AM ENDE VON RAUM UND ZEIT

Jean-Claude Mézières zählt zu den erfolgreichsten Comic-Künstlern französischer Provenienz, obgleich sein Werk vergleichsweise schmal geblieben ist. Gerade zwei Dutzend Alben sind seit 1970 erschienen, sämtlich mit Pierre Christin als Autor. Andreas C. Knigge besuchte ihn Anfang April in Paris in seinem Studio in der rue des Gobelins.

Passender könnte die Adresse kaum sein. Direkt gegenüber liegt, heute zum Teil ein Museum, die Manufacture nationale des Gobelins, deren Ursprünge zurückreichen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Ab 1667 als Königliche Tapisserie-Manufaktur geführt, haben hier nach farbigen Entwürfen von Malern zeitweise bis zu dreihundert Bildwirker und Lehrlinge kunstvolle Wandteppiche gefertigt, darunter etliche aus einzelnen Szenen bestehende »Geschichten«.

Tritt man durch die in ein blaues Holztor eingelassene Tür auf der anderen Straßenseite in den winzigen Hof, scheint man in eine vergangene Zeit zu reisen. Knarrende Stufen führen im leicht windschiefen Hinterhaus hinauf in den ersten Stock, wo sich Mézières‘ Wohnung befindet. Eine ebenso enge und steile Treppe höher hat er sein Studio. Weiß gestrichene Balken stützen die hölzerne Decke, dazwischen der Zeichentisch, überquellende Regale links und rechts davon. An den Wänden hängen Lithografien mit Motiven aus Valerian und eine Pinnwand mit Fotos, auf denen er mit befreundeten Zeichnern zu sehen ist sowie mit Cowboyhut zu Pferd auf »seiner« Ranch in Utah. »Magst du ein belgisches Bier?«, fragt er und fischt aus dem Kühlschrank ein Sixpack. Pourquoi pas.

Gerade hat er ein Interview für das kanadische Fernsehen hinter sich. Wir hatten uns – »damit ich die Leute nicht den ganzen Tag am Hals habe« – für den frühen Nachmittag verabredet. »Lass mich fünf Minuten Luft holen«, sagt er, lässt sich auf das Sofa fallen und seine Flasche aufschnappen. Ich setze mich auf einen Stuhl mit wackeligen Armlehnen und hole das Aufnahmegerät aus meinem Rucksack. Kurz erzählt Mézières von dem Filmteam, dem ich eben noch begegnet bin, dann ist er bereit: »Also los, was willst du wissen?«

ACK: Lass mich mit einem Kompliment beginnen: Ende vergangenen Jahres, zwischen Weihnachten und Silvester, habe ich mir, das hatte ich lange schon vor, endlich die Valerian-Gesamtausgabe vorgenommen und die ganze Serie komplett in einem Stück gelesen. Was mich beeindruckt hat, ist die zeitlose Frische, die selbst von den ersten Bänden heute noch ausgeht, obwohl sie vor einem halben Jahrhundert entstanden sind und nichts so schnell Patina ansetzt wie gerade die Science-Fiction.

JCM: Nun ja, als der Zeichner bin ich da natürlich ganz anderer Meinung und sehe heute eher die Schwächen der ersten Storys. Als es 1967 losging, hatte ich schon einige Comics veröffentlicht, stand trotzdem jedoch noch am Anfang. Aber ich verstehe, was du meinst. Wenn man die alten Pilote-Ausgaben dieser Jahre durchblättert, hebt sich das ab von klassischen Serien wie Jacques Le Gall oder Der rote Korsar. Bei Pilote herrschte damals dank René Goscinny eine große Offenheit, sowohl thematisch wie auch bezüglich der Gestaltung. Davon profitierte eine junge Generation von Künstlern, die Neues ausprobieren konnte. Das betraf nicht nur mich, sondern eine ganze Schar von Zeichnern, die in diesen Jahren begonnen und in der Folge die bande dessinée stark geprägt haben. Tatsächlich wusste ich überhaupt nicht, wohin ich stilistisch eigentlich wollte – lediglich, wohin ich auf gar keinen Fall wollte.

