Machfus, Nagib

ägypt. Schriftsteller

* 11.12.1912 Kairo

Werkartikel: Die Midaq-Gasse, 1947

Der Widerstand gegen die brit. Besatzung und die geistig-intellektuelle Neuorientierung Ägyptens in den 20-er Jahren haben das Werk des in einem der ältesten Viertel Kairos aufgewachsenen Nagib Machfus nachhaltig geprägt. Mit > Die Midaq-Gasse wurde er zum wichtigsten Wegbereiter des 1947 in Ägypten noch wenig entwickelten und damals vornehmlich auf europäische Vorbilder fixierten Romans in der arabischen Literatur.

Seit dem Roman Han al-Halili (1945) waren verstärkt zeitkritische Aspekte in den Vordergrund getreten, so etwa auch in der „Kairo-Trilogie“ oder in Die Kinder unseres Viertels, dessen Vorveröffentlichung in der Tageszeitung al-Ahram 1959 auf Druck fundamentalistischer Kräfte abgebrochen wurde; eine Buchausgabe konnte nur in Beirut (1967) erscheinen. Islamische Fanatiker verhängten 1988 die Fatwa über Machfus, einen Mordanschlag überlebte er 1994 schwer verletzt.

1988 als erster Schriftsteller arabischer Sprache mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, ist der Autor von über 30 Romanen und 15 Bänden mit Erzählungen auch mit seiner viel beachteten wöchentlichen Kolumne in al-Ahram zur moralischen Stimme Ägyptens geworden.

Biografie: G. al-Ghitani (Hg.): Nagib Machfus yatadakkar, 1980

Die Midaq-Gasse

Die Midaq-Gasse steht im Gesamtwerk am Übergang einer frühen Phase historisierender Romane in eine realistische Periode, bei der bis Ende der 50-er Jahre Darstellung und Kritik der ägypt. Gesellschaft Machfus‘ vorrangiges Anliegen sind.

Inhalt: Erzählt wird von der Veränderung des Lebens in einer engen Gasse im historischen Kairo, die der ähnelt, in der der Autor selbst aufgewachsen ist, und die gleichnishaft den gesellschaftlichen Wandel symbolisiert: „Denn die Veränderung der Gasse bedeutet auch die Veränderung der Menschen, die in ihr leben: Der Tod der Gasse, der alten Viertel, ist auch der Tod der Traditionen, der Werte, der Menschlichkeit und Solidarität.“ (E. Heller)

Der Roman spielt während drei Monaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und führt in der ersten Hälfte gut ein Dutzend teilweise skurriler und schillernd charakterisierter Figuren vor: den Bonbonverkäufer Kamil, Salim Alwan, Eigentümer einer kleinen Handelsgesellschaft für Parfüms und Tees, den zwielichtigen Zita, der gegen einen Anteil an ihren Almosen jene verstümmelt, die ihren Lebensunterhalt als Bettler verdienen wollen, oder den alten Geschichtenerzähler al-Hilali, dem niemand mehr zuhört, seit es Radio gibt. Sie alle sind in der Midaq-Gasse mit ihren kleinen Läden und ihrem geschäftigen Treiben zuhause und treffen sich allabendlich zu Klatsch und Spiel in Kirschas Kaffeehaus.

Erst in der zweiten Hälfte treten einige Figuren stärker hervor, etwa Hamida, die ihren Verlobten, den Frisör Abbas al-Hilu, betrügt, als der zur brit. Armee geht, um Geld für ihre gemeinsame Zukunft zu verdienen, und die schließlich als Prostituierte endet. Sie steht stellvertretend für die Jungen, denen Traditionen und ehrenhafte Sitten nichts mehr bedeuten und die sich nach dem modernen Leben mit elektrischem Licht und fließend Wasser sehnen; sie müssen allerdings die Erfahrung machen, daß das Leben außerhalb der schützenden Gemeinschaft der Gasse „nicht nur heiter und voller Glanz, sondern auch leidvoll und enttäuschend“ sein kann.

