AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN UNSCHULD

Oder: Cosey und die Poesie der Bilder

Von Andreas C. Knigge

Fast alle meine Geschichten laufen auf eine Suche hinaus. Ich bin ständig nach irgendetwas auf der Suche.

Cosey

Weiß. Nahezu das ganze Cover schlicht weiß. Allein am oberen Rand, durch schneebehangene Fichten hindurch, ein schmaler Blick auf farblos graue Wälder im Hintergrund. Erst sie verleihen der Zeichnung eine räumliche Dimension. Zum Leben erwacht sie durch einen Mann, der sich, weit entfernt und verschwindend klein, auf Skiern den Weg über die unberührte Schneedecke bahnt. Die Spur, die er hinterlässt, wirkt wie der Federstrich des Zeichners auf dem weißen Papier. Er kommt aus dem Irgendwo und endet schwungvoll bei der Figur im Zentrum der sonst leeren weißen Fläche. Bei dem jungen Mann, der im Folgenden im Mittelpunkt steht, Melvin Z. Woodworth wird er heißen.

Das Cover des ersten Teils von Coseys Erzählung À la recherche de Peter Pan sticht beim Erscheinen im September 1984 inmitten einer gewöhnlich knallbunten Comic-Welt ebenso heraus wie sechzehn Jahre zuvor in den Plattenläden das »white album« der Beatles. Und es erinnert an ein Album, das bereits 1960 aus dem Rahmen fiel: Tim in Tibet, für dessen Umschlag Hergé seinerzeit ein ganz ähnliches Motiv wählte. Auch hier wirken die Figuren am Rande akzidentiell, die Attraktion ist der verschneite Gebirgshang, der sich in unendlich wirkendem Weiß vor ihnen ausbreitet. Und über den sich ebenfalls eine Spur zieht – die des Yeti. Der bietet dem jungen Publikum Aktion und Witz, Kern des Bandes aber ist, wie bei Cosey, eine Suche, Tims Suche nach seinem (wie Hergés) verschollenem Jugendfreund Tschang in den Weiten des Himalaya.

Cosey hat, als er Auf der Suche nach Peter Pan beginnt, den Himalaya gerade hinter sich gelassen: Gleich zu Beginn der acht Jahre zuvor im belgischen Comic-Magazin Tintin begonnenen Serie Jonathan hatte er seinen Aussteiger und Globetrotter in der Hauptrolle am Fallschirm über dem Grenzgebiet zwischen Tibet und Nepal ausgesetzt, das verschneite Hochgebirge bleibt Schauplatz auch der nächsten Abenteuer. Souviens-toi, Jonathan lautet der Titel des ersten Albums: Auch hier geht es um eine Suche, Jonathans Suche nach der Erinnerung.

Jonathan ist der erste große Erfolg Coseys, der bei dessen Debüt noch nicht einmal fünfundzwanzig ist. Geboren am 14. Juni 1950 in Lausanne in der französischsprachigen Schweiz und mit bürgerlichem Namen Bernard de Cosendai, hatte er sich früh für das Zeichnen begeistert. Mit fünfzehn bricht er die Schule ab, um als Grafiker bei einer Werbeagentur zu arbeiten. Ihn reizt das Kommunizieren mittels visueller Botschaften, doch seine wirkliche Liebe gilt den »bandes dessinées«. 1969 nimmt er an einem Titelbild-Wettbewerb des Magazins Spirou teil und gewinnt den dritten Preis: Im Juni ziert Coseys Zeichnung – eine vor einem Himmel aus Regenbogenfarben aufsteigende Rakete – den Umschlag des Heftes 1628, er ist eben neunzehn geworden.

Nur wenig später lernt er den ganz in der Nähe am Genfersee lebenden Claude de Ribeaupierre kennen, der unter seinem Nom de Plume Derib seit einigen Jahren für Spirou zeichnet, und dessen Arbeit er schon eine Weile verfolgt. Derib hat aktuell gut zu tun und engagiert Cosey als seinen Assistenten, zuständig vor allem für das Tuschen von Hintergründen sowie die Kolorierung seiner Kinderserien Pythagoras, Attila und Yakari. Ab 1971 gestaltet Cosey zudem für Tageszeitungen eigene, zumeist kürzere Storys, in denen der Funny-Stil seines Lehrmeisters zielstrebig der naturalistischen Darstellung weicht. »Funnys interessieren mich nicht mehr«, wird er bald sagen. »Heute möchte ich nur noch realistische Comics machen.«

Cosey ist nun Comic-Zeichner. Seine Serie um den Fotoreporter Paul Aroïd (dessen Name klingen soll wie »Polaroid«) in den Lausanner 24 Heures kommt immerhin so gut an, dass 1973 zwei seiner Abenteuer auch als querformatiges Album erscheinen. Seine erste Buchveröffentlichung, im Sommer darauf gefolgt von Un shampooing pour la couronne (nach einem leider gänzlich verunglückten Szenario des Hörspielautors Jacques Ralf), das grafisch bereits den Cosey erkennen lässt, der ein halbes Jahr später Jonathan beginnt. Diesmal ganz unter eigener Regie auch selbst als Autor.

