[sprich græfik ‘novl; Am. græfik ‘nɑvəl]

Das Drama mit der Komik

Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?

Faust

Es ist vertrackt mit der »Graphic Novel«. Einerseits hat das Bildmedium Comic von dem Begriff immens profitiert. Graphic Novels finden heute breite Beachtung in Feuilletons, die Comics zuvor nicht einmal registriert haben, sie erreichen ein neues Publikum und sind zu einem neuen Segment des Buchhandels geworden. 2011/2012 gab die Süddeutsche Zeitung zwei jeweils zehnbändige Graphic-Novel-Editionen heraus, und ebenfalls bei belletristischen Verlagen erscheinen vermehrt Comics mit dieser Bezeichnung: Dass das Label allgemein als ein Qualitätsversprechen aufgefasst wird, verdankt sich dem Ruf richtungsweisender Autoren wie Will Eisner oder Art Spiegelman, Bestsellern wie Persepolis sowie erfolgreichen Verfilmungen. Und natürlich der Erprobung aufregend neuer Erzählweisen im Comic (Autobiografisches oder Joe Saccos journalistischer Zugang zu seinen Stoffen) und dem innovativen Umgang mit seiner Bildsprache (Jimmy Corrigan, Asterios Polyp u.a.).

Nach der Entdeckung seiner Bildartistik ab Mitte der 1960er-Jahre – 1967 stellte der Louvre Comics aus, 1971 proklamierte Francis Lacassin die Gattung in Frankreich als »neunte Kunst«[1] – ist nun die erzählerische Seite des Comics in den Blick gerückt. Lässt sich die Betrachtung seiner Ästhetik allerdings ablösen von den Ritualen einer »Schemaliteratur«, als die sich der Comic bis in die 1970er-Jahre nahezu ausschließlich zeigt, ist er als Erzählform vorbelastet. Er ist ein serielles Massenmedium, eine reine Jugendkultur und somit ein zweifelhaftes Vergnügen, Schmutz und Schund, bestenfalls belanglos, im Zweifel sogar jugendgefährdend. Asterix, Barbarella und Fritz the Cat gelten als »Ausnahmen«, und als die sich schließlich mehren, spricht man – was häufig auch mit einer gewissen Anrüchigkeit assoziiert wird – von »Comics für Erwachsene«, während für die Literatur oder das Kino das Kinderbuch und der Jugendfilm die Spezialitäten sind. Der Comic ist dabei, sich neu zu erfinden, und als Signal bedarf es eines neuen Terminus. In Deutschland nennt 1980 der Verlag Schreiber & Leser seine Ausgabe von Milo Manaras Das große Abenteuer einen »Comic-Roman«, jedoch setzt sich die Bezeichnung nicht durch; während die Franzosen heute vom »roman b.d.«[2] oder die Spanier von der »novela gráfica« sprechen, etabliert sich hier »graphic novel« als Übernahme aus dem Amerikanischen. Diese »grafischen Romane« scheinen nun, seriös und trendy, als die »besseren« Comics daherzukommen, mit einem Nimbus, der sie abhebt wie Bio-Eier von denen aus Legebatterien.

Bei den Zeichnern und Autoren stößt der Begriff aufgrund dieser Implikation zunehmend auf Widerspruch. Sie wehren sich gegen »high and low«-Schubladen und verstehen sich als Interpreten eines Bildmediums, das ebenso künstlerisch und literarisch zu sein vermag wie die Kunst profan oder Literatur banal. »›Graphic Novel‹ ist ein reiner Marketingbegriff«, sagt etwa Art Spiegelman. »Wenn es einen Grund für diesen Begriff gibt, dann allein den, dass sich die Leute schämen, Comics zu lesen. Sie schämen sich aber nicht, wenn sie eine Graphic Novel lesen, da sammelt man sogar Pluspunkte, weil das hip ist. Für mich sind Comics Comics, auch wenn das eine unglückliche Bezeichnung sein mag, und selbstverständlich bin ich Comic-Zeichner.«[3]

Auch in der Comic-Forschung ist der Terminus in die Diskussion geraten. Er sei heute »ein Nobilitationsbegriff, der den Comic von seiner eigentlichen peinlichen popkulturellen Vergangenheit auf die Ebene der Hochliteratur retten soll – nicht als Comic, sondern eben als Roman«, heißt es in dem unlängst erschienenen Bändchen Vom Sinn und Unsinn des Begriffs Graphic Novel. »Die Frage steht im Raum, wie man mit dem Begriff umgehen kann und ob man ihn akzeptieren muss. Es ist aber inzwischen nicht mehr zu leugnen, dass er sich etabliert hat.«[4] Missmut zudem bei den Aficionados: »Schlecht gezeichnete Biografien, überflüssige Literaturadaptionen und Bände über jede physische, psychische oder soziale Behinderung, die du dir vorstellen kannst (oder auch nicht)«, so Anfang 2017 der Leitartikel eines Szenemagazins – Untertitel: »Warum wir die Graphic Novel schleunigst vergessen sollten«.[5] Der anfängliche Hype scheint umzuschlagen in Skepsis und sogar Ablehnung. Dabei herrscht nicht einmal Konsens darüber, wovon überhaupt die Rede ist.

Gezeichnete Literatur

In den USA, zuvor ein reiner Heftmarkt, wird die Graphic Novel vor allem als »book-length comic« betrachtet, definiert sich somit allein über die Produktform und schließt auch Sammelbände mit Storys aus Mainstream-Heftserien ein. »Eine Graphic Novel ist im Wesentlichen ein dickes, umfangreiches comic book, das eine einzelne Geschichte oder eine Reihe zusammenhängender Storys erzählt«, heißt es 1995 in einer ersten Bestandsaufnahme von D. Aviva Rothschild.[6] Ebenso sieht es Stephen Weiner und betont in seinem Kanon für Büchereien, dass der »unscharfe Begriff« sich ebenso auf Genres wie Superhelden oder Fantasy beziehe, »wenn die Geschichten separat von den regulären Heftabenteuern gelesen werden können«.[7]

Will Eisner hingegen, der den Begriff vor vierzig Jahren prägte, hatte etwas anderes im Sinn. Zunächst sucht er für einen Comic, dessen erzählerischer Anspruch wie ästhetische Inszenierung zu jener Zeit ein Novum darstellen, einen Verlag. Als Vertriebsweg bietet sich allein der Buchhandel an, doch der führt mit Ausnahme von Peanuts-Taschenbüchern keine Comics; die sind verpönt und finden sich allein an den Zeitungsständen und in den Supermärkten. Ganz ähnlich verhält es sich mit den öffentlichen Bibliotheken.[8] Als A Contract with God im Oktober 1978 mit fünftausend Exemplaren bei einem kleinen belletristischen Verlag erscheint, prangt deshalb »A Graphic Novel« wie eine Gattungsbezeichnung unter dem Titel. Dennoch wäre es verfehlt, den Begriff auf einen »marketing term« zu reduzieren.

Auslöser für Ein Vertrag mit Gott ist ein Schicksalsschlag, der Tod von Eisners Tochter, die mit sechzehn Jahren an Leukämie stirbt. Schließlich reift die Idee, seine Ohnmacht in einer Comic-Erzählung zu verarbeiten – über einen gottesfürchtigen russisch-jüdischen Einwanderer, der nach dem tragischen Tod seiner Adoptivtochter sein Agreement mit dem Allmächtigen gebrochen sieht, für seine Demut gerecht entgolten zu werden. Ein Vertrag mit Gott ist die erste von vier Geschichten, die während der Depressionsjahre mit wechselndem Personal in der gleichen Mietskaserne in der fiktiven Dropsie Avenue in der New Yorker Bronx spielen[9] – eine Szenerie, in der Eisner aufgewachsen ist und erste Lebenserfahrungen sammelte.

Die Erzählung speist sich authentisch aus Eisners persönlichem Erleben und verhandelt eine existenzielle Krise des Autors. Und das ist gezeichnete Literatur, deren Bedingungen Eisner in seinem Vorwort klar umreißt: zum einen das »intimate theme« oder »relevant subject« sowie die Haltung des Autors und dessen Ernsthaftigkeit gegenüber seinem Gegenstand und seinen Charakteren. Und darüber hinaus eine neue, freiere Handhabung der gegenseitigen Umarmung von Wort und Bild, als es der Comic bisher praktiziert: »Jede der Geschichten wurde ohne Rücksicht darauf, wie viel Platz sie einnehmen würde, geschrieben, und jede konnte ihre Form aus sich selbst entwickeln, aus dem Ablauf der Erzählung. Die Einzelbilder sind im Gegensatz zur gewohnten Form der Comics nicht mehr aneinandergereiht und haben die gleiche Größe; sie nehmen sich die Formate, die sie brauchen, und oft füllt ein einzelnes Bild eine ganze Seite.«[10] Dabei verweist er auf die Bildromane von Lynd Ward und Milt Gross,[11] in deren Tradition er sich verortet, und nimmt Stilmittel auch des Bilderbuchs auf, dessen Verwandtschaft mit dem Comic sich schon in Heinrich Hoffmans Struwwelpeter (1844) angedeutet hatte.

Eisners Anliegen als Erzähler ist ein thematisches wie strukturelles. Die Unterscheidung vom Mainstream, in dem er selbst seine Wurzeln hat,[12] ist keinerlei Abgrenzung im Sinne von »Hoch-« und »Trivialliteratur«, im Gegenteil: Eisner will die Möglichkeiten demonstrieren, die dem Medium innewohnen, zeigen, wozu der Comic in der Lage ist. Am liebsten hätte er schlicht von einem »comic book« gesprochen, aber so firmieren in den USA schon die monatlichen Hefte (obwohl sie vielmehr »magazines« sind). So wird es also graphic novel. Der Begriff lässt sich bereits 1964 nachweisen, er kursiert unter Comic-Fans gelegentlich bezüglich herausragender Storys. Eisner hat ihn noch nie gehört: »Ich war der festen Überzeugung, ich hätte den Ausdruck erfunden […] aber er war zuvor anders intendiert, als ich es im Sinn hatte, als ich das Medium auf eine in meinen Augen literarische Weise nutzte«.[13]

Der Comic als eine »grafische Literatur« schwebt Eisner schon lange vor (was umso bemerkenswerter ist, als er etwa zur gleichen Zeit maßgeblich auch die Ästhetik der comic books definiert). Als der Philadelphia Record 1941 mit dem Abdruck seines Spirit-Werktagsstrips beginnt, erscheint dort ein ganzseitiger Artikel, in dem Eisner erstmals vom Comic als »illustrated novel« spricht und diese als »a new art form« sieht: »Sie steckt noch in den Anfängen, eröffnet jedoch ungeahnte Möglichkeiten. Und damit werden unweigerlich und zwangsläufig auch die besten Autoren und Zeichner den Comic als ein respektierliches Medium für sich entdecken.«[14]