Wirkung: Die Midaq-Gasse war der erste Roman, mit dem Machfus die Aufmerksamkeit der arabischen Literaturkritik erregte; die Altstadtgasse wird darin zum Mikrokosmos, in dem sich ein Zeitenwandel spiegelt, den Machfus allerdings nicht nur in Kairo beobachtet: „Die Gasse ist für mich das Symbol für die ganze Welt.“

In der „Kairo-Trilogie“ (verfasst 1946-52; > Kasten S. XXX), einem weiteren Hauptwerk seiner realistischen Periode, übertrug Machfus dieses Erzählprinzip auf eine einzelne Familie, deren Geschichte er über drei Generationen von der Zeit der brit. Besatzung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs schildert. Im Mittelpunkt steht der Händler Abd al-Gawwad, ein geistreicher Unterhalter und Liebhaber schöner Frauen, der seine Familie jedoch als gefürchteter Patriarch beherrscht. Vor allem in der Figur seines jüngsten Sohnes Kamal, der sich für Literatur und Wissenschaft begeistert und hinter der brüchig gewordenen Fassade der religiösen Traditionen nach der Mechanik für Freiheit und Gerechtigkeit sucht, scheint Machfus‘ eigener Konflikt durch, als er sich nach Abschluss seines Philosophiestudiums für die Literatur entschied.

In den 60-er Jahren widmete er sich stärker der allgemeinen oder individuellen menschlichen Sinnsuche, nach Die Kinder unseres Viertels etwa in Der Dieb und die Hunde (1961) oder Das Hausboot am Nil (1966), seit den 80-ern auch der Neuinterpretation historischer Themen und Personen (Die Nacht der tausend Nächte, 1982; Echnaton, 1985). Die Drohungen gegen ihn und der Mordanschlag 1994 haben Machfus nicht einschüchtern können: „Meine Meinung habe ich zeitlebens nicht als Ware verstanden, um die sich feilschen lässt.“    ACK

Kasten Die wichtigsten Werke von Nagib Machfus

Die Midaq-Gasse, 1947

Ein Porträt der kleinen Händler, Handwerker und Gauner einer Kairoer Altstadtgasse im Wandel der Zeit. > S. XXX

Zwischen den Palästen, 1956

„Kairo-Trilogie“ I: Die Schicksalsgeschichte der Kaufmannsfamilie um den Patriarchen Abd al-Gawwad während des brit. Protektorats bis zur Freilassung Sultan Fuads.

Palast der Sehnsucht, 1957

„Kairo-Trilogie“ II: Es kommt zum Generationskonflikt zwischen Abd al-Gawwad und dessen jüngstem Sohn Kamal, der an den religiösen Bräuchen zu zweifeln beginnt.

Zuckergässchen, 1957

„Kairo-Trilogie“ III: Der Zweite Weltkrieg erreicht Ägypten und zerreißt auch Abd al-Gawwads Familie: Bringt der Faschismus Unabhängigkeit oder Verderben?

Die Kinder unseres Viertels, 1959

Die Geschichte eines Viertels als Parabel auf die Menschheitsgeschichte seit der Vertreibung aus dem Paradies ist in Ägypten bis heute (2002) nicht verlegt worden.

Der Dieb und die Hunde, 1961

An einen realen Mordfall anknüpfend, der Kairo gerade in Atem gehalten hatte, beschäftigt sich Machfus mit der Bewältigung vermeintlich erlittenen Unrechts.

Die Spur, 1964

Auf dem Sterbebett lüftet eine in ganz Alexandria gefürchtete Bordellwirtin ihr letztes Geheimnis und überlässt ihrem Sohn Sabir ein Foto seines tot geglaubten Vaters.

Das Hausboot am Nil, 1966

Auf Anis Zakis Hausboot treffen sich allabendlich resignierte Kairoer Intellektuelle, die sich von den Traditionen distanziert haben, auf der Suche nach neuen Idealen.

Die Nacht der tausend Nächte, 1982

Machfus setzt die Erzählungen Scheherazades fort und berichtet von einem Sultan, der sich auf der Suche nach der Wahrheit nachts unter seine Untertanen mischt.

Der letzte Tag des Präsidenten, 1985

Die Geschichte der Liebe zwischen Randa und Alwan während der Ära Sadats, die aufgrund der sozialen Zustände jedoch zum Scheitern verurteilt ist.

(Marginalspalte:)

Nagib Machfus 1988 in seiner Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur:

Ich bin ein Sohn zweier Zivilisationen, die sich in einer bestimmten Epoche der Geschichte zu einem fruchtbaren Bund vereint haben. Die eine ist die etwa 7.000 Jahre alte Pharaonenzeit und die andere die islamische Zivilisation. (…) Ich komme aus einer Welt, die unter einem Schuldenberg begraben liegt, den sie nur um den Preis von Not oder gar Hungerkatastrophen abtragen kann.

(Das Buch der 1000 Bücher, Harenberg 2002)

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