ACK: Was mir bei der Lektüre auch noch einmal bewusst wurde, ist diese vor allem anfänglich seltsame Balance – oder ist es Unentschlossenheit? – zwischen Abenteuer und Humor.

JCM: Unentschlossenheit trifft es durchaus: Wenn man mit etwas anfängt, sollte man sich selbst nicht blockieren, indem man sich zu starre Regeln auferlegt, sondern man sollte sich Zeit nehmen, sich zu entwickeln, und schauen, wohin die Reise geht. Ausgerechnet diese Melange scheinbar gegensätzlicher Elemente wurde dann zu meinem ureigenen Stil – vielleicht, weil ich mir selbst nicht traue (lacht): Abenteuer und Witz, Hightech und archaische Verhältnisse, mittelalterliche Kostüme. Oder grafische Komplexität und zugleich eine klare Schlichtheit … dieser Dualismus ist ein Markenzeichen von Valerian geworden.

ACK: Gab es bereits etablierte Zeichner, die dich anfangs inspiriert haben, hattest du Idole oder Vorbilder?

JCM: Auf einigen Kinderzeichnungen aus den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern haben meine Figuren gerne ein rundes Gesicht wie Hergés Tim und einen massigen Körper wie Arys Buck von Uderzo (lacht). Spätere Vorbilder für mich waren Jijé und vor allem André Franquin, der mich stark beeinflusst hat. Allerdings wollte ich ihn auf gar keinen Fall kopieren, sondern vielmehr die Frische seiner Arbeiten, um dein Wort aufzugreifen, auf Valerian übertragen, seine Kniffe und wie er bestimmte Situationen grafisch löste. Von ihm habe ich eine Menge gelernt. Wie viele von uns damals, nimm zum Beispiel Christian Godard.

ACK: Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du am liebsten eine Westernserie gezeichnet, aber dann wurde es eine Space Opera. Science-Fiction war zu dieser Zeit in Frankreich ein noch recht ungewohntes Genre – hat dir das Probleme bereitet?

JCM: Schau dir die frühen Geschichten an: In der ersten geht es zurück ins Mittelalter, wo Valerian Veronique begegnet, in der zweiten ins versunkene New York des damals noch vor uns liegenden Jahres 1986. Viel Science-Fiction findet da nicht statt, zumindest nicht auf der grafischen Ebene. Ganz im Gegenteil, die zweite Hälfte von Die Stadt der tosenden Wasser spielt in den Rocky Mountains, da gibt es Pferde, eine Farm, und damit war ich ganz in meinem Element. Mit SF geht es eigentlich erst in Im Reich der tausend Planeten richtig los, da war ich langsam warm geworden und konnte aufbrechen in neue Universen und andere Welten erfinden. Vorher war die SF kaum mehr als ein dramaturgischer Rahmen.

ACK: Hat es dich später nie gejuckt, doch noch mal einen Western in Angriff zu nehmen?

JCM: Ich habe die eine oder andere Kurzgeschichte gezeichnet, aber im Grunde war ich froh, dass es Science-Fiction geworden ist. Es gibt so viele Western von teilweise grandiosen Zeichnern, allen voran natürlich Giraud mit Blueberry, da hätte ich in harter Konkurrenz gestanden, die mir dank Valerian erspart geblieben ist. Was bedeutet, dass ich mich völlig frei entwickeln konnte, ohne immer wieder zu schielen, was der eine macht oder wie der andere etwas gelöst hat in seiner Serie.

ACK: In Pierre Christins Autobiografie gibt es eine Szene, in der er beschreibt, welche Wirkung amerikanische Westernfilme in der grauen Nachkriegszeit auf ihn ausgeübt haben …

JCM: Das war bei mir ganz genauso. In Saint-Mandé, wo wir aufgewachsen sind, gab es ein Kino, und da haben wir so manchen Film auch zusammen gesehen.