Zwar hatte schon fast hundert Jahre zuvor Rodolphe Töpffer anlässlich seiner histoires en estampes vom »Roman in Bildern« gesprochen (von dem sich Goethe eine im Gegensatz zur polarisierenden Karikatur das Bürgertum einende Kunst erhoffte und den Genfer Zeichner zur Veröffentlichung ermutigte). Doch seit um 1900 in New York der Comic als moderne Variante der Bildergeschichte aufgekommen war und sich von dort aus verbreitet hatte, hat sich noch nicht einer seiner Interpreten als ein Autor verstanden oder einen literarischen Anspruch erhoben, obwohl sie Erzähler sind, Bilderzähler. Viele der Künstler sind berühmt, Top-Verdiener und hoch angesehen, vor allem aber als Witzzeichner. Eisner erzählt später von einer Versammlung der National Cartoonists Society, kurz nach Erscheinen des Artikels im Record, und wie er spürten konnte, von seinen Kollegen nun für »hochnäsig« und »elitär« gehalten zu werden. Schließlich nimmt ihn Rube Goldberg zur Seite, schon damals ein legendärer Cartoonist. »Wir sind Unterhaltungskünstler, Will«, sagt er. »Vergiss das nicht. Wir machen Scherze.«[15]

Eisners Vision findet nirgendwo ein Echo, ganz im Gegenteil.[16] Als nach dem Weltkrieg erste Comic-Hefte auch für ein älteres Publikum aufkommen, sind lautstarke Proteste von Pädagogen, Kirchen und Elternverbänden sowie öffentliche Verbrennungen des »Schunds« die Folge. Die Kommunistenjagd der McCarthy-Ära im Kampf gegen die äußere Bedrohung durch Stalins »Reich des Bösen« entwickelt ihr Pendant in einem hysterischen Kreuzzug gegen die comic books als Gefahr von innen. Am 2. März 1948 strahlt ABC landesweit die Sendung What’s Wrong with the Comics? aus, der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende sechs Jahre später eine »freiwillige Selbstkontrolle« im Sinne des Jugendschutzes stehen wird und dem Comic jede Perspektive raubt, nicht kindgemäße Themen und Konflikte zu verhandeln und somit Leser jenseits der Pubertät anzusprechen. Eisner zieht sich 1952 zurück und wird erst zwanzig Jahre später durch die Underground-Comics zu einem Comeback motiviert.[17]

»Als Ganzes eine Art Roman …«

Zu den Schwierigkeiten, die Graphic Novel zu fassen, hat nicht zuletzt Will Eisner selbst beigetragen, indem er mit Ein Vertrag mit Gott statt eines »Romans« eine Sammlung von allein durch Ort und Zeit verbundenen Novellen vorgelegt hat: Fast scheint das wie ein augenzwinkernder Wink, den Terminus selbst nicht zu dogmatisch zu sehen, ihn vielmehr als Option zu begreifen. Es geht Eisner darum, dem Comic Terrain zu erschließen, das ihm aufgrund seiner Aura des »Blasenfutters für Analphabeten« bisher versperrt war, er will ihn als Erzählform neu interpretieren. Und er hätte kaum etwas dagegen gehabt, dass nun auch Comic-Biografien, Literaturadaptionen und »Sach-Comics« wie Logicomix (»Eine epische Suche nach der Wahrheit«) oder Scheitern als Erfolg (»Kung-Fu für Unternehmer«) als Graphic Novels gelten – obgleich das eigene Interesse ursprünglich ganz anders motiviert ist.[18] Seine Definition ist die einer grafischen Literatur, die, im Gegensatz zum Epos, in dem der Held auszieht, um sich in der Welt zu behaupten, von der »Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst« erzählt.[19]

Das große Interesse, das Graphic Novels ab Mitte der 1980er-Jahre in den USA beim Publikum wie in den Medien finden, fällt zusammen mit dem Kriseln der traditionellen Comic-Märkte, die von neuen Unterhaltungsangeboten für Jugendliche bedrängt werden. Für die Verlage kommt der Hype somit zur rechten Zeit, und bald schon verwischt der Begriff durch seine inflationäre Verwendung. Längst wirken grafische Romane in Eisners Sinne innerhalb des Angebots in den Regalen wie ein Subgenre neben anderen. Die Graphic Novel lässt sich heute deshalb am besten weiter gefasst als ein Comic-Genre verstehen, das sich emanzipiert hat vom Dasein der reinen Jugendunterhaltung zumeist in Heften und Magazinen – letztlich als »Comic für Erwachsene«.[20] Der britische Zeichner Eddie Campbell sieht sie eher als eine »Entwicklung« (movement)[21] denn als spezifische Form – und vielleicht ist das der eleganteste Weg, ein Phänomen zu beschreiben, bei dem es vor allem um das Anliegen des Erzählers und seine innere Haltung geht. Und um die Kunstfertigkeit der grafischen Ausführung, die der Befreiung von den branchenüblichen Formaten bedarf.

Seit seiner Geburt ist der Comic eingezwängt in Produktformate; anfangs müssen seine Gags und Storys auf eine Zeitungsseite passen, dann in Strips, in Hefte und Alben, und regelmäßig heißt es im letzten Bild »Ende« oder »Fortsetzung folgt« – nicht, weil etwas erzählt, sondern weil der zugeteilte Platz verbraucht ist. Die Graphic Novel eröffnet dem Comic den epischen Raum, der Fantasiefiguren (Bone), vermenschlichten Tieren (Maus), Privatschnüfflern in Trenchcoats (Sin City) oder Superhelden in Ganzkörperkondomen (Watchmen) ebenso zur Verfügung steht wie literarischen Figuren. Und sie unterwirft ihn gleichzeitig den Mechanismen des Literaturbetriebs. Das Werk steht nun für sich und muss aus eigener Kraft überzeugen, anstatt die Leser mit bekannten Figuren in verlässlich gleicher Garderobe und der Fortsetzung des Vertrauten abzuholen; es gibt Bestseller ebenso wie Titel, die allein bei der Kritik zünden, Überflüssiges, heiße Luft und Nieten. Nicht jeder Comic ist, auf eine schlichte Formel gebracht, eine Graphic Novel, doch eine Graphic Novel nichts anderes als ein Comic.[22] Und in beiden Fällen liegen Spreu und Weizen dicht beisammen; oft lohnt die Lektüre eines Gaston-Albums weit mehr.

Es wäre ein fragliches Unterfangen, sich einem grafischen Erzählen mit Kriterien allein (wie sie auch gefasst sein mögen) nähern zu wollen, die für Prosaliteratur gelten. Was maßgeblich ist für beide Gattungen, hat Will Eisner bereits prägnant umrissen und dabei betont, dass komplexere Themen auch einer nuancierteren Grafik bedürfen. Als Hybridmedium erzählt der Comic, sich gegenseitig bedingend, verbal und visuell zugleich und entwickelt in dieser Synechie eine ganz eigene Sprache, deren Duktus und Fluss aus der sequenziellen Anordnung der Einzelbilder entsteht, dem (im Gegensatz zum Kino) stets gleichzeitig präsenten »vorher« und »nachher« einer Szene: Erst durch die »Sprünge« von Bild zu Bild, die Auslassungen zumeist in Form weißer Stege zwischen den Panels, die der Leser intuitiv ergänzt, wird das gefrorene Geschehen lebendig.[23]

Über seine Stilistik, seine persönliche »Handschrift«, vermag der Zeichner einen intimen Pakt mit dem Leser zu schließen; seine Zeichnungen können Innenwelten kommunizieren oder eine Atmosphäre, die »in der Realität« vielleicht zu spüren, nie aber sichtbar wäre, und ihn so zum Eingeweihten machen. Arbeitet der Zeichner mit einem Autor zusammen, ist er kein »Illustrator«, sondern wird durch die ästhetische Inszenierung vielmehr zu einem Co-Autor, zum Bilderzähler. Eine Betrachtung muss somit kunstkritische Aspekte ebenso einschließen – nicht allein bezüglich grafischer Könnerschaft, sondern mit der Frage, wie kunstfertig Bilder eine Erzählung transportieren oder Seitenarchitekturen den Blick führen. Hilfreich ist dabei auch die Filmwissenschaft, deren Begrifflichkeiten wie »Schnitt«, »Perspektive« oder »Einstellung« sich anbieten.

Das macht den Comic nicht etwa zum »missing link« zwischen Literatur und Film, er ist vielmehr eine Wissenschaft für sich. Seine gewachsene Wahrnehmung in den letzten Jahren im akademischen Bereich ist gleichfalls ein Resultat des Graphic-Novel-Booms. Wurden Comics zuvor zumeist als massenmediale Popkultur betrachtet, werden nun individuelle Techniken zum Gegenstand, das Gemachte.[24] Und damit zudem ihre Entwicklungsgeschichte: Noch nie zuvor ist eine derart große Zahl von Reprints erschienen, sogar der entlegenste Klassiker wird derzeit als bibliophile und historisch kommentierte Gesamtausgabe neu aufgelegt (womit so manche vergessene Perle wieder ans Licht gerät). 2009 nimmt Kindlers Literatur Lexikon den Comic in seine dritte Auflage auf, 2017 zeigt die Bundeskunsthalle die Schau Comics! Mangas! Graphic Novels!

Die Wirrsal, die den Begriff »Graphic Novel« nach wie vor begleitet, lässt unweigerlich an die Verwunderung denken, die einst Rodolphe Töpffer empfand, als er in seinen histoires en estampes Texte und Zeichnungen in ein neues Verhältnis rückte und ihm mit der »filmischen« Abfolge seiner Bilder etwas gänzlich Neues gelang: »Beides zusammen bildet als Ganzes eine Art Roman, der umso origineller ist, da er sowohl einem Roman als auch etwas anderem ähnelt.«[25]

Komische Streifen

Der Dreiklang im Titel der Bonner Ausstellung illustriert den Zwist, in dem sich der Comic schon lange mit seiner Gattungsbezeichnung befindet, die er seinen Ursprüngen als Witzseite in den farbigen Sonntagsbeilagen verdankt – als sein Urknall gilt der 25. Oktober 1896: Im American Humorist, der Wochenendbeilage von Joseph Pulitzers New York Journal, ließ an diesem Sonntag Richard F. Outcault seinen Yellow Kid, der wegen des gelben Nachthemdes als Markenzeichen bereits weite Popularität genoss, in einem Gag auftreten, den er als Abfolge von fünf Bildern gestaltet hat, auf denen das Kid und ein Papagei mittels Sprechblasen kommunizieren; zuvor war das, was es zu sagen hatte, von seinem Nachtkleid abzulesen gewesen. Sowohl die sequenzielle Bilderzählung wie auch Sprechblasen waren in der Alten Welt bereits verbreitet, verschmelzen allerdings erst in den USA zum Prinzip des modernen Comics. Andere Zeichner übernehmen Outcaults Technik und beginnen eigene Serien; zunächst spricht man vom new humor oder den funnies, später, als ab 1907 auch schwarz-weiße Werktagsstrips aufkommen, setzt sich comic strip durch – komische Streifen. Deren chaplineske, jede Woche und dann an jedem Tag mit einem neuen Lacher aufwartende Figuren geben den Zeitungen über das tagesaktuelle Geschehen hinaus ein Gesicht und lassen die Auflagen in die Höhe schießen.[26]

Im ethnischen Gemisch New Yorks, wo um die Jahrhundertwende siebzig Sprachen geläufig sind, werden die Comics von jedermann verstanden und schaffen ein Gefühl gemeinsamer Identität: Iren, Deutsche und Italiener können nun über die gleichen Gags lachen. Schnell verbreiten sich die funnies in den USA,[27] gelesen werden sie von der ganzen Familie; Sinclair Lewis und John Dos Passos, haben beschrieben wie der Vater, dem als Käufer der Zeitung (mit seinen favorisierten Figuren) das Privileg des Erstlesers zusteht, am Sonntag die bunte Humorbeilage in der Hierarche der Familie weiterreicht, während die Kinder schon ungeduldig warten. Der Witz der Comics ist rüde und derb, sie sind eine urbane Alltagskunst, die frech gegen Autoritäten und bürgerliche Moral aufbegehrt, gewürzt mit subversiver Doppelbödigkeit und proletarischem Slang. Ein beliebtes Leitmotiv ist die Schadenfreude nach Manier Wilhelm Buschs.[28]