Nicht lange nach dem Pariser Mai kommt sein langhaariger Antiheld zur rechten Zeit. Die franko-belgische Comic-Welt erlebt dieser Tage einen Generationenwechsel, die Erzählweise und Ästhetik, die die Magazine in den Fünfzigerjahren ausgeprägt haben, werden obsolet. Auf einmal gibt es Raum für neue Themen und gestalterische Experimente; demnächst startet, nahezu zeitgleich mit Jonathan, in Frankreich das rebellische Métal Hurlant, »réservé aux adultes«, das die Branche aufmischen und revolutionieren wird – eine längst fällige Belebung der Gattung, die sich in Magazinen wie Pilote (mit dem Zugpferd Asterix) schon angekündigt hatte.

Auch Michel Régnier alias Greg, seit 1965 Chefredakteur von Tintin und selbst einer dessen maßgeblichen Autoren, spürt den Wandel und lädt eine Reihe junger Zeichner dazu ein, sich mit frischen Ideen und eigenen Vorstellungen auf noch unbekanntes Terrain zu wagen. Claude Auclairs Simon vom Fluss und Buddy Longway von Derib sind ab 1973 erste Erfolge. Auch mit Cosey vereinbart Greg eine neue Serie, allerdings tritt er wenig später von seinem Posten zurück, so dass Jonathan im Februar 1975 unter der Regie seines Nachfolgers Desclez debütiert.

Bereits der fünfte Band, Der blaue Raum zwischen den Wolken, wird 1979 in Belgien mit dem Grand Prix Saint-Michel ausgezeichnet, Kate, Band 7, drei Jahre später im französischen Angoulȇme als bestes Album mit dem Prix Alfred. Trotz des Erfolges jedoch verspürt Cosey zunehmend das Bedürfnis, sich aus den Gesetzmäßigkeiten der Serie zu lösen und eine neue, ganz andere Erzählung in Angriff zu nehmen. Sein Verlag ist darüber nicht eben erfreut, Jonathan ist zur ökonomischen Größe geworden.

Schließlich aber bekommt er grünes Licht, und am 7. Juni 1983 erscheinen in Tintin die ersten dreizehn Seiten von Auf der Suche nach Peter Pan. Der satte, kantige Strich der ersten Jonathan-Alben ist inzwischen einer sehr viel feineren, beinahe zerbrechlich wirkenden Linienführung gewichen, die Dialoge sind gestochen scharf und zünden. Das Titelbild zur ersten Fortsetzung nimmt, mitten im Sommer, das Covermotiv des späteren Albums vorweg; die Kamera ist hier dichter am Geschehen, und der Skifahrer saust über die weiße Schneedecke direkt auf den Betrachter zu.

Aber schon nach fünf »Kapiteln« – eine Bezeichnung, die das Magazin (À Suivre) als literarischen Anspruch postuliert, und die in Tintin zuvor auch Auclair für die einzelnen Episoden seiner Serie Simon verwendet hatte – lässt die Fortsetzung auf sich warten: Coseys Verlag zweifelt am Absatzpotenzial der unkonventionellen Erzählung und drängt stattdessen auf einen neuen Band von Jonathan. »Wenn Peter Pan das ist, was du machen willst, na gut. Aber er wird sich längst nicht so gut verkaufen wie ein neuer Jonathan«, prognostiziert man ihm, wie Cosey sich später erinnert und lacht: »Am Ende hat sich Peter Pan besser verkauft als je ein Album von Jonathan

Doch nun entsteht zunächst einmal Band 10,dessen Handlung sich vor untypischer Kulisse fernab des Himalaya entwickelt und Jonathan nach New York verschlägt – so als wolle Cosey nicht in zwei in eisiges Weiß gehüllten Welten zugleich unterwegs sein. Zehn Monate müssen sich die Leser von Tintin gedulden, bis es dann endlich weitergeht. Erst am 9. Oktober 1984, fast anderthalb Jahre, nachdem Melvin Z. Woodworth auf der Suche nach Eingebung für seinen Roman wie nach Spuren auch seines toten Bruders im verschneiten Ardolaz eingetroffen war, folgt schließlich der Epilog.

