Pasolini, Pier Paolo

italien. Schriftsteller u. Regisseur

* 5.3.1922 Bologna   † 2.11.1975 Ostia

Werkartikel: Ragazzi di vita, 1955

Bis zu seinem Tod bezeichnete sich Pier Paolo Pasolini als Kommunisten, obwohl man ihn schon 1949 wegen seiner Homosexualität aus der PCI ausgeschlossen hatte. Die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt und seine scharfe Kritik am Zustand Italiens bilden als Auflehnung gegen die Normierung den Kern seiner Kunst.

1942 erschien Pasolinis erster Gedichtband Poesia a Casarsa, als Reaktion auf die gleichgeschaltete Sprache des Faschismus in friaulischem Dialekt. Zum lyrischen Hauptwerk wurde 1957 der durch einen Besuch des Grabes des Marxisten Antonio Gramsci inspirierte, in italien. Sprache verfasste Gedichtzyklus Gramscis Asche; hier vorherrschend ist die sprachliche Ästhetisierung des Proletariats, die auch bereits Pasolinis ersten Roman > Ragazzi di vita (1955) kennzeichnet. Es folgten Regiearbeiten (> Kasten S. XXX), Stücke (Pilade, 1969; Affabulazione, 1972) und Essays (u.a. Freibeuterschriften, 1975).

Den von ihm selbst als sein Hauptwerk betrachteten und auf ca. 2.000 Seiten projektierten Roman Petrolio konnte Pasolini nicht mehr beenden. 1975 wurde er in einer Novembernacht am Strand von Ostia von einem Strichjungen erschlagen.

Biografie: E. Siciliano: Vita di Pasolini, 1978 (dt. 1980; 1994; 2000: Pasolini); N. Naldini: Pasolini, una vita, 1989 (dt. 1991 [erw.]: Pier Paolo Pasolini)

Ragazzi di vita

Mit seinem ersten Roman hat Pasolini die unbeachtete und verdrängte Peripherie Roms in den 50-er Jahren ausgeleuchtet und das Leben der kleinen Gauner, Spieler und Strichjungen beschrieben, jenes Milieu, aus dem später sein Mörder stammen sollte.

Entstehung: Nachdem 1949 ein Pfarrer unter Brechung des Beichtgeheimnisses Pasolinis Homosexualität publik gemacht hatte, musste dieser seine Stellung als Lehrer im Friaul aufgeben und floh mit seiner Mutter aus dem kleinen Casarsa nach Rom. Statt der dolche vita bot die neue Umgebung eine vita violenta; das Dorf seiner katholischen Jugendzeit und die verklärte Natur der bislang ausschließlich im friaulischen Dialekt verfassten Lyrik wichen einem unsentimentalen und dennoch zärtlichen Neorealismus, dessen Sprache den Soziolekt des römischen „Subproletariats“ aufgreift. Pasolini dokumentierte das Leben in den borgate, den slumartigen Vorstadtsiedlungen für die Arbeiter aus dem Süden, unter denen er nun in ärmlichen Verhältnissen lebte: „Von meiner Seite aus war da keine Wahl, sondern so etwas wie ein Zwang des Schicksals. Und weil jeder ein Zeugnis über das ablegt, was er kennt, blieb mir gar nichts anderes übrig, als Zeugnis über die römische borgata abzulegen.“

Inhalt: Die Außenbezirke der Ewigen Stadt werden als lose Szenenfolge ohne durchgehende Handlung und ohne eine Hauptfigur beschrieben, auch wenn mit Riccetto, so Carlo Emilio Gadda, „eine Person vorkommt, die von einem Kapitel zum anderen weitergeht“. Er und seine Freunde sind magere, braungebrannte, verschwitzte Halbstarke, die zwischen Betonbauten, Baracken und Baustellen in den Tag hinein leben, in Parks schlafen oder dem verdreckten Fluss baden, sich für das Lebensnotwendigste prostituieren oder stehlen. Ihr Leben ist trostlos und brutal, doch nicht ohne Zartheit und Menschlichkeit. Die vitale Lebenskraft der von der Konsumwelt noch nicht verdorbenen ragazzi verkörperte für Pasolini die Hoffnung auf gesellschaftliche Erneuerung.

Wirkung: Ragazzi di vita war auf Anhieb ein Erfolg, die erste Auflage erschien Ende Mai 1955 und war Mitte Juni vergriffen. Der Roman bewirkte allerdings auch eine Anklage wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“, doch endete dieser erste von mehr als 20 Prozessen, mit denen Pasolini während der nächsten Jahre u.a. wegen Beleidigung des Papstes und Blasphemie überzogen wurde, nicht zuletzt auch durch Fürsprache zahlreicher prominenter Schriftsteller wie Carlo Emilio Gadda oder Italo Calvino, mit einem Freispruch. Für die Verfilmung durch Mauro Bolognini (1959) schrieb Pasolini das Drehbuch.