Beim Bürgertum löst das neue Bildmedium (der Film ist noch ein reines Jahrmarkt-Vergnügen) Empörung aus und gilt als »vulgär«. Öffentliche Bibliotheken weigern sich zeitweise, Zeitungen mit dem »Bilderschund« auszulegen, die New York Times verzichtet konsequent sogar das gesamte Jahrhundert hindurch auf Comics.[29] Der Popularität des Mediums tut das keinen Abbruch, somit gibt es kaum Versuche, sich zu unterscheiden vom handfesten Klamauk. Die Chicago Tribune verpflichtet 1906 eine Reihe bei der überwiegend deutschstämmigen Bevölkerung bekannter Zeichner wie Lyonel Feininger oder Lothar Meggendorfer und verkündet am 29. April: »Jetzt werden diejenigen, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, die Humor-Beilagen zu verdammen, eine Ausnahme machen und zugeben müssen, dass eine Comic-Beilage humorvoll sein kann, ohne anstößig zu sein, satirisch, ohne vulgär, gemein, grausam oder herzlos zu sein.« Nach nur wenigen Monaten wird das Unternehmen abgebrochen.[30]

Mehr Erfolg ist Winsor McCay vergönnt, der in diversen Serien bereits – kurz zuvor ist Freuds Traumdeutung erschienen – die Albträume seiner Protagonisten vorgeführt hatte, als er 1905 Little Nemo in Slumberland beginnt und in der fein-eleganten Lineatur des Jugendstils sowie schier atemberaubenden Seitenarchitekturen gestaltet (zunächst bis 1911): Immer, wenn der kleine Nemo am Samstagabend zu Bett geht, begibt er sich in seinen Träumen auf die Suche nach der Prinzessin von Schlummerland, die sich nach einem Spielgefährten sehnt. Am Ende einer jeden Folge schreckt er abrupt aus dem Schlaf – Fortsetzung nächste Woche! McCays Wechsel vom Witz zur Erzählung findet allerdings keine Resonanz, seine Kollegen setzen weiterhin auf Slapstick und deftige Pointen, »story lines« dienen ihnen allenfalls als roter Faden für Running Gags.

Noch 1959 trägt eine der ersten Monografien, in der Stephen Becker den Comic neben political cartoons, magazine humor oder sporting cartoons einordnet, den Titel Comic Art in America, Komische Kunst in Amerika. Allerdings hat sich das Medium zu diesem Zeitpunkt bereits stark gewandelt und von seinen Wurzeln weit entfernt. In Strips wie The Bungle Family, The Gumps oder Little Orphan Annie entwickeln sich in den 1920er-Jahren aus familiären Intrigen und Komplotten zunehmend handfeste Dramen und bald, bei Wahrung aller Komik, regelrechter Nervenkitzel in ausgedehnten Fortsetzungen. Die Erzählung überlagert den Witz, Anspannung tritt an die Stelle des befreienden Lachers.

Als die »roaring twenties« 1929 schlagartig mit dem Börsencrash enden, kommen reine Abenteuerserien auf und finden während der Depression rasch ein Publikum, dem das Lachen vergangen ist. Die beiden ersten, Tarzan of the Apes und Buck Rogers in the 25th Century A.D., sind – beinahe so, als wolle dem Comic selbst nichts einfallen – Adaptionen von Action-Storys aus den Pulps, populären Groschenheften. Neben deren Genrestoffen übernimmt der Comic auch die düster-reißerische Ästhetik der Illustrationen. Als dramatische Erzählform ist er ohne Vorbild, und die Zeichner verfolgen unterschiedliche Ansätze – teilweise ohne Sprechblasen und mit Erzähltexten stattdessen, fast, als traue man dem Medium sein neues Abenteuer nicht zu –, deren Ästhetik different motiviert ist. Bringt etwa Chester Gould seinen Detektivstrip Dick Tracy (ab 1931) trotz manchem Kugelhagel im ironisierenden »Comic-Stil« zu Papier, beeindrucken Künstler wie Alex Raymond (Flash Gordon, 1934), Burne Hogarth (Tarzan, 1937) oder Hal Foster (Prinz Eisenherz, 1937) mit heroischen Posen nach dem Ideal der schönen Künste. In den 1930er-Jahren ist der Comic vor allem eine Bildsensation, häufig sind die Storys kaum mehr als ein Vorwand für rasante Aktion.

Auch Milton Caniff verliert den Faden, nachdem er 1934 seinen neuen Strip Terry and the Pirates hatte damit beginnen lassen, dass in einem namenlosen Hafen Chinas der halbwüchsige Terry und sein älterer Begleiter Pat Ryan an Land gehen, um eine verschollene Mine zu suchen. Doch die ist bald vergessen, stattdessen entwickelt sich ein mit expressionistischem Strich dicht in Szene gesetztes Abenteuer vor dem Hintergrund des Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges und entlang der aktuellen Ereignisse, das seine Dramatik nicht allein aus dem äußeren Geschehen bezieht, sondern wesentlich aus den emotionalen Verstrickungen von Charakteren, wie sie der Comic differenzierter und glaubhafter noch nicht vorgeführt hatte. Caniff versteht sich dabei nicht zuerst als Zeichner, sondern vor allem als Erzähler: »Wir sind Troubadoure. Wir tun das gleiche wie die Sänger mit ihren Banjos, die den Wagentrecks nach Westen folgten und nachts am Lagerfeuer ihre Geschichten sangen, die nie zu Ende gingen, weil sie auch am nächsten Tag wieder essen wollten.«[31]

Trotz Caniffs »Realismus« und temporeicher Rasanz steht die Zeit jedoch auch gleichsam still; die meisten Helden scheinen mit ewiger Frische gesegnet und altern nicht. Eine der wenigen Figuren, die im Laufe der Jahre reift und neue Lebensabschnitte betritt, ist Prinz Eisenherz (dessen Sohn später die Handlung zunehmend übernimmt und das inzwischen über viertausend Seiten zählende Epos, das bis heute auf Sprechblasen verzichtet, fortschreibt). Der Comic hat sich abgewandt vom Komischen, hin zu naturalistischer Darstellung, Drama und handfestem Abenteuer, doch eine andere Bezeichnung für diese neue Ausformung ergibt sich nicht, es bleibt bei »Comic«.

Dramatische Bilder

Aus der Perspektive einer Zeit multimedialer Wertschöpfung wirkt es erstaunlich, dass der Comic in den USA nahezu vierzig Jahre lang so gut wie ausschließlich ein Metier der Zeitungen geblieben ist; erst ab 1934 kommen comic books auf.[32] Die Zehn-Cent-Hefte enthalten zunächst Nachdrucke der Zeitungsserien und heißen Famous Funnies oder New Fun. Doch bald schon folgen auch Abenteuerhefte, und in einem davon, der ersten Ausgabe von Action Comics, debütiert 1938 Superman und lässt das Zeitalter der kostümierten Superhelden anbrechen, bis heute das populärste Comic-Genre in Amerika. Comic books werden zur ersten medialen Jugendkultur lange vor Bill Haley, 1940 finden zweihundert Millionen Hefte Absatz. Die Zeichner übernehmen zunächst Struktur und Optik der Zeitungs-Comics, schließlich entwickelt sich eine eigene Ästhetik, die vor allem Jack Kirby und Will Eisner prägen. Während Kirby explosive Szenen zu ganzseitigen Bildspektakeln aufbläst und Panelrahmen bersten lässt, verdichtet Eisner das Geschehen durch schmale, sich überlappende oder keilförmige Panels sowie raffinierte Schnitte vor allem im Sinne der Narration.

Bei Kriegsende sind die Leser, die mit den ersten Heften aufgewachsen sind, zehn Jahre älter, und bald erscheinen comic books auch für junge Erwachsene. Den Anfang machen ab 1947 »romance comics«, in denen es nicht allein um romantische Gefühle geht, sondern auch um Eifersucht, Hass, Betrug, Scheidung, zwischenmenschliche Konflikte somit, die nicht zwangsläufig in ein Happy End münden. Es folgen Crime-, Horror-, Kriegs-, und Science-Fiction-Hefte, deren Subtext häufig die Paranoia des Kalten Krieges reflektiert.[33] Äußerst ambitioniert zeigen sich dabei die Titel des Verlags EC (Entertaining Comics), der mit Künstlern wie Harvey Kurtzman, Wallace Wood oder Jack Davis einige der besten Zeichner ihrer Zeit versammelt und eine ganz neue Ästhetik entwickelt, bei der ausladende (oft brillant formulierte) Textboxen und ellenlange Sprechblasen das Bild zurückdrängen: Diese Hefte wollen kein Spektakel sein, sondern gelesen werden – nichts für Kids.

Die EC-Storys umfassen jeweils sieben oder acht Seiten, ihre Protagonisten sind »normale Menschen«, wiederkehrende Helden gibt es nicht. Bezüglich ihrer Themen zucken sie weder davor zurück, von schonungslosem Kriegsgräuel zu erzählen – in Corpse on the Imjin! (1952) führt Harvey Kurtzman auf, wie ein GI seinen Gegner im koreanischen Dschungel nach seitenlangem Ringen, begleitet von inneren Monologen am Rande des Wahnsinns, schlussendlich im Schlamm ertränkt –, noch vor Rassismus (The Guilty, Bill Gaines/Al Feldstein, 1952) oder dem Holocaust: In Master Race (1955) lässt Bernard Krigstein einen ehemaligen KZ-Häftling in der New Yorker U-Bahn seinem einstigen Lagerkommandanten und Peiniger begegnen. Bereits an dieser Stelle ist der Comic auf dem besten Weg zur »Graphic Novel«. Die EC-Kurzgeschichten sind heute Klassiker des Genres und wurden mehrfach neu aufgelegt.