Hundertsiebzehn Seiten sind es am Ende – zu viel für ein Album, das sonst zu teuer würde, meint der Verlag. Also werden es zwei dünnere, die im Abstand von fünf Monaten 1984/85 in der Reihe »Histoires et légendes«, einer gerade neu begründeten Kollektion der Éditions du Lombard, in den Handel kommen. In einer Zeit, in der sich der Comic von seinem Ruf als reine Kinderlektüre gerade erst befreit, ist Coseys epische Erzählung ein Novum, der »roman bd« steht erst am Anfang, von »Graphic Novels« spricht noch niemand. Eine Ausgabe in einem Band (für die Cosey eine weitere Version seines »weißen Covers« beisteuert) legt erst 1992 in Deutschland der Carlsen-Verlag innerhalb einer Edition anlässlich seines fünfundzwanzigsten Comic-Jubiläums vor. In Frankreich und Belgien müssen die Leser auf eine »intégrale« bis 2007 warten.

Das Ambiente allerdings wirkt auf den ersten Blick bekannt im Gegensatz zum Erzählformat, verschneite Berge, wohin man schaut. Doch hat Cosey das Geschehen diesmal nicht in exotischer Ferne verortet, sondern quasi vor seiner Haustür, im Wallis. Seit seiner Kindheit, während der er mit seinen Eltern und Geschwistern häufig Ausflüge in den Nachbarkanton südöstlich von Lausanne unternahm, ist er mit der Region vertraut. In seiner Erzählung reist er sogar noch weiter zurück, ans Ende der 1920er-Jahre und in ein Valais, das lange schon verschwunden ist. »An einigen Abenden blieb ich bis zum Ende in der Wirtschaft sitzen, ohne mehr als ein oder zwei Worte gehört zu haben.«

Anders als bei Jonathan, wo das Reisen und Bewegung zum Repertoire gehören, konzentriert sich Cosey hier auf einen eng umgrenzten Schauplatz: auf das kleine Tal mit einem inmitten schneebedeckter Kuppen wie eingeschlossen wirkenden Dorf und seinen kantigen Bewohnern. Eine Bühne nahezu wie bei einem Kammerspiel – erst recht, als Ardolaz wegen Lawinengefahr evakuiert werden muss. Unweigerlich denkt man an Thomas Mann, an die Novelle Der Tod in Venedig, in der der angeschlagene Schriftsteller Gustav von Aschenbach – in Viscontis Verfilmung aus dem Jahre 1971 ein gleichnamiger Komponist – auf der Suche nach Inspiration in die Lagunenstadt reist, die sich alsbald von einer Cholera-Epidemie bedroht sieht. Und natürlich an den jungen Hans Castorp aus Hamburg, der in Der Zauberberg den Berghof in den Schweizer Alpen zu seiner von der Zeit abgeschnittenen Welt werden lässt.

Cosey nutzt den Gletschersturz, der das Tal bedroht, geschickt für einen überraschenden Twist: Ist Woodworth anfangs in dem kleinen Dorf ein Außenstehender, ein Fremder aus England, wird er in der Mitte der Erzählung zu dessen einzigem Bewohner – abgesehen von dem mysteriösen Klavierspieler im verwaisten Grand Hotel und einer unsichtbar bleibenden Frau. (Sowie zwei Gendarmen und dem alten Falschmünzer Baptistin, die auch noch hinzukommen.) »Über das verlassene Tal hatte sich eine Stille wie am Ende der Welt gelegt.«

Das lässt sich als Analogon betrachten zu Tims Abenteuer in Tibet. Die Passagen durch weiße Landschaften füllen dort ein Drittel des Bandes und sind Hergés Antwort auf eine Lebenskrise, die er seinerzeit durchlitt. Zum Ehekonflikt kommt ein Burnout, er wird verfolgt von gänzlich in grelles Weiß getauchten Träumen, einem ständigen »cauchemar blanc« (wie später Mœbius einen ganz anderen Albtraum nennen wird). Das Weiß symbolisiert die befreiende Reduzierung auf das Wesentliche, und somit hat Hergé hier konsequenterweise auch auf sein übliches Personal verzichtet. Tim und Struppi werden allein von Haddock begleitet, die sonstigen Nebenfiguren fehlen. Vielleicht erinnern die beiden Gendarmen, die Cosey trotz der Gefahr in Ardolaz verbleiben lässt, auch gerade deshalb unmittelbar an Hergés unvergessliches Detektivduo Schulze und Schultze.