Auch in seinem zweiten Roman, Vita violenta (1959; verfilmt 1961/62), blieben die ragazzi Pasolinis „Helden“. Im Gegensatz zum Vorgänger allerdings wird hier eine zusammenhängende Handlung erzählt, in deren Mittelpunkt Tommasino steht, der seinem Elend durch Beitritt in die PCI zu entkommen sucht. Später kehrte Pasolini mit seiner ersten Regiearbeit Accatone. Wer nie sein Brot mit Tränen aß (1961) in das Milieu der Straßenjungs zurück (> Kasten S. XXX).

Im italien. Geistesleben wird Pasolini heute als „nicht wegzudenkende Präsenz“ (V. Donne) angesehen und aufgrund seiner nonkonformistischen Positionen auch innerhalb der Linken gelegentlich sogar von der postfaschistischen Szene vereinnahmt. Das dt. Publikum hingegen nahm ihn lange nur als Regisseur wahr; als Vita violenta 1963 übersetzt wurde, bestand die Reaktion der Kritik aus nicht mehr als zwei Rezensionen. Erst mit den Freibeuterschriften (dt. 1978), einer Sammlung von zuvor hauptsächlich im Corriere della Serra erschienenen Aufsätzen über die „Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft“, fand auch sein literarisches Werk Beachtung.          ACK

STICHWORT   Regie: Pier Paolo Pasolini

Drehbücher: Noch im Friaul hatte sich Pasolini für den Film zu interessieren begonnen, doch „diese ganz alte Idee, Kino zu machen, ist im Sande verlaufen“. 1953, in Rom, gab er seine Lehrerstellung auf, um das Drehbuch für Mario Soldatis Die Frau vom Fluss (1954; mit Sophia Loren) zu schreiben. Es folgten Drehbücher u.a. für Luis Trenkers Flucht in die Dolomiten (1955), Federico Fellinis Die Nächte der Cabiria (1956/57; Mitarbeit) und Mauro Bologninis Verfilmung von Ragazzi di vita (1959: Wir von der Straße). Das Skript für sein geplantes Regiedebüt La Commare Secca überließ er Bernardo Bertolucci, der es 1962 realisierte.

Regie: Erstmals Regie führte Pasolini 1961 bei Accatone als klassischer auteur, der selbst die Darsteller (bevorzugt Laien) und Schauplätze auswählte. Obwohl er damals, wie er später bekannte, kaum Kameraobjektive unterscheiden konnte, entstand eine eindrückliche und präzise, vom Neorealismus beeinflusste Bildsprache. 1962 folgte Mamma Roma mit Anna Magnani als Hure, die ihren sozialen Bedingungen nicht entfliehen kann.

Wirkung: Der Kurzfilm La ricotta wurde 1962 wegen Blasphemie verboten und erst nach Schnittauflagen freigegeben, Pasolinis Das 1. Evangelium – Matthäus (1964; mit seiner Mutter als Maria) hingegen erhielt einen katholischen Filmpreis; ebenso wie Teorema. Geometrie der Liebe (1968), doch wurde diese Auszeichnung auf Druck des Vatikan zurückgezogen. Mehrfach prämiert, blieb Pasolinis filmisches Werk kontrovers. Nach Medea (1969; mit Maria Callas) und einer „Trilogie des Lebens“ nach erotischen Motiven klassischer Autoren (Silberner u. Goldener Bär 1971, 1972) verlegte er 1975 in seinem letztem Film Die 120 Tage von Sodom den Roman de Sades ins faschistische Salò und entwickelte eine schockierende Vision menschlicher Machtbessenheit.

(Marginalspalte:)

Auszug aus dem im Nachlass gefundenen autobiografischen Poem Wer ich bin von Pier Paolo Pasolini:

In Rom, von 1950 bis heute, August 1966,

tat ich nichts anderes als zu leiden und gierig zu arbeiten.

Ich war Lehrer, nach jenem Jahr ohne Arbeit, mit dem Leben am Ende,

an einer Privatschule, für 27 Dollar im Monat (…)

Wir wohnten in einem Haus ohne Dach und Verputz,

ein Haus armer Leute am äußersten Stadtrand, bei einem Gefängnis.

Fußhoher Staub im Sommer, ein Sumpf im Winter.

Doch es war Italien, Italien nackt und wimmelnd

mit seiner Jugend, seinen Frauen,

seinen „Gerüchen von Jasmin und armen Suppen“

den Sonnenuntergängen über den Feldern am Aniene, den Müllhalden:

und, was mich betrifft,

meinen unversehrten Träumen von Poesie.

Alles konnte, in der Poesie, eine Lösung finden.

(Das Buch der 1000 Bücher, Harenberg 2002)

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