ACK: Ihr seid beide Jahrgang 1938 und habt euch im Alter von fünf Jahren kennengelernt. Einen Teil von Ost-West könnte man somit also auch als deine Biografie bezeichnen: Erinnerst du eure Zeit in Saint-Mandé ebenso, wie er sie beschreibt?

JCM: Absolut, das war alles recht trostlos – wobei wir als Kinder ja auch nichts anderes kannten. Das Kino wurde nach dem Krieg zu unserem Fenster in eine andere Welt. Meiner Familie ging es insgesamt etwas besser als der von Pierre, mein Vater hatte einen guten Job im Justizministerium. Auch waren wir nicht direkte Nachbarn. Vielmehr wohnte bei uns im Haus eine Tante von Pierre, und da das Haus seiner Eltern über keinen Keller verfügte, schlief er dort, wenn Bombenangriffe drohten. So trafen wir eines Nachts aufeinander, das muss Ende 1943 gewesen sein, vielleicht Anfang 1944.

ACK: Pierre beschreibt, dass ihr euch die Zeit damit vertrieben habt, zu malen, und dass du schon damals außergewöhnliches Talent zeigtest. Wie kam es dazu, dass du später dann mit Comics angefangen hast?

JCM: Jedes Kind zeichnet gerne, aber für mich war das eine regelrechte Passion. Und so besuchte ich schließlich ab 1955 die École des Arts Appliqués, wo ich Jean Giraud kennenlernte, der schon damals so unendlich viel besser war als ich. Das hat mir wirklich den Atem verschlagen: Wofür ich mich mächtig abrackern musste, das floss einfach so aus ihm heraus. Dann sah ich mich um, wo ich als Zeichner Geld verdienen könnte, und landete schließlich [1956] bei Fripounet et Marisette, einem erzkatholischen Kindermagazin, benannt nach der Titelserie von René Bonnet. Über gut zwei Jahre hinweg fertigte ich da vornehmlich Illustrationen an, aber auch kurze Comics, zumeist eine Seite lang. Die Bezahlung war jämmerlich, und so hielt ich auch nach anderen Möglichkeiten Ausschau. Ende 1958 erschien, direkt neben Lucky Luke (lacht), eine Oncle Paul-Weihnachtsgeschichte von mir auch in Spirou, zwei Seiten ohne Sprechblasen, Text unter den Bildern, die einer der Hausautoren [Octave Joly] geschrieben hatte: La première crèche. Bevor sich da allerdings etwas vertiefen ließ, begann mein Militärdienst, zweieinhalb Jahre, von denen ich eins nach Algerien musste. In Schießereien bin ich da zwar nicht verwickelt gewesen, aber es war auch so die Hölle. Andererseits hat mich das davor bewahrt, mit diesem unterbezahlten Plunder weiterzumachen. Als ich 1961 zurück nach Paris kam, waren Comics für mich gestorben. Stattdessen fertigte ich sogar auf den zweiten Blick von Fotos kaum zu unterscheidende »Gemälde« für die L’Histoire des civilisations, ein fünfbändiges Großprojekt des Verlages Hachette. Ebenfalls dabei war Giraud, begann bald aber seinen Blueberry. Zu dieser Zeit entstand auch der Plan, zusammen durch die USA und Mexiko zu reisen. Eines Tages brach er auf und überließ Blueberry Jijé, dem er vorher schon bei dessen Jerry Spring assistiert hatte. Eigentlich wollten wir uns irgendwo treffen, doch als ich endlich soweit war und im Juni 1965 in New York eintraf, machte er sich schon wieder auf die Rückreise. Aus dem gemeinsamen Trip wurde also nichts.

ACK: Dafür trafst du dann Pierre in Utah.

JCM: Ja, aber das dauerte noch eine Weile, noch war er in Paris. Auf dem Weg nach New York hatte ich einen Arzt kennengelernt, der mich auf einer halsbrecherischen Autofahrt von nur zweieinhalb Tagen mit zu einer Hochzeit nach Seattle nahm. Von da aus bin ich weiter nach Montana getrampt und suchte mir einen Job auf einer Farm. Irgendwann stand jedoch der Winter vor der Tür, also brach ich auf nach Salt Lake City, wo Pierre inzwischen eingetroffen war.