Auf der Suche nach Peter Pan erzählt ein ganzes Bündel von Geschichten gleichzeitig, und jeder der Protagonisten folgt dabei seiner eigenen. Das (fiktive) Dorf im Wallis ist der geografische Schnittpunkt dieser Geschichten, zufällig, wie das Leben spielt, wenn einer sich auf den Weg begibt. Gesucht wird nach vielem, nach Geistesblitzen wie nach nächtlichen Klängen, nach Falschgeld und Freiheit, nach der Vergangenheit oder einem Wiedersehen. Manche Suche bleibt vergeblich, manchmal jedoch kommt auch etwas zutage, mit dem niemand mehr gerechnet hatte, am Schluss sogar ein ganzes Dorf.

Melvin entzündet sich in seiner Abgeschiedenheit an Peter Pan, dem freien Geist, der, unverdorben von Bildung und Moral, nie erwachsen wird, sondern immer ein Junge bleiben darf: »Ich las bis in die Nacht, einige Passagen sogar drei oder vier Mal.« J.M. Barries Klassiker (erschienen 1906) ist erklärtermaßen sein Lieblingsbuch, als »Jungbrunnen« betitelt er es an einer Stelle. Doch zum Wiederlesen muss er sich – das einzige Mal im gesamten Band – die Brille aufsetzen. Die Suche nach der jugendlichen Unschuld bleibt eine vergebene Suche.

Die verlorene Zeit, natürlich klingt Proust hier an. Vor allem in der konzentrierten Beobachtung der Details, dem bedächtigen Lauf der Dinge sowie Coseys Interesse an den flüchtigen Augenblicken belegen die Verwandtschaft. Bei aller Komplexität und allen Facetten bleibt seine Suche nach Peter Pan eine leise Geschichte, ohne jede Hast erzählt im Takt eines längst verschwundenen Damals am Ende der Welt. Und immer wieder schiebt sich die Landschaft vor die Akteure und zeigt sich von all ihren Seiten, von erhabener Schönheit und mit ersten zarten Krokussen im Schnee wie ebenso mit der brutalen Wucht, mit der sie auf den ihr im Szenario zustehenden Platz pocht.

Es sind Coseys Zeichenkunst und die Poesie seiner Bilder, die die Handlung tragen und über Strecken Worte überflüssig machen. Ebenso unaufdringlich wie präzise, lassen sie die Charaktere durch Gesten und Blicke lebendig werden, frieren stille Momente ein und versetzen die Erzählung in ihren unaufgeregten Zustand. Für Dynamik sorgt am Schluss dann ausgerechnet der betagte Baptistin, der es nicht nur mit der Schweizerischen Nationalbank im fernen Bern aufnimmt (»Das sind die wahren Diebe!«), sondern der Melvin eine Wahrheit enthüllt, die zurückführt in eine Zeit, bevor sie sich nun in Ardolaz begegnen. Und die Melvin erkennen lässt, dass Schuld längst an ihm haftete, als er fest noch an die Unschuld glaubte.

Unterlegt ist das von den Klängen eines Klaviers nach einer Komposition von Melvins Bruder Dragan. Coseys besonderes Verhältnis zur Musik hatte sich bereits bei Jonathan gezeigt, dessen Alben er Empfehlungen für einen Soundtrack (von Pink Floyd bis Mike Oldfield) vorangestellt hatte. Hier lässt er im sechsten Kapitel Dragans Variationen eines serbischen Themas mittels Bildern erklingen, begleitet auf der Flöte vom Hirtengott Pan. Zwei Seiten, bei denen man verweilen, die man erspüren muss, auf denen nichts »passiert«: Dass Coseys so tiefgründige Erzählung ursprünglich einmal in Tintin publiziert wurde, der »Wochenzeitschrift für die Super-Jungen von 7 bis 77« (so der Slogan), zwischen Rick Master, Bob Morane, Tounga, Alain Chevallier und Luc Orient, scheint heute kaum mehr vorstellbar.

Cosey hat sich mit À la recherche de Peter Pan ein Erzählformat erschlossen, das er auch künftig nutzen wird. Der Comic-Markt wandelt sich soeben von einem Zeitschriften- zum Album-Business, mit autarken Themen ein älteres Publikum anzusprechen, liegt ganz im Trend. Ende 1988 segnet Tintin nach zweiundvierzig Jahren wöchentlichen Erscheinens das Zeitliche, der Comic-Roman ist auf dem Vormarsch. Auch Coseys nächstes Projekt, Eine Reise nach Italien, erscheint 1988 wieder in zwei Alben (diesmal in der ambitionierten Kollektion »Aire libre« des Verlags Dupuis und neun Jahre später auch als »Gesamtausgabe«): Für das Schreiben und Zeichnen von gut hundert Seiten benötigt er rund zwei Jahre, das wäre ihm eine zu lange Zeit ohne eine Neuerscheinung und entsprechendes Auskommen.