Doch es sind eben comic books, weder »komisch« noch geeignet für Pubertierende, schnell steht EC im Zentrum der öffentlichen Aufregung. Als es im April 1954 im Senat zu den landesweit im Fernsehen übertragenen Kefauver Hearings über die Ursachen der steigenden Jugendkriminalität kommt und ein Einschreiten des Gesetzgebers droht, beschließen die Verlage noch im gleichen Jahr einen Comics Code als »freiwillige Selbstkontrolle«.[34] Jedes Heft muss künftig vor Veröffentlichung vorgelegt werden und, bleibt es unbeanstandet, ein Kennzeichen tragen. Hefte ohne dieses Reinheitssiegel werden vom Handel nicht ausgelegt, in einigen Bundesstaaten steht ihr Verkauf unter Strafe. Die Folgen sind dramatisch, 1954 erscheinen weit über sechshundert Heftserien, im Jahr darauf ist es kaum noch die Hälfte; viele Verlage geben auf, auch EC: 1955 folgen noch einige Titel, jetzt mit dem großflächigen Aufdruck »Introducing a new form of adult entertainment: PICTO-FICTION«,[35] doch für einen Namenswechsel ist es längst zu spät.[36]

Anders in Japan, wo der Comic nach dem Zweiten Weltkrieg mit Magazinen für Jungen (shōnen manga) wie Mädchen (shōjo manga) zum jugendkulturellen Phänomen wird und sich ab Mitte der 1950er-Jahre mit Sex und Crime gleichfalls auch an ältere Leser wendet, in erster Linie junge Männer. In Abgrenzung zu den Mangas (man = lebendig; ga = Bild)[37] für Kinder setzt sich ab 1957 für die neue Form der Begriff gekiga durch, »dramatische Bilder«, und erspart dem Genre ein ähnliches Schicksal wie in den USA. Der naturalistisch gezeichnete gekiga ist eine Subkultur der Leihbüchereien (kashihonya), schon bald aber färben seine Themen und Ikonografie auf den Mainstream ab, und um 1970 löst er sich in Genres wie dem seinen manga auf.[38] Im Zusammenhang mit der Graphic Novel werden derzeit Künstler wie Yoshihiro Tatsumi oder Sanpei Shirato, die später in ihren Short Storys von menschlichen Abgründen und einem trost- und hoffnungslosen Nachkriegsjapan erzählen oder aktuelle Konflikte wie den Sicherheitsvertrag mit den USA in Samurai- und Ninja-Epen spiegeln, auch hier wieder- bzw. überhaupt erst entdeckt.[39]

Gelesen werden Comics nahezu überall, ihre Produktion allerdings konzentriert sich wesentlich auf die USA, Japan als heute größtem Comic-Markt und Europa, dort vor allem auf den französischsprachigen Raum. In der Alten Welt besteht nach 1900 lange die Form der Bildergeschichte mit Prosa unter den Zeichnungen fort, erst als in den 1920er-Jahren erste comic strips in Zeitungen abgedruckt werden, übernehmen in Frankreich 1925 Alain Saint-Ogan mit Zig et Puce um zwei junge Weltreisende und Hergé (Georges Remi) mit Tintin (Tim und Struppi) 1929 in Belgien als die ersten Zeichner Sprechblasen in ihre Geschichten. Beide Serien erscheinen wöchentlich in den Jugendbeilagen konservativ-katholischer Tageszeitungen und finden das Wohlgefallen der Kirche, die in den »bandes dessinées« ein Medium sieht, die Jugend zu erreichen: Die Comics sollen nicht allein unterhalten, sondern vor allem auch belehren, und sei es nur, dass am Ende doch das Gute lohnt.[40]

Mit seiner Ästhetik der »klaren Linie«, die den Comic in ganz Westeuropa prägen wird, setzt Hergé diese Intention adäquat um: Speedlines nimmt er ihre ungezügelte Rasanz, indem er sie zu putzigen Kringeln formt, und nicht einmal Schatten finden sich auf seinen Bildern, Zwiespalt und Zweifel sind nicht erwünscht. Werden die ungehobelten Zeitungsstrips in Amerika von der ganzen Familie gelesen, entwickelt sich der Comic in Europa als eine reine Jugendkultur, im Wesen brav und gut. In Form von Alben mit dem Nachdruck der jeweils vollständigen Abenteuer findet er bereits schon früh Eingang auch in den Buchhandel.[41]

Zunächst bleiben die Comics vor allem Bestandteil klerikaler Zeitschriften und Zeitungsbeilagen für Kinder, später kommen wöchentliche Magazine hinzu (1938/1944 Spirou, 1945 Vaillant, 1946 Tintin, 1959 Pilote), deren Fortsetzungsabenteuer nach ihrem Abschluss als Album erscheinen. Bis zu den kulturellen Umwälzungen durch die Studentenbewegung in den 1960er-Jahren gilt das Medium in Europa als strikte »pour la jeunesse«. 1964 dann erscheint bei dem avantgardistischen Verlag Le Terrain Vague der erotische Band Barbarella von Jean-Claude Forest und ruft die Zensur auf den Plan. Die juristische Klärung ergibt, dass Comics nicht per se eine Literatur für Kinder und Jugendliche seien, sondern sich ebenso an Erwachsene richten können – damit ist der Weg frei für die »b.d. pour adultes«, die sich in Zeitschriften wie Jean-Marc Reisers Hara-Kiri oder Pilote mit dem Chefredakteur René Goscinny zu entwickeln beginnen. Die Experimentierlust einer jungen Generation von Zeichnern wie Philippe Druillet oder Mœbius und ihr Bruch mit allen Traditionen findet im Klima der Nouvelle Vague und der Pop-Art sowie des Pariser Mai schnell auch intellektuelle Resonanz. Wie schon der Filmregisseur wird nun auch der Zeichner zum »auteur«.

In der kalifornischen Bay Area läutet 1968 im Nachklang des Summer of Love Robert Crumbs ZAP Comix die Ära der Underground-Comics ein, die sich als Alternativkultur schlagartig verbreiten.[42] Das »x« steht für »x-rated«, nur für Erwachsene, und trennt Comix von Comics.[43] Erstmals entstehen hier Storys völlig unabhängig und frei, ohne Verlagsauftrag oder den Blick auf vermeintliche Publikumserwartungen, die Autoren zeichnen ihre eigenen Geschichten nach ihren Vorstellungen, leben unzensiert ihre (oft sexistischen) Fantasien aus, äußern Anliegen (Trina Robbins mit dem Heft Wimmen’s Comix von Frauen für Frauen) oder werden – die vielleicht erstaunlichste Revolution – persönlich, wie es Robert Crumb in seinen autobiografisch geprägten Storys tut.[44] Darauf wird auch Will Eisner aufmerksam, dem die Freiheiten imponieren, die sich die jungen Zeichner nehmen und erschließen, und für den die Comix der Anstoß sind, sich erneut dem Comic zuzuwenden.

In Kapiteln

In den USA vollzieht sich der Wandel als Phänomen einer Gegenkultur mit eigener alternativer Infrastruktur, in Europa bleiben Zeitschriften, Zeitungskioske und der Verlagsbuchhandel das Vehikel. Im Februar 1978, wenige Monate nur, bevor in den USA Will Eisners Ein Vertrag mit Gott erscheint, debütiert in Frankreich das Monatsmagazin (À Suivre) (Fortsetzung folgt) und präsentiert sich im Gegensatz zu anderen Comic-Zeitschriften wie dem punkigen Métal Hurlant (Schwermetall) selbstbewusst in »seriösem« Schwarz-Weiß: Hier soll es nicht um grelle oder psychedelisch bunte Oberflächen gehen, im Vordergrund stehen vielmehr die Erzählungen, die die Bilder transportieren. Gebrochen wird zudem mit den klassischen Albumumfängen: »Wir wollen eine andere Form von Comics bieten, wirkliche Comic-Romane, die in Kapiteln erzählt sind«, proklamiert Chefredakteur Jean-Paul Mougin in der ersten Ausgabe. »Und ich bestehe auf dem Wort ›Kapitel‹, weil wir uns abgrenzen wollen von der alten Fortsetzungsstruktur. Wo ist die Freiheit des Künstlers, wenn er nach vierundvierzig oder zweiundsechzig Seiten das Wort ›Ende‹ setzen muss, nur damit der Verlag aus seiner ›Geschichte‹ später ein Album machen kann?« Und dann setzt er hinzu: »(À Suivre) ist kein weiteres ›Comic-Magazin für Erwachsene‹. (À Suivre) ist ganz einfach ein erwachsenes Comic-Magazin.«

Mougins Worte lassen sich geradezu als Manifest betrachten, als Startschuss für den Comic-Roman in Europa. Wurde das Medium zuvor vor allem als »neunte Kunst« goutiert, entpuppt es sich nun als eine Literatur mit ganz unerwarteten Optionen. Die Geschichten in (À Suivre) enden nach beliebig vielen »Kapiteln« von bis zu zwanzig Seiten dann, wenn sie erzählt sind. Später erscheinen Buchausgaben (oder »Alben«) mit unterschiedlichen Umfängen von bis zu zweihundert Seiten als »roman (À Suivre)« und finden großes Echo beim Publikum wie bei der Kritik. So entstehen heutige Klassiker einer gänzlich neuen Erzählweise wie Hier-Selbst (Jean-Claude Forest/Jacques Tardi, 1979), Silence der Stumme (Didier Comès, 1980), Schneekreuzer (Jacques Lob/Jean-Marc Rochette, 1984), Die große Macht des kleinen Schninkel (Jean van Hamme/Grzegorz Rosinski, 1988) oder Tardis Die Brücke im Nebel (1982, nach Léo Malet). Zu den Pionieren dieser »Comic-Romane« – »graphic novel« hat sich auch in den USA noch nicht durchgesetzt – zählen zudem Hugo Pratt und seine ab 1967 in Italien entstandene Südseeballade[45] sowie Pierre Christin mit seinen Szenarios für Enki Bilal und Annie Goetzinger.[46]

Insgesamt ist, wie schon bei den klassischen bandes dessinées, in Frankreich eine Zusammenarbeit zwischen Autor und Zeichner häufiger als in den USA, wo die alleinige Autorenschaft nach Art der Zeitungsstrips überwiegt. Mit den neuen Themen verfeinert sich auch die Bildsprache, und neue Erzählformate werden erprobt. Benoît Peeters und François Schuiten eröffnen 1982 ihren inzwischen weit gespannten Zyklus Die geheimnisvollen Städte: Jede ihrer subtil filigran gestalteten Geschichten trägt sich, auf einem fernen Fantasieplaneten, in einer anderen Stadt zu, deren Verhältnisse bedingt sind durch ihre jeweils eigene Architektur, und die Alben sind nur gelegentlich in losen Bezügen verbunden. François Bourgeon konzipiert 1979 Reisende im Wind, die Odyssee einer jungen Frau, die Ende des 18. Jahrhunderts an Bord eines Sklavenschiffes nach Westafrika gerät, von vornherein als geschlossene Erzählung in vier Alben.[47] Coseys (Bernard Cosendai) Auf der Suche nach Peter Pan, die poetische Sinnsuche eines Schriftstellers Ende der 1920er-Jahre in den Walliser Alpen, erscheint 1984/85 in zwei Bänden. Doch es bleibt, wegen der episodenweisen Vorveröffentlichung in den Magazinen, beim klassischen Albumformat. Neue Formate etablieren sich, beflügelt durch den Graphic-Novel-Boom in den USA, erst um 1990 und vor allem durch die Gründung des Autorenverlags L’Association in Paris.[48]

Als die »b.d. pour adultes« ab Mitte der 1970er-Jahre in Frankreich florieren, ist die Zeit der Comix in den USA bereits schon wieder vorbei. Hefte wie The Fabulous Furry Freak Brothers oder Wimmen’s Comix erscheinen zwar noch bis in die 1990er-Jahre hinein, doch ihr gegenkultureller Nährboden ist mit dem Rückzug ins Private weitgehend perdu. Die Entdeckung allerdings, die eigenen Comics selbst verlegen (und über die gleichzeitig überall im Land entstehenden »comic book stores« an den Leser und die Leserin bringen) zu können, setzt sich zunächst im Bereich der Genre-Comics mit schwarz-weißen Heften wie Star*Reach (1974), The First Kingdom (1974), Cerebus the Aardvark (1977) oder ElfQuest (1978) fort. Zudem erscheinen einzelne »Comic-Bücher« wie Tarzan of the Apes (1972) und Jungle Tales of Tarzan (1976) von Burne Hogarth, Chandler (Jim Steranko, 1976) oder Bloodstar (Richard Corben, 1976), die zuweilen bereits schon »graphic novels« genannt werden, bevor Will Eisner den Begriff zum Terminus macht und definiert.[49] Zunehmend verbreitet sich das Gefühl, dass »Comic« angesichts der neuen Ideen, die sich nun ihre Wege bahnen, nicht mehr greift. Art Spiegelman nennt sein avantgardistisches RAW, das er von 1980 bis 1991 mit seiner Frau Françoise Mouly herausgibt und in dem kapitelweise auch Maus erscheint, »the graphix magazine« (auf der ersten Ausgabe mit dem Zusatz »of postponed suicides«).

