehungen haben in McBains Romanen nie ewig gehalten.

Irgendwann kam immer der Tod dazwischen.

(Nachwort zu Ed McBain: Die Gosse und das Grab, Rotbuch Verlag, Berlin 2009) 

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