ACK: Wie du dort bei ihm vor der Tür stehst und fragst, ob er Platz für dich auf seinem Sofa hat, schildert er ja ziemlich am Anfang von Ost-West. Und er erzählt auch, wie ihr eines Tages zusammensitzt, darüber redet, was ihr in Zukunft machen wollt, und so eure Zusammenarbeit beginnt: Verlief das tatsächlich so einfach und fast beiläufig, wie er es schildert?

JCM: Exakt so. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich nie wieder mit Comics angefangen.

ACK: Pierre erzählt auch davon, wie er in MAD eine Form von Comics entdeckt, die es in Frankreich zu dieser Zeit nicht gab. Hat dich das ebenso beeindruckt?

JCM: Natürlich, Zeichner wie Jack Davis oder Will Elder … das hat mir in der Tat den Atem verschlagen! Und wenn du dir meine allerersten Kurzgeschichten für Pilote anschaust, dann siehst du auch, dass das nicht ganz ohne Einfluss geblieben ist.

ACK: Welche Comics hast du als Kind zuvor gerne gelesen?

JCM: Die Serien in Tintin, Blake und Mortimer etwa oder Alix. Gut kann ich mich auch noch an die quälend langen Monate erinnern, in denen Hergés Schritte auf dem Mond nicht weiterging. Dass es zudem Spirou gab, wusste ich damals gar nicht. Man kriegte von seinen Eltern natürlich immer nur ein Heft, und das war in meinem Fall Tintin. Spirou lernte ich erst später kennen, als ich mit Freunden zu tauschen begann. Und dass es darin sehr viel anarchischer zuging als in Tintin, gefiel mir nicht schlecht.

ACK: Was mich doch etwas wundert: Eure erste Story, Le Rhum du punch, hast du Jean Giraud nach Paris geschickt, und sie ist in Pilote dann ja quasi ohne euer Wissen beziehungsweise ohne einen Vertrag erschienen …

JCM: Ich hatte sie ja gezeichnet, damit sie veröffentlicht wird, und damals hat man solche Dinge auch nicht so eng gesehen. Pilote war ein wöchentliches Presseobjekt, da gingen die Dinge zack zack, und schon war man bei der nächsten Ausgabe. Jean hat die Geschichte übrigens zuerst Jijé gezeigt, und der hat sie Spirou vorgeschlagen, aber die hatten kein Interesse. René Goscinny hingegen hat sie gefallen.

ACK: Dann entstand eine zweite, die helfen sollte, eure Rückreise nach Frankreich zu finanzieren. Vorhin erzähltest du, wie jämmerlich die Honorare in Sachen Comics waren …

JCM: Zum einen hat Pilote recht anständig bezahlt, das konnten die sich leisten wegen Asterix. Zum anderen ging es nur um die Kosten für meine Rückreise, Pierre hatte ja seinen Job an der Uni in Salt Lake City. Und wenn ich mich recht erinnere, hat er wohl auf seinen Anteil sogar zu meinen Gunsten verzichtet.

ACK: Du wurdest zu einem Zeichner für Pilote also quasi in Abwesenheit. Nach deiner Rückkehr hast du für das Magazin auch mit einer Reihe anderer Autoren gearbeitet wie beispielsweise Fred, Reiser, Jacques Lob …

JCM: Ja, das war die Zeit, als Pierre in Bordeaux stark eingespannt war mit der Gründung der École de Journalisme. Und es war eine Erfahrung, die mir deutlich machte, was ich an Pierre hatte. Fred beispielsweise legte mir fertige Layouts vor, die ich quasi nur noch tuschen musste. Das ließ mir bei der Ausgestaltung nicht die geringste kreative Freiheit. Auch mit Reiser und sogar mit Goscinny war die Arbeit alles andere als ein Vergnügen. Meine Arbeit mit Pierre hingegen lebt davon, dass ich genau weiß, worin er gut ist, und er genau weiß, worin ich gut bin. Wir arbeiten zusammen an einer gemeinsamen Geschichte, ohne die Freiheiten des anderen einzuschränken.