Die amerikanische Comic-Welt, dominiert von den Superhelden der Verlagsriesen Marvel und DC, gerät von verschiedenen Seiten in Bewegung. So entstehen spezialisierte Verlage wie Fantagraphics, die Heftserien wie Love and Rockets oder Neat Stuff veröffentlichen, die schlicht vom manchmal ganz banalen Leben in gesellschaftlichen Nischen handeln. In Love and Rockets (ab 1982)[50] schildert Gilbert Hernandez den Alltag (mit all seinen Überraschungen und Verwicklungen) im fiktiven mexikanischen Palomar als Mix aus magischem Realismus und Telenovela, während sein Bruder Jaime, gänzlich unabhängig davon in eigenen Geschichten, von einer Clique junger Chicanos in einem ebenfalls fiktiven Vorort von (vermutlich) L.A. erzählt und mit deren Verirrungen und Verstrickungen eine turbulente Soziografie der 1980er liefert. Peter Bagges Neat Stuff (1985) kreist um eine überdreht neurotische Vorstadtfamilie am Rande New Yorks. Damit entwickelt sich eine ganz neue Kultur von Heften, die Zeichner wie Chester Brown (Yummy Fur, 1983), Joe Sacco (Yahoo, 1988), Dan Clowes (Eightball, 1989), Seth (Gregory Gallant, Palookaville, 1991) oder Chris Ware (Acme Novelty Library, 1993) in eigener Regie herausgeben und ganz individuell gestalten, und in denen sukzessive ihre späteren Bücher entstehen.

Wie will man diese Comics nennen, die so ganz in der Tradition des »underground« stehen und doch keine Comix sind, sondern vielmehr eine ganz neue Generation von Comics, die von den Innenleben ihrer Charaktere erzählen und deren sozialem Mikrokosmos? »New comics« ist im Gespräch und »alternative comics«, auch »small press« oder »post-underground comics«. Da kommt »graphic novel« schließlich gerade recht, selbst wenn speziell die Zeichner der Independent-Szene den Begriff heute anfechten und lieber schlicht von Comics sprechen (oder aber auch, wie Seth 1996 bei Eigentlich ist das Leben schön, von einer »picture novella«).

In den meisten Heften sind die Autoren selbst präsent durch die Thematisierung – im pedantischen wie im weitesten (und manchmal sogar fiktionalen) Sinne – autobiografischer Lebensepisoden, Konflikte oder Vorlieben, zu Papier gebracht in ihrem individuellen Stil und persönlichem Strich. Das Ich wird Gegenstand des Erzählten, das Leben zum Rohstoff, und der Zugang erfolgt schon bei den Pionieren des Genres auf jeweils eigene Weise. Wo sich Crumb geradezu schonungslos »entblößt«,[51] schwingt das Eigene bei Eisner zunächst im Hintergrund; erst 1985 erzählt er in Der Träumer auch von seinen Anfängen als Comic-Zeichner und 1991 in Zum Herzen des Sturms von seiner Kindheit und Jugend in New York bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Harvey Pekar, selbst kein Zeichner, arbeitet bei seinen grantigen Comics über die Tristesse seines Alltags und das Fremdeln mit der Zeit, die er ab 1976 in American Splendor veröffentlicht, mit verschiedenen Künstlern zusammen (darunter auch Crumb); Our Cancer Year, die Geschichte seiner Krebserkrankung, an der er 2010 stirbt, zeichnet seine Frau Joyce Brabner.

Art Spiegelman berichtet in Maus parallel zu der Geschichte seines Vaters auch von der Entstehung seines Buches, von den Selbstzweifeln bezüglich seines Vorhabens und dem Zweifel des alten Wladek, ob der schwere Erinnerungsprozess denn lohnt: »Wer will schon hören solche Geschichten?« Doch die Geschichte von »Mauschwitz« will gehört werden, und das liegt zuerst an ihrer radikalen Inszenierung mit den klassischen Stilmitteln des Comics und mit »funny animals«, wie man sie eher im Disney-Kosmos wähnt.[52] Gerade durch diese konsequente Verfremdung gelingt Spiegelman die Durchdringung seines Stoffes; durch ihre Gestalt als Katzen oder Mäuse lässt er die Charaktere gesichtslos werden, macht sie zu einem unter vielen. Maus wird bald nach Erscheinen des ersten Bandes auch ein internationaler Erfolg und anlässlich des zweiten Teils 1992 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.[53]

Der Graphic-Novel-Boom in den USA wird 1986 nicht nur von Maus ausgelöst, sondern ebenso durch das Erscheinen von Frank Millers The Dark Knight Returns und Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons,[54] die auf eigene und ebenfalls überraschend neue Weise mit den Mythen des Comics jonglieren und bald eine Flut weiterer Titel im Superhelden-Genre nach sich ziehen.[55] Bereits hier beginnt sich die Wahrnehmung des Begriffs von Eisners ursprünglicher Absicht zu lösen; die »graphic novel« wird zu einer neuen (durchaus flexiblen) Produktform, die fortan ständig neuer Masse bedarf, was zunächst kaum auffällt, da Handel, Leser und Kritik lange ignorieren, dass jeder den Begriff ganz anders deutet.

Das autobiografische Erzählen charakterisiert nicht allein die ersten amerikanischen Graphic Novels, sondern nimmt einen Beginn gleichzeitig auch in Japan.[56] 1972, als Crumbs berühmte Story The Confessions of R. Crumb erscheint, veröffentlicht Keiji Nakazawa die achtundvierzigseitige Geschichte Ore wa mita (ich habe es gesehen), die er im Jahr darauf erweitert zu Barfuß durch Hiroshima. Nakazawa war sechs Jahre alt, als die Bombe fiel, sein Vater und seine Geschwister verbrannten vor seinen Augen. Als 1966 auch die Mutter an den Strahlenfolgen stirbt, entschließt er sich, von dem allgemein nach Kräften verdrängten nationalen Trauma zu erzählen, und spannt den Bogen von der Militarisierung der japanischen Gesellschaft bis zu dem Irren an der Seite seiner Mutter durch eine erloschene Welt nach der Katastrophe und der zweiten Bombe auf Nagasaki. Das ist umso bemerkenswerter, als hibakusha, wie man die Überlebenden damals nennt, verachtet und ausgegrenzt werden, sie gelten als »ansteckend«.

In Japan bleiben Selbstbiografien eher ein Randphänomen; 2006 etwa legt Yoshihiro Tatsumi mit Gegen den Strom seine gezeichneten Memoiren vor, an denen er elf Jahre gearbeitet hat, und erzählt von den 1950ern, in denen der gekiga seinen Anfang nahm. Auch die Graphic Novel stößt auf wenig Interesse als Erzählform, da der Manga nicht per se als Jugendkultur gesehen, sondern von allen Altersschichten gelesen wird (und somit auch ein Segment des Buchhandels ist). Epischen Raum nutzt er schon lange ausgiebig und stürzt seine Helden nicht wie in den USA oder Europa von einem Abenteuer in das nächste von immer gleichem Umfang. Erzählt werden in den telefonbuchstarken Periodika sich in längeren Fortsetzungen – Kapiteln – entwickelnde Geschichten, die zwar episodenhaft sein oder sich in Form von Zyklen aneinanderreihen können, doch die Figuren verändern sich dabei, reifen und kommen so einem zu Beginn gesteckten, übergeordneten Ziel immer näher. Im Falle eines Publikumserfolgs werden Haken geschlagen oder es ergeben sich neue Wendungen, um den Schluss hinauszuzögern. Die anschließenden Taschenbuchausgaben (tankōbon) mit rund zweihundert Seiten können so durchaus zu Reihen von einigen Dutzend Bänden anwachsen.

Osamu Tezukas Buddha (entstanden 1972-1983) mit einem stattlichen Umfang von dreitausend Seiten ist ebenso fraglos eine Graphic Novel wie Katsuhiro Ōtomos Akira (1982-1990) in sechs voluminösen Bänden. Einer der wenigen Mangaka, die indessen das westliche Konzept des »grafischen Romans« adaptiert haben, ist Jirō Taniguchi. 1990 erscheint Der spazierende Mann um einen namenlosen Herrn, der während seiner Promenaden durch die Nachbarschaft in achtzehn Kapiteln die verborgene Schönheit und die kleinen Freuden seiner Umgebung entdeckt. In Vertraute Fremde (1998) wird der Protagonist zurückversetzt in seine Kindheit und lebt sein Leben ein zweites Mal, mit dem Wissen des Erwachsenen.

Comics, für die man ein Lesezeichen braucht

Jirō Taniguchis Erzählen entspricht Eisners Idee der Graphic Novel weit mehr als das Gros der Titel, die heute als solche im Buchhandel in den Regalen stehen. Seine »Manga-Romane« kreisen um Themen, die seine Charaktere in ihrem Inneren bewegen, und am Ende sind sie eine andere Persönlichkeit als zuvor. Stilistisch verzichtet er zugunsten des Erzähltons (was vor allem in Japan auffällt) auf typische Manga-Stilmittel wie Speedlines oder karikatureske Übertreibung.[57] Die Sensation des Autobiografischen, des Autors als Person, die Crumb, Spiegelman, Pekar und Eisner ausgelöst haben, hat den rein fiktionalen Comic-Roman als Herausforderung in den Hintergrund treten lassen, und die Enttäuschung nach mit Spannung erwarteten Titeln wie Craig Thompsons Habibi (2011) oder Der Bildhauer (2015) von Scott McCloud lässt Taniguchis Ausnahmetalent umso mehr aufscheinen.

Will Eisner dient Autobiografisches vor allem der Versicherung der Authentizität, die seine Geschichten charakterisiert. »Das Haus mit der Nummer 55 steht an einer Ecke der Dropsie Avenue, ganz in der Nähe der Hochbahn. Es hat sich als Fundgrube für Geschichten entpuppt, wie ich sie aus jenen Tagen in Erinnerung habe, als ich in einer solchen Mietskaserne aufwuchs«, schreibt er über die »fiktive« Straße in der Bronx und ergänzt zu der Figur Jacob Shtarkah, der zeitweise ebenfalls dort wohnt: »Obwohl nichts von dem, was sich in Jacobs Leben ereignet, auch mir geschehen ist, könnte ich für jedes Ereignis doch viele Beispiele anführen, die sich in meiner Umgebung tatsächlich zugetragen haben.«[58]

Ähnlich arbeitet Howard Cruse, dessen Ich-Erzähler in Stuck Rubber Baby (1995) Toland Polk heißt und im fiktiven Clayfield in Alabama (statt wie Cruse in Birmingham, Alabama) sein Coming-out und die eskalierenden Rassenunruhen des Jahres 1963 erlebt, das mit Martin Luther Kings »I have a dream« begann und mit Kennedys Ermordung endet. Konzentriert sich Cruse mit seinem äußerst dichten und detaillierten Sittengemälde auf das Geschehen nur weniger Monate, in denen sich, auch für Toland, alles ändert, spannt Li Kunwu, 1955 geboren in der Provinz Yuan, in seiner in Frankreich erschienenen Trilogie Ein Leben in China (2009-2011) den Bogen von Maos Kulturrevolution bis in die »Zeit des Geldes«, wie der letzte Teil betitelt ist. Kunwu nennt sein Alter Ego Xiao Li und erzählt in einem opulenten Zeitenpanorama entlang der eigenen Biografie von den Mühen und Qualen, die die historischen Umwälzungen den Menschen abverlangen, ebenso aber von den bescheidenen Vergnügen seines Alltags.

