DER ZUSPÄTGEKOMMENE
Zwischen Mangas und Graphic Novels scheint derzeit wenig Raum zu sein für die Klassiker des Mediums. Der Bonner Bocola Verlag hat hier für sich eine Marktlücke entdeckt – und nun mit Warren Tufts‘ Lance ein vergessenes Meisterwerk ausgegraben. Von Andreas C. Knigge
Es ist wohl eine der imposantesten Seiten, die in den Sonntagsbeilagen der amerikanischen Tageszeitungen jemals erschienen ist. Sie besteht aus vier Bildern und erzählt davon, dass Zeit vergeht. In der Woche zuvor hatte Lance St. Lorne zusammen mit zwei Begleitern die Verfolgung von Pferdedieben aufgenommen. Nun sind die Männer unterwegs durch bewaldete Hügel und die Wüste, „Tag für Tag, Meile für quälende Meile“. Bis sie auf dem letzten Bild, das die halbe Seite füllt, am im Nachmittagslicht flirrenden Grand Canyon stehen, mit dem Rücken zum Leser, wie auf einem Bild von Caspar David Friedrich.
Oder sollte man besser Betrachter sagen? Denn keinerlei Handlung oder Aktion lenkt ab von dem eigentlichen Spektakel, das Warren Tufts auf diesem Blatt inszeniert – der Landschaft, in der sich die Reiter förmlich verlieren, allein auf einem kleineren Panel links unten sind einmal auch deren Gesichter zu sehen. Alles an der Gestaltung dieser Seite weist darauf hin, dass der Zeichner den Effekt bewusst gesetzt hat. Im Gegensatz zu seinen vorherigen Blättern (oder den später folgenden) hat er sich allein der Farbe bedient und auf die üblichen Konturlinien verzichtet. Nicht einmal die Bilder sind schwarz umrandet. Zwanzig Jahre später werden die Franzosen diese Technik entdecken und „couleur directe“ taufen.
Erschienen ist die Seite am 27. Mai 1956 in hundert Zeitungen in den USA. Und sie erzählt nicht nur vom Wilden Westen, sondern auch vom Ende einer Comic-Ära. Knapp dreißig Jahre zuvor hatte sich in Strips wie Little Orphan Annie oder Wash Tubbs gerade das Abenteuer einzuschleichen begonnen, schon bald werden Serien wie Tarzan, Flash Gordon oder Terry and the Pirates zum Höhepunkt eines jeden Sonntags. Noch gibt es kein Fernsehen, das Comic-Heft steht gerade erst am Start, und die großformatigen farbigen Sonntagsseiten von Zeichnern wie Burne Hogarth oder Alex Raymond sind wahre Bildsensationen.
Doch nach dem Krieg vollzieht sich ein Wandel, Highways, Supermärkte, Fastfood und das Fernsehen beschleunigen den Alltag und verändern die Gesellschaft. Auf den Comic-Seiten sind nun nicht mehr Abenteuer gefragt, die sich erst nach Monaten auflösen, sondern kurze, prägnante Gags wie Peanuts oder Beetle Bailey. Die Abenteuer-Strips verschwinden zusehends. Das geschieht gerade, als Warren Tufts zum Comic stößt. 1949 hat er seinen ersten Zeitungsstrip begonnen, ebenfalls ein Western, der zur Zeit des Goldrauschs spielt – dicht erzählt und famos in Szene gesetzt. Doch nach sechs Jahren überwirft er sich mit United Feature und beendet Casey Ruggles. Grund für den Disput: Tufts Syndikat hatte die Anfrage von Columbia Pictures nach einer Fernsehserie abgelehnt, der neu aufziehenden Konkurrenz traut man nicht.