ACK: Wie sieht das konkret aus? Setzt ihr euch vor einer neuen Geschichte oder einem Album zusammen, tauscht Ideen aus und diskutiert?

JCM: Nein, gar nicht. Pierre schreibt und ich zeichne, gebe seinem Szenario sozusagen eine Form. Ich lege los, bevor die Geschichte überhaupt fertig ist. Wie sie abläuft oder ausgeht, will ich gar nicht wissen. Pierre versorgt mich lediglich mit Informationen wie: »Also diese Figur hier, die wird später wieder auftauchen und noch jene Rolle spielen.« Ich suche dann nach der besten Lösung, die jeweilige Szene so gut und funktional und klar wie möglich umzusetzen. Sicher, manchmal kommt es zu Interaktionen wie beispielsweise im Falle von Monsieur Albert, für den Pierre zunächst eine sehr viel kleinere Rolle vorgesehen hatte. Doch dann gefiel ihm meine zeichnerische Umsetzung so gut, dass er dessen Rolle ausbaute.

ACK: Pierre sagte einmal, dass du im Gegensatz etwa zu Annie Goetzinger oder Enki Bilal seine Szenarios regelrecht zerpflücken würdest, bevor du dich an die Arbeit begibst …

JCM: Ja, das liegt daran, dass ich in allem was ich tue, unsicher bin. Von uns drei Zeichnern bin ich wohl der unentschlossenste. Also sage ich zu allem erst einmal fast ein wenig bockig »nein!«, wie ein Pferd, das vor einem Hindernis scheut. Nur um dann, wenn ich die Dinge durchdrungen habe, zu sagen: »Na, vielleicht ist die Idee ja doch gar nicht schlecht …« Mir fehlt komplett eine Selbstsicherheit, wie sie etwa Bilal hat oder Mœbius an den Tag legte: Der zückte seinen Stift, und ohne auch nur eine Sekunde des Überlegens floss eine Zeichnung genau so aufs Papier, wie er sie haben wollte – das war schon beinahe Magie.

ACK: Und das funktioniert auf diese Weise immer reibungslos?

JCM: Sicher gibt es hier und da auch Diskussionen und am Ende einen Kompromiss. Aber das betrifft nie die Geschichte, sondern allein die Auflösung einer bestimmten Szene. Pierre weiß ganz genau, wie ich ticke, und er kommt mir und meinen Interessen stets sehr entgegen. Etwas gerumst hat es lediglich ein einziges Mal, das war bei Lebende Waffen. Da erschien mir eine Szene zu lang und zu kompliziert, mit zu vielen Dialogen, die in meinen Augen nicht wichtig waren und den Erzählfluss gebremst haben. Pierre war gerade in Asien unterwegs, also konnte ich das nicht mit ihm besprechen und habe sein Szenario um fünf Seiten gekürzt. Als er zurückkam, war er darüber nicht gerade glücklich. Aber er war halt nicht da …

ACK: Im Laufe der Zeit ist eine stattliche Anzahl von Charakteren und Figuren entstanden, die euer Universum bevölkern. Nehmen wir die Shinguz oder den Schnarf: Liefert Pierre dir da Angaben auch zu deren Äußerem?

JCM: Nein, einzig zu ihrem Wesen und ihren Eigenarten, ihr Aussehen entwickele ich. Man kann es auf die kurze Formel bringen, dass Pierre ihr Inneres festlegt und ich die Hülle.

ACK: Pierre hat deine sämtlichen Alben geschrieben, neben dreiundzwanzig Valerian-Bänden auch Lady Polaris. Das ist mit Ausnahme kurzer Strecken ja eigentlich kein Comic, und im Vordergrund steht das Dokumentarische.