Art Spiegelman nannte die Graphic Novel einmal einen Comic, »für den man ein Lesezeichen braucht«, einen »epischen Comic, den man weiterlesen oder sogar noch einmal lesen will«.[59] Das beschreibt eine tatsächlich neue Qualität des Lesens (wie auch der Lektüre); zuvor waren Comics etwas für »zwischendurch«, Zerstreuung, bestenfalls in Spielfilmlänge. Obgleich sich aktuell gewisse Strömungen herausbilden, impliziert Spiegelmans Sicht prinzipiell die thematische wie stilistische Offenheit des Genres in jede nur denkbare Richtung. 1991 veröffentlicht Jeff Smith im Selbstverlag die erste Ausgabe seiner Heftserie Bone, in der drei knuddelige Cartoon-Wesen in ein finsteres Tal geraten, aus dem sie nicht mehr zurückfinden. Sie müssen sich unerwarteten Gefahren stellen und sich in Konflikten behaupten, wobei sie selten einig sind, was zu tun am besten wäre. Am Ende umfasst die Erzählung 1.318 Seiten[60] – eine fulminante, manchmal tiefsinnige und zugleich absurd komische Graphic Novel mit liebenswert anthropomorphen Charakteren auf der Suche nach sich selbst, und so dick wie Melvilles Moby Dick (der auch eine Rolle spielt bei allem). Bone wurde allein in den USA mit zehn Eisner und elf Harvey Awards ausgezeichnet, das erste Mal 1993 in der Kategorie »Beste humoristische Publikation«: Die sind auffällig rar unter den Graphic Novels, beinahe als gelte es, den Ursprung der Gattung als »komische Streifen« vergessen zu machen. Graphic Novels kommen überwiegend ernsthaft daher, oft mit ironischem Augenzwinkern oder zeichnerischem Witz, doch in der Sache vor allem ernst.

Häufig sind Literaturadaptionen, deren Spektrum von aufwändig gestalteten »Illustrierten Klassikern« wie Robert Crumbs Genesis (2007) bis zu vortrefflichen grafischen Interpretationen reicht, etwa Paul Karasiks und David Mazzucchellis Stadt aus Glas (1994, nach Paul Auster und bezeichnet als »graphic mystery«). »Graphic Novel« trifft auf dieses Subgenre in ganz anderem Sinne zu als von Eisner einmal gemeint. Mit Ich bin Fagin legt er 2003 ebenfalls eine eigene Version von Dickens‘ Oliver Twist vor, in der er die Ereignisse diesmal aus der Sicht des im Original als antisemitische Karikatur vorgeführten Schurken Moses Fagin schildert. Statt einer Nacherzählung, wie opulent auch immer sie illustriert sein mag, wird die Adaption zu einer (hier notwendigen) Bereicherung des Originals. Eisner bedient sich des Stoffes nicht, um von dessen Popularität zu profitieren, sein Kommentar ist vielmehr ein persönliches Anliegen als Autor wie zwei Jahre später auch seine Dokumentation Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion.

Neben der Literatur bedient sich die Graphic Novel zudem gerne bei außergewöhnlichen Lebensgeschichten, und auch hier spannt sich das Angebot weit vom dokumentarischen Biopic bis zu Erzählungen »nach den Fakten«, die in ihrer zeichnerischen Inszenierung eine Ära spürbar werden lassen (etwa Haarmann, Peer Meter/Isabel Kreitz, 2010), Motive ergründen (Hans Fallada. Der Trinker, Jakob Hinrichs, 2015) oder aber schlicht ein Vergessen abwenden wie im Fall des (fast) vergessenen Matthew Henson (Packeis, Simon Schwartz, 2012). Dabei erreicht das Sortiment schon fast die Ausmaße der »rororo monographien«; Golo (Guy Nadaud) füllt in einem atmosphärisch dichten Zeitporträt Leerstellen in der Biografie B. Travens; Alfonso Zapico zeichnet in James Joyce das vielschichtige »Porträt eines Dubliners«; Christophe Gaultier versetzt Gauguin in eine postimpressionistische Südsee zwischen Paradies und Wildnis; A. Dan bannt in seine Bilder die Freiheit der Natur, nach der Thoreau am Walden-See suchte, und Julian Voloj und Thomas Campi haben soeben mit Joe Shuster die Geschichte des Erfinders von Superman vorgelegt, der einen Millionenerfolg schuf, von dem er selbst jedoch nichts hatte. Als erstes irdisches Lebewesen im All bringt es sogar die Hündin Laika auf eine Biografie von zweihundert Seiten.

Vom Leben der Anderen ist es nicht weit zum eigenen (wobei das Selbst natürlich eine andere Geschichte ist). David Smalls Stiche (2009) ist die ebenso elegante wie ergreifende und vielschichtige Aufarbeitung des eigenen Fatums; in sparsamen, doch lebendig dynamischen und treffsicher pointierenden Bildern schildert er, wie sein Vater, ein Radiologe mit stets leeren Brillengläsern, ihn im Fortschrittswahn der 1950er-Jahre arglos mit Röntgenstrahlen behandelte. Chester Brown hingegen breitet in Ich bezahle für Sex (2011) mit geradezu akribischer Ehrlichkeit sein Leben als Freier aus, einschließlich des theoretischen Unterbaus. Der ehemalige Disney-Animationszeichner Cyril Pedrosa erzählt vom hoffnungslosen Kampf gegen das Schicksal und verarbeitet in Drei Schatten (2007) nicht das eigene, sondern das Erleben eines Freundes zu einem manchmal pathetisch humorvollen sowie gleichzeitig tieftraurigen Fantasy-Märchen, in dem eines Tages drei »Todesboten« erscheinen, um den kleinen Sohn einer Familie zu holen. Und in Blankets (2003) hat Craig Thompson immerhin fast sechshundert Seiten von seiner Kindheit in einem christlich-fundamentalistischen Elternhaus in einem Provinzkaff im Mittleren Westen zu berichten und von seiner allmählichen Befreiung aus dem erdrückenden Muff. Mawil (Markus Witzel) dagegen erinnert sich in Kinderland (2014) in bunten Bildern an ein unbeschwertes Leben zwischen Jungpionieren, Tischtennis und West-Pop bis zum Kollaps der DDR eines Tages wie aus heiterem Himmel. Flix (Felix Görmann) nennt 2003 seine Autobiografie Held, und als er nach siebzig Seiten im Jetzt angelangt ist, zeichnet er einfach weiter bis zu seinem Tod im hohen Alter; Line Hovens Rekonstruktion, wie ihre Eltern aus zwei Kontinenten zusammenfanden, endet dagegen schon bald nach ihrer Geburt (Liebe schaut weg, 2007).

Das eigene Erleben findet sich zudem in Subgenres – vielmehr: ganz neuen Genres – wie der gezeichneten Reportage oder der Reiseschilderung. In Palästina (2001)[61] rekapituliert Joe Sacco seine Recherchen Ende 1991/Anfang 1992 im Westjordanland und dem Gazastreifen und entwickelt dabei eine Stilistik sich chaotisch überlagernder und widersprechender Stimmen, die von allen Seiten auf ihn einprasseln, die einzige Konstante in dem Wirrwarr bleibt er selbst. So entstehen nuancierte und vertiefende Momentaufnahmen, wie die distanzierten und immer gleichen Nachrichtenbilder im Fernsehen sie kaum vermitteln können. Ganz ähnlich wie Sacco geht der Italiener Igort (Igor Tuveri) in Berichte aus der Ukraine (2011) vor oder in Spanien Paco Roca in Die Heimatlosen (2013) über die Flucht republikanischer Widerstandskämpfer ins französische Exil. Der Fotograf (2003-2006) vereint die Zeichnungen Emmanuel Guiberts und Fotos von Didier Lefèvre zur Dokumentation einer Reise durch das von der Sowjetunion besetzte Afghanistan und Pakistan. Der Kanadier Guy Delisle zeichnet seinen Alltag als Supervisor von Trickfilmproduktionen in China und Nordkorea in Shenzhen (2000) und Pjöngjang (2003) auf. Später begleitet er seine Frau, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet, während längerer Aufenthalte in Myanmar und Israel, wo ebenfalls vor Ort die fein beobachteten Reiseberichte Aufzeichnungen aus Birma (2007) und Aufzeichnungen aus Jerusalem (2011) entstehen. »Erklärungen« gibt Delisle nicht, aber er zeigt zahllose Facetten, die den Leser vieles besser verstehen lassen.

All diese Comics gelten heute als Graphic Novels, obgleich darunter inzwischen eigene, ganz neue Erzählformen sind – ganz differente Produkte einer Verwandlung des Mediums, die vor vierzig Jahren begann, und deren Ende in den Sternen steht. Es verbreiten sich neue Genres wie die Reportage, das gezeichnete Tagebuch oder Web-Comics, entwickeln, wandeln und verästeln sich. Seit Januar 2017 veröffentlicht die New York Times in ihrer Sunday Review wöchentlich die Serie Welcome to the New World (Jake Halpern/Michael Sloan) über zwei aus Syrien geflüchtete Familien, die an dem Tag in die USA einreisen dürfen, an dem Trump zum Präsidenten gewählt wird, die keine Jobs finden, ausgegrenzt und bedroht werden. »Die Geschichte hätte der Stoff für einen perfekten New York Times-Artikel sein können, aber es wurde stattdessen ein Comic-Strip«, kommentiert Bruce Headlam, einer der Mitinitiatoren, unter der Überschrift »Times Journalists Use Words, Photos, Graphics and Video. And now, a Comic Strip.«[62] Damit ist der Comic zurückgekehrt auch in die Sonntagsbeilage, wo er einmal seinen Anfang nahm. Den autobiografischen Tagesstrip hat sogar schon zehn Jahre zuvor Flix erprobt und ein ganzes Jahr hindurch täglich online auf vier Panels aus seinem Leben – oder was ihn gerade beschäftigte – erzählt. Passend zu seiner Comic-Autobiografie nannte er die Buchausgabe Heldentage.

Augenblick: der Orgasmus der Zeit[63]

Schon bei seinem Debüt in den Zeitungen und erst recht nach dem Aufmarsch der Superhelden in den Heften berauschte der Comic durch Tempo und Rasanz. Er ist das Produkt einer Zeit, in der der Alltag sich beschleunigt und selbst Bilder »in Bewegung geraten«; Spektakel aufzuführen, die sich auf der Leinwand (noch) eher grotesk gestalten, ist lange seine Sensation. »Look, up in the sky! It’s a bird? It’s a plane? It’s … Superman!«[64]

Die Graphic Novel dagegen weist dem Bild eine ganz andere, gegensätzliche Rolle zu. Hier entschleunigen die Zeichnungen durch das Einfrieren von Augenblicken. Nicht das Gezeichnete treibt das Geschehen, sondern die Erzählung führt Regie und bestimmt den Takt, und diese Unterscheidung ist womöglich ein lohnenderes Kriterium für ihre Wesenheit als die »Buchlänge« oder Seitenzahl. In Bésame mucho (1987) verleiht Jacques de Loustal den Bildern durch seinen dicken Strich sowie gedeckte Farben bleierne Schwere und bringt so die Zeit zum Stehen, um genau hinzusehen, bis zu den Schweißtropfen auf Barneys Stirn. Oberflächen gewinnen Bedeutung durch symbolische Aufladung und werden zu Bildern, wie sie Fellini meinte, als er konstatierte, der Comic könne dem Film zwar seine Motive, Figuren und Geschichten ausleihen, nie jedoch »jenes Geheimnis des Augenblicks«, das er mit der Aura eines aufgespießten Schmetterlings verglich. Loustal verzichtet auf Sprechblasen und komplettiert das Gezeigte mit knapper Prosa im lakonischen Hemingway-Ton – oder er lässt allein die Bilder sprechen.