Während sich in den »librairies« mehr und mehr die buchgroße Graphic Novel etabliert, legt Cosey Comic-Romane wie Orchidea (1992), Saigon – Hanoi (1993) oder Tallulah & May (1996) auch weiterhin im Albumformat an, seine Bilder benötigen Raum, um zu ihrer eigenen, für Cosey charakteristischen Seitenarchitektur zusammenzufinden. Hinsichtlich der Produktform stellt Cosey damit eine Art Missing Link dar zwischen klassischem und modernem Comic. Regelmäßig wechselt er zwischen Jonathan (zuletzt ist nach achtjähriger Pause 2021 Band 17 erschienen) und der autonomen Graphic Novel. Auch seine bisher längste Erzählung, Der Buddha des Himmels, legt er 2005/06 wieder in zwei Teilen vor – ganz so, wie alles zwanzig Jahre zuvor mit Peter Pan begonnen hatte.

In Thomas Manns Zauberberg wird Hans Castorp schließlich durch den »Donnerschlag« des Jahres 1914 aus seiner Isolation gerissen und kehrt zurück in die Welt, die inzwischen ein Schlachtfeld ist, auf dem er dann in Flandern wohl den Tod findet. Davon, dass auch ihnen schon wieder ein neuer Krieg bevorsteht, ahnen Coseys Protagonisten nichts, für sie bleibt es vorerst beim Donnerschlag des Gletschers. Und so erwartet Melvin Woodworth im Finale ein strahlendes Happyend, sogar kauft MGM die Filmrechte an seinem neuen Roman, der so auf ihm lastete. Seine Suche nach Peter Pan war vergebens – doch dafür enthüllt die Geschichte ihm ein Telos, das er selbst sich nie erträumt hätte. Ganz so, wie auch niemand nach dem verschwundenen Dorf mit der vergoldeten Kirchturmkuppel hatte suchen müssen.

Gerade diese glückliche Wendung allerdings irritierte auch etliche Leser, sie empfanden den Epilog als »Hollywood-Kitsch«. Doch der Schluss ist bewusst gesetzt, denn sonst hätte der Gletscher das letzte Wort gehabt (oder gar der dräuende Krieg). »Normalerweise versuche ich, Klischees zu vermeiden«, so Cosey. »Beim Epilog aber habe ich bewusst ein Klischee verwendet, um das Vorhergegangene zu relativieren. Es hat mich amüsiert, das bis an seine Grenzen zu treiben: ›Sie waren glücklich und sie hatten viele Kinder.‹ … Aber vielleicht ja auch, weil ich einfach eine Geschichte zeichnen wollte, die ein gutes Ende nimmt.«

Längst zählt Auf der Suche nach Peter Pan zu den schönsten und eindrucksvollsten Klassikern der Grafischen Literatur, wurde mehrfach ausgezeichnet (1988 mit dem Max-und-Moritz-Preis auch die deutsche Ausgabe) und liegt parallel zur farbigen Version nun ebenfalls als Schwarz-weiß-Edition vor. Das erlaubt einen neuen, ganz anderen Blick auf die Poesie von Coseys Zeichenkunst, reduziert auf den von der Kolorierung noch unberührten Strich. Gemäß dem alten Sprichwort, Weiß sei am besten zu erkennen, wenn man Schwarz dagegen hält, verlangte das ein anderes Titelbild. Die Wahl fiel auf eine Szene aus dem ersten Kapitel, Melvins Ankunft an seinem Ziel, wo die Suche beginnt. »Die Kirchturmuhr schlug sieben, als Melvin Z. Woodworth das Dorf Ardolaz erreichte.« Doch ohne es selbst zu ahnen, ist er da in ganz andere Geschichten schon längst verstrickt.

Bislang gab es zwei Comic-Werke, die in beiden Versionen, zwischen denen ich nie möchte entscheiden müssen, bei mir im Regal stehen (Corto Maltese und Akira). Mit Auf der Suche nach Peter Pan wird sich wohl ein drittes dazugesellen.

(Vorwort zu Cosey: Auf der Suche nach Peter Pan, CrossCult 2022)

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