JCM: Ja, das ist weniger meine Sache. Aber ich war neugierig, was Pierre da vorhatte, und es war zudem sehr angenehm und interessant, mit ihm all die Hafenstädte zu bereisen. Aber ich bevorzuge eher eine Situation, in der ich meiner Phantasie freien Lauf lassen kann. Realität schränkt mich zu sehr ein (lacht).

ACK: Eine ähnliche Konstanz betrifft das Coloring. Die Farben von einundzwanzig deiner Alben stammen von Évelyne Tranlé.

JCM: Anfangs habe ich meine Geschichten selbst koloriert, aber bei Die Vögel des Tyrannen stand ich enorm unter Zeitdruck. Also habe ich Évelyne gebeten, die übrigens meine Schwester ist. Sie hatte schon einiges koloriert, das Blueberry-Album Das Gespenst mit den goldenen Kugeln etwa, Freds Philémon oder Asterix und der Avernerschild. Sie leistet eine phantastische Arbeit, also ist es dabei geblieben, was mich enorm entlastet hat. Auch wir arbeiten sehr frei und ich mache ihr keinerlei Vorgaben, sondern erkläre ihr vielmehr nur die Atmosphäre der Szenen.

ACK: Hattest du nie das Bedürfnis, selbst zu schreiben?

JCM: Ich habe einige Kurzgeschichten auch getextet und dabei festgestellt, dass ich ebenso wenig ein Autor bin wie Pierre ein Zeichner.

ACK: Wir sprachen schon kurz über Lady Polaris. Eine eurer Etappen bei der Vorbereitung war Hamburg, wo wir uns 1986 kennengelernt haben …

JCM: … es hatte mächtig geschneit und war bitterkalt.

ACK: Richtig. Sogar die Alster war zugefroren, und als ich euch eines Abends zurück ins Hotel brachte, konnten wir über das Eis schlittern. Das war im Februar, und von Hamburg aus seid ihr damals direkt weitergeflogen nach München, um an Peter Fleischmanns Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein mitzuarbeiten. Womit wir beim Film wären.

JCM: O je, ja. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie das zustande kam. Ich glaube, Fleischmann hatte irgendwelche französischen Partner, so ist wohl der Kontakt entstanden. Aber die ganze Sache entpuppte sich schnell als eine ziemliche Katastrophe. Es gab riesige finanzielle Probleme. Pierre sollte das Drehbuch retten, das komplett in die Hose gegangen war, aber die Arbeit lief dermaßen chaotisch und auch unangenehm ab, dass er nach einiger Zeit das Handtuch schmiss. Ich sollte Schauplätze entwerfen, die Kostüme und so weiter, und ich war fleißig dabei, bis ich merkte, dass Fleischmann das alles keinen Deut interessierte. Also habe dann auch ich irgendwann meine Sachen gepackt. Etliche meiner Entwürfe sind in dem Band Les Extras de Mézières [1995] abgedruckt, das ist alles, was von diesem Abenteuer geblieben ist. Das war keine gute Erfahrung. Wenn du Comics machst, kostet das ja quasi nichts, also lassen dich die Leute meistens in Ruhe und du kannst dein Ding machen, so, wie du es für richtig hältst. Beim Film dagegen geht es immer gleich um eine Menge Geld, und jeder meint, dir reinreden zu können. Das ist nicht nur verdammt anstrengend, sondern macht auch eine Menge kaputt.

ACK: Aber du hast dich davon nicht abschrecken lassen und dich einige Jahre später von Luc Besson für Das fünfte Element engagieren lassen.