Schon der EC-Verlag hatte probiert, den Bildersog in seinen Heften zu drosseln, und die Zeichnung durch üppige Texte und Dialoge im Zaum gehalten, und auch Eisners Postulat, seine Bilder nähmen »sich die Formate, die sie brauchen«, ist in dieser Hinsicht zu verstehen. Graphic Novels verwenden weit häufiger »stille Bilder«, Textkästen oder -blöcke (womit sie wie eine Antithese zum filmisch rasant und multiperspektivisch erzählenden Manga erscheinen), oder sie erproben neue Allianzen von Zeichnung und Text wie Posy Simmonds (Gemma Bovery, 1999). Der bevorzugte Verzicht auf Farbe bedeutet zudem eine Reduzierung der Reize, die Konzentration auf »das Wesentliche«. Ganzseitige Panels, die Jack Kirby einmal für die titanenhaften Kämpfe seines Captain America nutzte, haben nun die Funktion des Innehaltens, bedeuten Ruhe, Besinnung. Das Bild erzählt auf neue Weise und nach einem neuen Code: Mit den »Comics für Erwachsene« (anstatt für »junge Leser von 7 bis 77«) verändern sich nicht allein die Inhalte und der Stil des Mediums, vielmehr unterliegt seine Ästhetik ganz anderen Bedingungen, als sie für Donald Duck, Flash Gordon oder Batman vonnöten sind (in ihrem klassischem Gewand wohlgemerkt – dass sie auch als Romanfiguren durchaus taugen können, illustrieren allein bereits Maus sowie der Dunkle Ritter).

Das gewachsene Angebot und die Flut von Graphic-Novel-Neuerscheinungen ist damit auch Ausdruck eines Verlusts, das Bekenntnis, den einstigen Trumpf der Bildattraktion längst an das Kino der digitalen Sensationen verloren zu haben: Eisners Ein Vertrag mit Gott erscheint just zur selben Zeit, als George Lucas im Kino mit Star Wars die Ära der Effekte einläutet. Superman etwa, von dem einstmals jeden Monat mehr als anderthalb Millionen Hefte über den Tresen gingen, findet derzeit in den USA gerade noch dreißigtausend Käufer.[65] Dem Manga hingegen ist es mit seinen oft nur scheinbar simplen Charakteren gelungen, sich als partizipative Jugendkultur zwischen Anime und Cosplay fest zu etablieren und sogar Millionenseller zu produzieren; mittlerweile haben auch viele Zeichner in Europa sowie den USA seine Erzählweise und Optik übernommen.

Ob man die Graphic Novel im engeren oder weiteren Sinne verstehen will oder sogar mit den Schultern zuckt – der Terminus hat nicht allein hinsichtlich der Erweiterung des erzählerischen und gestalterischen Horizonts des Mediums vieles angestoßen. In Deutschland beispielsweise, Busch zum Trotz ein »Comic-Entwicklungsland«, hat sich inzwischen eine erstaunliche Zahl junger ZeichnerInnen etabliert und sich einen Namen sogar auch außerhalb der Landesgrenzen gemacht; sie erzählen aus der Pubertät der Republik (Arne Bellstorf, Baby’s in Black, 2010; Tobi Dahmen, Fahrradmod, 2015), der Dunkelheit davor (Barbara Yelin, Irmina, 2014) oder von einer, die auszog, um das Comic-Handwerk zu erlernen (Kati Rickenbach, Jetzt kommt später, 2011).[66] Und noch etwas ist kaum genug zu schätzen: War die Comic-Welt in der Vergangenheit eine strikte »man’s world«, so finden sich neben den Zeichnern (wie ebenso auch in der Comic-Forschung) heute immer mehr Frauen und warten mit neuen Themen auf, mit frischen Blicken.

Neu ist ebenso, dass plötzlich und ganz unerwartet Graphic Novels aus Ländern ohne jede Comic-Tradition im Raum stehen und über ein internationales Netzwerk spezialisierter Verlage Verbreitung finden. In Kairo etwa führt 2009 während der Aufstände gegen Mubarak ein Band, der den maroden Zustand der Gesellschaft und die Nervosität auf den Straßen einfängt, zur Verhaftung des Zeichners Magdy El Shafee wegen »Untergrabung der öffentlichen Moral«. Metro, Ägyptens erste Graphic Novel, wird beschlagnahmt und verboten, liegt mittlerweile allerdings in etlichen Übersetzungen vor. L‘année du lièvre (Das Jahr des Hasen, 2011-2016) des heute in Frankreich lebenden Tian (Chan Veasna) beginnt mit der Evakuierung Phnom Penhs im April 1975 durch die Roten Khmer. Auch Tians Mutter wird in ein Konzentrationslager auf dem Land deportiert, in dem er drei Tage später zur Welt kommt; seine Trilogie endet mit dem Einmarsch Vietnams in Kambodscha und dem Ende des Pol-Pot-Regimes, als er gerade dreieinhalb ist.

Nicht zuletzt sind Graphic Novels Teil gesellschaftlicher Diskurse geworden, so auch zum Problemfeld des Islamismus.[67] Marjane Satrapis Persepolis (2000-2003) über ihre Kindheit im Iran nach der Machtübernahme des Ajatollah Khomeini, in schwarz-weißen, an Scherenschnitte erinnernden Bildern erzählt, wird ein internationaler Bestseller (und 2007 verfilmt). Riad Sattouf kam 1978 in Paris zur Welt, wuchs aber in Syrien und Libyen auf, wovon er in Der Araber von morgen (ab 2014) erzählt. Brigitte Findakly stammt aus Mossul und schildert in Mohnblumen aus dem Irak (2016) ihre Kindheit zwischen kulturellen Missverständnissen und Radikalisierung in kurzen Episoden, die ihr Mann, Lewis Trondheim, zeichnerisch umgesetzt hat. In Kobane Calling (2016) dokumentiert Zerocalcare (Michele Rech) den Kampf der Kurden gegen den IS. Wave and Smile (Arne Jysch, 2012) zeigt den Alltag deutscher Soldaten in Afghanistan. Und Reinhard Kleist rekonstruiert in Der Traum von Olympia (2015) die über einjährige Flucht der jungen Leichtathletin Samia Yusuf Omar aus Somalia quer durch die Sahara bis nach Tripolis, wo sie schließlich ein Boot nach Europa erwischen kann, Italien aber nie erreicht.

Vier Monate nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo erscheint in Frankreich der Band Katharsis von Luz (Rénald Luzier), der am Abend vor dem 7. Januar 2015 in seinen Geburtstag gefeiert hatte und deshalb zur Redaktionssitzung zu spät kam. Er hört die Schüsse, sieht noch den schwarzen Citroën davonjagen, dann steht er inmitten des Blutbads. Katharsis ist das Dokument des Versuchs, das Grauen mit dem Zeichenstift zu bewältigen; dreißig Episoden, die höchst eigen und ganz unterschiedlich sind in Länge, Stil, Technik, Ton und Zugang, sich am Ende aber zur dichten Collage einer traumatisierten Psyche zusammenfügen.

Im Jahr darauf folgt von Catherine Meurisse Die Leichtigkeit. »Es ist vor allem die Leichtigkeit, die ich am 7. Januar verloren habe und die ich wiederzuerlangen versuche, ›die unverzichtbare Leichtigkeit des Seins‹«, sagt die Zeichnerin.[68] »Nach dem Attentat habe ich mir die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Und zwar, als alle Welt sagte: ›Ich bin Charlie‹. Und wer bin ich? Ich hatte Angst, niemals mehr zeichnen zu können, also meinen Beruf zu verlieren. Die Leichtigkeit ist ein Buch, das mir beweist, dass ich am Leben bin. Also war es wichtig, dass ich mich selber zeichne. Als kleine Person, die sich auf den Weg macht und dabei unterschiedliche Emotionen durchlebt.«[69] Die »Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst«.

Mit der Graphic Novel hat der Comic die bedeutendste Verwandlung seiner bisherigen Laufbahn erlebt. Fortan vermag er nicht mehr allein von Enten zu erzählen, die Vermögen scheffeln, von strahlenden Helden oder den fliegenden Inkarnationen antiker Götter in bunten Strumpfhosen, sondern von Menschen. Und unter den Ersten, die er betrachtet, sind die Zeichner selbst. Doch zeigt er längst auch höchst spannende neue Gesichter, die mit dem Begriff kaum zu fassen sind. Festzuhalten bleibt indes, dass, wie man sie auch sieht, Graphic Novels auch nur Comics sind, und wohl niemand hat deren urwüchsige Impertinenz virtuoser mit ernster Materie zu verknüpfen verstanden als Art Spiegelman. So liegt es auf der Hand, als Schlusswort ein Zitat von Walt Disney zu borgen, der selbst zwar niemals Comics zeichnete, doch sich stets vor allem eines wünschte: »Ich hoffe, dass wir nie vergessen werden, dass alles mit einer Maus begann.«


[1] Lacassin, Francis: Pour un neuvième art, la bande dessinée, Paris 1971. Im Jahr darauf nimmt die Grand encyclopédie alphabéthique Larousse den Comic als »neunte Kunst« auf.

[2] Der Begriff »bande dessinée« (gezeichnete Streifen) entsteht Ende der 1930er-Jahre in Frankreich und wird in den 1950ern zum allgemeinen Sprachgebrauch; zuvor sprach man von »illustrés«.