Der Nachfolger heißt Lance und beginnt am 5. Juni 1955 als Sonntagsseite. Unter Mithilfe seiner Familie übernimmt Tufts die Syndikatsarbeit jetzt selbst. Aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, zwar schafft es Lance am Anfang in beinahe hundert Zeitungen, doch während der nächsten Jahre werden es immer weniger, die Folge am 29. Mai 1960 ist schließlich Tufts letzte. Außerhalb von Comic-Kenner-Zirkeln wird seine Serie später nie nachgedruckt oder gar übersetzt. Allein schon deshalb ist die Ausgabe, mit der Bocola jetzt beginnt, eine kleine Sensation, Weltpremiere sozusagen. Fällig war das allerdings schon lange.
Warren Tufts kommt am 12. Dezember 1925 in Freso in Kalifornien zur Welt. Noch während seiner Highschool-Zeit produziert er Krimi-Serials für das Radio, die er selbst schreibt und spricht, und arbeitet auch für die Werbung. 1943 wird er eingezogen und zeichnet seine ersten Comic-Strips für die Navy, „Abenteuer, in denen es ums Überleben ging“, wie er später sagt. Nach dem Krieg gründet er mit einem Freund in Fresno und Bakersfield eigene Sendestationen, hat 1948 allerdings die Nase voll vom Radio und nimmt sich drei Monate, um Casey Ruggles zu entwickeln. Die erste Sonntagsseite erscheint am 22. Mai 1949, ein zusätzlicher Tagesstrip folgt vier Monate später, bald arbeitet Tufts achtzig Stunden in der Woche und muss sich nach Assistenten umsehen.
Aus dem Stand heraus, ohne entsprechende Ausbildung oder Anleitung, gelingt Tufts ein ebenso packend erzähltes wie brillant gezeichnetes Debüt. Vorbild ist dabei Hal Foster – höher kann man kaum greifen. Bei Lance geht das so weit, dass Tufts auf Sprechblasen verzichtet und diese durch Textfelder ersetzt, wie bei Prinz Eisenherz. Und doch reicht es kaum, ihn einen Epigonen zu nennen. Sicher, da sind nicht zu übersehende stilistische Parallelen, vor allem bei Gesichtern und auch in Bildkompositionen. Allerdings begreift Tufts viel stärker als Foster seine Seiten als eine Gesamtkomposition; die Bildszenen sind aufeinander abgestimmt, weniger nur Abfolge von Momenten. Konsequent setzt er Panels auch dramaturgisch ein – wie etwa bei der Ankunft der drei Reiter am Rande des Grand Canyon.
Dass sich Tufts mit Lance abermals dem Western widmet, hat er selbst einmal mit Kindheitserinnerungen an seine Zeit bei den Boy Scouts of America begründet. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte aber sicher auch der Wild-West-Boom im Kino und Fernsehen gespielt haben. Unterm Strich ist der Western eine Domäne des Films, denn eins seiner zentralen Themen ist die Landschaft, Verkörperung von Freiheit und Bedrohung zugleich. Und hinsichtlich deren Inszenierung hat der Comic nie mit der Leinwand konkurrieren können. Es sind somit vor allem die Bilder des Films, die die Mythologie des Genres prägen. In Comics hat Amerikas ureigene Folklore nie eine wesentliche Rolle gespielt. Zwar gibt es Zeitungsstrips (bezeichnenderweise verzichten die beiden einzigen Bravourstücke, Ed Leffingwells Little Joe und White Boy von Garrett Price, auf jeden Naturalismus) und comic books, doch sind diese nie besonders erfolgreich und oft recht kurzlebig.
Das trifft natürlich gleichermaßen zu auf Lance, mit der Einschränkung allerdings, dass Tufts tatsächlich der einzige amerikanische Comic-Künstler geblieben ist, der es vermochte, die Raumauffassung des Kinos auf seine Seiten zu übertragen und die Landschaften jenseits der frontier in fast lyrischen Bildern und atemberaubenden Farben zu beschwören (ganz ähnlich wie später auch Jean Giraud in Frankreich mit Blueberry). Lance ist also nicht nur in künstlerischer Hinsicht, sondern vor allem auch als Western eine Entdeckung.