JCM: Ja, und auch das ging ziemlich chaotisch los zunächst. Ende 1991 nahm Besson Kontakt mit mir auf, und schon wenig später habe ich einen Vertrag unterschrieben, hundert Tage lang für ihn zu arbeiten. Kurz darauf begann ich mit den ersten Szenenentwürfen [in Les Extras de Mézières 2: Mon cinquième élément, 1998]. Besson war schon als Teenager ein Fan von Valerian und im Gegensatz zu Fleischmann von meinen Entwürfen begeistert. Auch Mœbius war mit dabei und arbeitete zusammen mit einer Reihe von Zeichnern am Storyboard. Doch im Herbst 1992 war Besson plötzlich verschwunden, und wir erfuhren, dass er in New York Léon – Der Profi drehte. Ich dachte mir, nun dann war’s das wohl, und wandte mich wieder Valerian zu. Das war der Band Die Kreise der Macht, und als der 1994 erschien, schickte ich Besson ein Exemplar nach New York. Kurz darauf meldete er sich und erzählte, die Arbeiten an Das fünfte Element würden jetzt weitergehen: Er wolle das ursprüngliche Drehbuch noch einmal überarbeiten und dabei ein paar Ideen aus unserem neuen Album übernehmen. Besonders angetan hatte es ihm das fliegende gelbe Taxi, es wurde dann zu einer Art Markenzeichen des Films. Dass es zuerst in Valerian auftauchte, ist dagegen in Vergessenheit geraten (lacht).

ACK: Der Film kam 1997 heraus und blieb nicht eure einige Zusammenarbeit.

JCM: Die einzige direkte Zusammenarbeit war es schon, aber während der Dreharbeiten zu Das fünfte Element hatte ich Besson eines Tages gesagt: »Wenn du einen Science-Fiction-Film drehst, warum drehst du dann eigentlich keinen Valerian-Film?« Ich weiß nicht, ob das nun der Auslöser gewesen ist, aber zwanzig Jahre später war es soweit. Direkt beteiligt an dem Film waren aber weder ich noch Pierre.

ACK: Die Stadt der tausend Planeten war 2017 die bislang teuerste europäische Kinoproduktion. Magst du den Film?

JCM: Ach, das ist schwierig, erspar mir das. Es ist ein Besson-Film, zu dem wir, wie schon gesagt, außer der Grundidee nicht viel beigetragen haben. Er hat ihn so gestaltet, wie er es für richtig hielt, und er hat ihn für ein junges Publikum im digitalen Zeitalter gemacht. Ich komme da aus einer anderen Ecke, mir ist das alles zu schnell und zu wirr. Aber ich bin jetzt achtzig Jahre alt, soll ich mir da anmaßen, zu sagen, wie man so etwas heute machen sollte? Der Film war ein großer internationaler Erfolg, und wenn das dazu beiträgt, dass neue Leser auch die Comic-Serie entdecken, dann ist das toll … Hast du ihn gesehen?

ACK: Gleich am ersten Tag, zusammen mit einem befreundeten Comic-Zeichner. Und wir standen anschließend beide sprachlos vor dem Kino wie zwei kleine Jungs, die nicht glauben konnten, was ihnen da eben um die Ohren geflogen ist. Ich bin völlig deiner Meinung, das ist eher rauschhaftes Bildfeuerwerk als eine konsequent erzählte Geschichte wie der Comic. Aber ich hatte enormen Spaß und habe die DVD seitdem bestimmt ein halbes Dutzend Mal geguckt. Doch zurück zum Comic: Wie geht es da denn weiter?

JCM: Gar nicht.

ACK: Wie bitte?

JCM: Jedenfalls nicht mit mir als Zeichner. Schau dir den letzten Valerian an, meine Zeichnungen werden gegen Ende immer zittriger, das haut einfach nicht mehr hin. Also habe ich für mich einen Schlussstrich gezogen und werde keine Comics mehr machen. Was ja aber nicht zwangsläufig das Ende der Serie bedeuten muss – lassen wir uns überraschen, was Valerian und Veronique vielleicht noch alles passieren mag. Durch den Film ist dermaßen viel in Bewegung geraten, dass Pierre und ich auch zwei Jahre nach der Premiere noch das Gefühl haben, so viel mit unseren Raum-Zeit-Agenten zu tun zu haben wie noch nie zuvor.

ACK: Na dann, auf die Zukunft – und danke für das Gespräch!

(Reddition 70/2019)

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