[3] Gross, Rebecca: Mixing Words and Pictures. Art Spiegelman Discusses the Art of Comics; in: NEA Arts 2, Washington DC 2013

[4] Blank, Juliane: Vom Sinn und Unsinn des Begriffs Graphic Novel, Berlin 2014

[5] Lau, Peter: Hurra, wir sind kommerziell!; in: Alfonz – Der Comicreporter; Barmstedt 1/2017

[6] Rothschild, Aviva: Graphic Novels, Englewood CO 1995

[7] Weiner, Stephen: 100 Graphic Novels for Public Libraries, Northampton MA 1996

[8] Will Eisner: »The most significant evidence of comics‘ arrival, however, is their acceptance and acknowledgment by public librarians. The inclusion of graphic novels in their collections is a most welcome happening and, I might say, about time.« Vorwort in: Weiner, Stephen: Faster Than a Speeding Bullet: The Rise of the Graphic Novel, New York NY 2003

[9] vgl. den Beitrag von Wolfram Knorr

[10] Eisner, Will: Ein Vertrag mit Gott (Vorwort), Frankfurt/M. 1980

[11] vgl. den Beitrag von Dietrich Grünewald

[12] vgl. Der Träumer; in Eisner, Will: Lebensbilder. Autobiografische Geschichten, Hamburg 2011

[13] Andelman, Bob: Will Eisner. A Spirited Life, Milwaukie OR 2005

[14] Abbott, Norman: »The Spirit« of ’41; in: Philadelphia Record, 13.10.1941

[15] Schumacher, Michael: Will Eisner. A Dreamer’s Life in Comics, New York NY 2010

[16] Erst 1969 gelangt in seiner Rede The Death of the Novel vor der Bristol Literary Society John Updike zu einem ähnlichen Gedanken: »I see no intrinsic reason why a doubly talented artist might not arise and create a comic-strip novel masterpiece.«

[17] Eisner zeichnet in den 1950er- und 60er-Jahren vor allem Instruktionen für die US Army in Comic-Form – und setzt damit eine andere Vision um, von der ebenfalls der Record bereits 1941 berichtet hatte: »Some day, he believes, the comic strip technique will even find a place in the schools.«

[18] 2005 erscheint posthum Eisners Das Komplott. Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion, in dessen Vorwort er ausführt: »Mit dem Band Das Komplott entferne ich mich einen Schritt von der reinen grafischen Erzählung. Er ist aus meinen Bemühungen entstanden, mithilfe dieses machtvollen Mediums ein Thema anzusprechen, das mir selbst sehr am Herzen liegt.«

[19] Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1971 (1916)

[20] Bezeichnenderweise werden durchaus romanhaft aufgebaute Comics wie Monster Allergy oder Julien Neels Lou! nicht etwa als »Graphic Novels für Jugendliche« gelabelt.

[21] Campbell, Eddie: A Graphic Novelist’s Manifesto; in: The Comics Journal 263, Seattle WA 2004

[22] Wobei sich die Form der Graphic Novel weiter entwickelt und sich möglicherweise auch vom Comic entfernt und emanzipiert.

[23] Auf ganz ähnliche Weise konstruiert das Gehirn unsere »Realität«: Das menschliche Auge bewegt sich vier Mal pro Sekunde, die Lücken ergänzt unser gespeichertes mentales Modell zum »Film«.

[24] Eine erste fundierte Theorie des Comic-Erzählens legt 1985 Will Eisner mit Comics and Sequential Art vor und charakterisiert den Comic darin als eine »sequenzielle Kunst«; dt.: Comics als erzählende Kunst. Grundlagen und Prinzipien, Hamburg 2017

[25] Töpffer, Rodolphe: Histoire de mr. Jabot (Vorwort), Genf 1833

[26] Bei der New York World, in der The Yellow Kid ab 1895, noch als aus jeweils einem Bild bestehenden Cartoons, zuvor erschienen war, springt die Auflage innerhalb eines halben Jahres von 300.000 auf 450.000 Exemplare. 1896 wirbt Hearsts Journal Outcault und sein Kid kurzerhand von Pulitzers World ab.

[27] 1903 drucken 48 Zeitungen in 33 Städten Comics ab, 1908 sind es bereits 83 Zeitungen in 50 Städten sowie nahezu drei Viertel aller Sonntagsblätter. »Die farbige Sonntagsbeilage ist zur Institution geworden, ohne sie ist ein Sonntag kein Sonntag mehr«, kommentiert im August 1906 Atlantic Monthly: Bergengren, Ralph: The Humor of the Colored Supplement

[28] Bei den deutschstämmigen Einwanderern populär und 1871 auch ins Amerikanische übersetzt, inspirierte Max und Moritz Ende 1897 die von dem aus Schleswig-Holstein stammenden Rudolph Dirks gezeichnete und bis heute erscheinende Serie The Katzenjammer Kids; in Hearsts deutschsprachigem Sonntags-Morgen-Journal erschien sie zeitweise sogar als Max und Moritz.

[29] Der erste Comic, der hier überhaupt zur Kenntnis genommen wird, ist 1986 Maus. 2005 führt die NYT in ihrer Sunday Review die Funny Pages ein und 2009 auch eine Graphic-Novel-Bestsellerliste (bis 2017).

[30] Feininger hat seine lange ignorierten Serien The Kin-der-Kids und Wee Willie Winkie’s World nie gering geschätzt und nach deren Vorlage noch bis ins hohe Alter Holzfiguren geschnitzt.

[31] Caniff im Interview mit Arn Saba; in: The Comics Journal 108, Agoura CA 1986

[32] Schon ab 1900 erscheinen vereinzelt Strip-Nachdrucke als kleinformatige Hardcoverbücher, bis 1934 insgesamt gut 500. Nach dem Aufkommen handfesterer Comic-Helden werden deren Abenteuer ab 1932 auch in Textform in den Big Little Books nacherzählt (bis 1960 über 1.300 Titel), die auf jeder Doppelseite mit einer Zeichnung aus den Strips illustriert sind.

[33] 1950 erscheinen mit It Rhymes with Lust und The Case of the Winking Buddha zwei Comic-Bände mit einem Umfang von je 124 Seiten auch im Buchhandel und nennen sich »Picture Novels« – »an original full-length novel«: Im Stil Cornell Woolrichs und des Film Noir verhandeln sie in mehreren »chapters« und mit undurchsichtigen Charakteren den Missbrauch journalistischer und politischer Macht und können formal durchaus als Vorläufer der Graphic Novel gelten. Auch andernorts kommt es in den 1950er-Jahren vereinzelt zu romanhaften Versuchen wie etwa Fils de Chine (Roger Lécureux/Paul Gillon, 1950) in Frankreich, in Argentinien Eternauta (Oesterheld/López, 1957) oder in Japan mit gekiga-Bänden wie Black Blizzard (Yoshihiro Tatsumi, 1956).

[34] Im Prinzip gleicht der Comics Code dem Hays Code (1930) für amerikanische Spielfilme, hat aber weit drastischere Auswirkungen.

[35] Hervorhebung im Original

[36] Was den Verlag letztlich rettet, ist das 1952 gegründete Mad. Der Comics Code wird 1971 und 1986 gelockert, verliert in den 1990er-Jahren zunehmend an Bedeutung und verflüchtigt sich 2011 ganz. Der Hays Code war bereits 1967 abgeschafft worden.

[37] »Manga« ist ursprünglich die Bezeichnung verschiedener grafischer Gattungen wie auch Karikatur und Cartoon, wird heute in Japan allgemein aber als Synonym für Comics benutzt. Den Begriff verwendete erstmals Hokusai für seine zwischen 1814 und 1878 veröffentlichten Holzschnittbücher. Er gilt allein für Japan, in Südkorea heißt der Comic Manhwa oder in China Lianhuanhua.

[38] vgl. den Beitrag von Ryan Holmberg

[39] Literatur zum Manga entsteht erst langsam und bleibt zwangsläufig bruchstückhaft angesichts der Tatsache, dass heute knapp ein Drittel aller Druckerzeugnisse Japans Comics sind. Zu einer ersten wichtigen Grundlage wurden vor allem Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The World of Japanese Comics, Tokio/New York 1983 und ders.: Dreamland Japan. Writings on Modern Manga, Berkeley CA 1996

[40] Eine der ersten Aufgaben der jugendlichen Helden ist es, ihren jungen Lesern »die Welt «zu zeigen: So reisen Zig und Puce schon bald zum Nordpol und begegnen ausgerechnet dort ihrem von da an ständigen Begleiter Alfred – einem Pinguin.

[41] Durch Sammelbände erster Serien mit »stehenden Figuren« wie Joseph Pinchons Bécassine (ab 1905) oder Les Pieds Nickelés (1908) von Louis Forton ist das Format bereits etabliert. Eingeordnet werden die Alben bei den Kinderbüchern.

[42] Die ersten Auflagen der Hefte betragen in der Regel mindestens 100.000 Exemplare, schnell entstehenden rasch expandierende alternative Comic-Verlage wie The Last Gasp oder Kitchen Sink.

[43] Manche Comix nennen sich im Titel allerdings auch »Comics«, um in alternativem Sendungsbewusstsein Verwechslungen zu provozieren.

[44] Zu den Pionieren des autobiografischen Comics zählt zudem der weniger bekannte Justin Green mit Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary (1972).

[45] vgl. den Beitrag von Herbert Heinzelmann

[46] vgl. den Beitrag von Paul Derouet und Andreas C. Knigge

[47] Schließlich werden es fünf, der letzte Teil erscheint 1984. Reisende im Wind wird zum Bestseller, 2009 erliegt Bourgeon dem Drängen nach einer Fortsetzung und legt zwei weitere Bände um die Erlebnisse der Urenkelin seiner ursprünglichen Protagonistin vor.

[48] vgl. den Beitrag von Jonas Engelmann

[49] Als noch frühere »Vorläufer« werden gerne auch Harvey Kurtzman’s Jungle Book (1959) oder And His Name Is … Savage (1962) und Blackmark (1965) von Gil Kane zitiert.

[50] Eine erste Ausgabe haben »Los Bros Hernandez« im Vorjahr im Eigenverlag herausgebracht.

[51] vgl. den Beitrag von Klaus Schikowski

[52] Nach Erscheinen des ersten Bandes in den USA meldet Bild am 3.10.1986 entsetzt: »Holocaust-Comic mit Tierfiguren – widerlich!«

[53] vgl. den Beitrag von Kalina Kupczynska

[54] Ironischerweise ist keiner der drei Titel als Graphic Novel gelabelt.

[55] vgl. den Beitrag von Wolfgang J. Fuchs

[56] In Europa zählt Carlos Giménez zu den Pionieren des autobiografischen Comics. 1975 beginnt er in Paracuellos seine Kindheit während der Franco-Diktatur zu rekapitulieren und lässt anschließend die Trilogie España Una, España Grande und España Libre! (1976-1977) folgen.

[57] Die deutschen Ausgaben etwa erscheinen, mit gespiegelten Seiten und von »vorne« nach »hinten« zu lesen den westlichen Gewohnheiten angepasst, als Graphic Novels und nicht als Manga.

[58] Eisner, Will: Ein Vertrag mit Gott. Mietshausgeschichten (Vorwort), Hamburg 2010

[59] Gross, ebd.

[60] Zuvor bis 2004 in 55 Heften (oder Kapiteln) erschienen

[61] Zunächst zwischen 1993 und 1995 in neun Heften erschienen

[62] New York Times, 12.5.2017

[63] Walter Hilsbecher

[64] Vorspann desWOR-Radio-Serials The Adventures of Superman (1940-51) und später auch der gleichnamigen (von Kellog’s gesponserten) RKO-Fernsehserie (1952-58)

[65] Marvel und DC haben inzwischen sogar ihren angestammten Verlagssitz New York aufgeben müssen und zogen an die Seite ihrer Mutterkonzerne in die Filmschmiede Burbank, Kalifornien. Allein seit 2002 kamen über 50 Superhelden-Verfilmungen in die Kinos. 2014 entfielen bereits 30 Prozent des Comic-Umsatzes in den USA auf digitale Heft-Kopien; im gleichen Jahr übernahm Amazon die Plattform comiXology, die die Comics von fast 80 Verlagen sowie auch unabhängigen Zeichnern anbietet.

[66] vgl. den Beitrag von Silke Merten

[67] vgl. den Beitrag von Herbert Heinzelmann

[68] http://www.dargaud.com/Le-Mag/Actualites/Renaitre-apres-Charlie

[69] http://www.ndr.de/kultur/buch/Catherine-Meurisse-Die-Leichtigkeit,catherinemeurisse100.html

(Text+Kritik-Sonderband X/17: »Graphic Novels«, hg. von Hermann Korte u. Andreas C. Knigge, München 2017)

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