Auch bei seinen Figuren orientiert sich Tufts merklich an der Ästhetik des Kinos. Held der Erzählung ist der junge Second Lieutenant Lance St. Lorne, 1834 stationiert in Fort Leavenworth in Kansas. „Hier“, heißt es gleich im ersten Bild, „ist die Grenze zum weiten wilden Westen Amerikas.“ Schon eine Woche später kommt es zur ersten handgreiflichen Auseinandersetzung mit Indianern vom Stamm der Sauk, und damit nehmen die Dinge ihren Lauf. Ein Detail am Rande: Lance’ Gesicht hat Tufts nach seinem eigenen Antlitz gestaltet, so dass er im Falle einer Verfilmung dessen Rolle würde übernehmen können.
Das erste Abenteuer, in dem der Held schwer verletzt wird und sich zudem verliebt, erstreckt sich für die damaligen Leser über vier Monate, dann geht es auf dem Mississippi nach St. Louis und von dort aus durch die Wildnis und über die Rocky Mountains bis an den Grand Canyon. Für dessen Schönheit haben die drei Männer allerdings kaum Augen. So überwältigend Tufts das Naturschauspiel auch inszeniert haben mag, für sie ist die Schlucht vor allem ein Gefahren bergendes Hindernis.
Ganz wie Foster in Prinz Eisenherz hat auch Tufts die Zeit analog zu der seiner damaligen Leser verstreichen lassen, am Ende des ersten Bocola-Bandes sind wir im Herbst 1835 angelangt. Und das, obwohl Tufts zwischendurch auch noch eine Episode eingeflochten hat, die ein Jahr nach dem Start der Serie zurückführt in Lance‘ Jugend und ihn als Sprössling eines französischen Adeligen outet, der vor der Schule ausreißt, sich als Trapper durchschlägt und Kid Carson begegnet, bevor er bei den „Langmessern“ landet.
Lance ist eine spannende Erzählung, um größtmöglichen Realismus in der Darstellung bemüht, und in der Gut und Böse nicht nach Hautfarben verteilt sind, auch wenn man sich angesichts nicht immer kurzer Erzähltexte manchmal auf eine gewisse Schwerfälligkeit einlassen muss. Genau das allerdings läuft dem Zeitgeist der Fünfzigerjahre zuwider. Immer mehr Zeitungen bestellen die Serie ab, bis Tufts 1957 auf Sprechblasen umsattelt. Im gleichen Jahr schließt Lance den Bund der Ehe, und Tufts beginnt zusätzlich zur Sonntagsseite einen Tagesstrip. Der verschwindet ein Jahr später wieder, die Lance-Sonntagsseite erscheint noch bis 1960.
Warren Tufts ist ein Meister des klassischen Abenteuer-Strips, wäre Lance zwanzig Jahre früher erschienen, würde er heute zum Kanon dieser Kunst gehören. Doch Tufts kommt zu spät und wird vergessen. Er zeichnet noch einzelne Hefte für Serien wie Korak, Zorro oder The Pink Panther, dann kehrt er dem Comic den Rücken. In den Sechzigern tritt er in mehreren Folgen von Sam Peckinpahs Fernsehserie The Westerner auf – die beiden Männer sind in Fresno zusammen zur Schule gegangen – und fertigt anonym Storyboards für Hanna-Barbera.
Seine Leidenschaft ist das Fliegen. Schließlich gründet er die Tufts Aircraft und konstruiert eigene Flugzeuge. 1979 erzählt er von einer „illustrated novel“, die er vorhabe, und in der ein antiker Doppeldecker aus den Dreißigerjahren eine Rolle spielen soll, „körperlich und symbolisch“. Zum Erscheinen werde er mit einer solchen Maschine Promotion-Touren fliegen, „weltweit“, wie er hoffe. Er bezeichnet das Projekt auch als „autobiographical novel“.
Doch daraus wird nichts mehr. Am Morgen des 6. Juli 1982 kommt Warren Tufts bei einem Testflug auf dem Placerville Airport in Nordkalifornien von der Startbahn ab, stürzt eine Böschung hinab und verbrennt in der viersitzigen Maschine.
(Comixene 111, 2011)