PLANET CHRISTIN
Von Andreas C. Knigge
Bereits 2010 hat er den Max-und-Moritz-Preis für ein herausragendes Lebenswerk erhalten, vier Jahre später den schwedischen Adamson. Mit der Verleihung des Prix Goscinny anlässlich seiner Autobiografie Ost-West ist Pierre Christins vielgestaltiges Schaffen während fünf Jahrzehnten nun auch in Angoulême geehrt worden. Das war langsam Zeit.
»Les oubliés d’Angoulême«, die Vergessenen von Angoulême, hatte schon im Februar 2006 das Magazin BoDoï getitelt und dazu auf dem Cover, zeichnerisch in Szene gesetzt von Joël Mouclier, einen eifrig auf seine Schreibmaschine einhämmernden Christin gezeigt, die Brille hoch in die Stirn geschoben, so, wie man ihn kennt. »32 Grand Prix sind bisher verliehen worden«, beginnt die Titelgeschichte im Heftinneren. »Und nicht ein einziger davon ging an einen Szenaristen!«
Warum ist das eigentlich so? Schon seit Anbeginn, obgleich es in seiner offiziellen Definition heißt, der Grand Prix d‘Angoulême werde »jedes Jahr an einen lebenden Zeichner oder Szenaristen [Hervorhebung durch den Verf.] in Frankreich oder dem Ausland verliehen«? Angoulême sei eben »vor allem ein Festival der Bilder«, wird dazu Jean-Claude Mézières zitiert, der den Großen Preis der Stadt 1984 erhalten hat. Und natürlich stelle sich immer auch die Frage, »ob ein Autor groß ist, weil hinter ihm ein großer Zeichner steht, oder ist er tatsächlich so großartig, dass sich seine Geschichten auch mit mittelmäßigen Zeichnungen verkaufen würden? Ich weiß es nicht, aber meiner Meinung nach sollten wir Zeichner hier unter uns bleiben.« Ein klares Wort, und an den Gegebenheiten hat sich bis heute nichts geändert.
Die Welt der Comics ist, selbst wenn man vielerorts inzwischen lieber von »Graphic Novels« spricht, eine Arena der Bildartisten. Ihr Part manifestiert sich unmittelbar in den Zeichnungen und ist identifizierbar durch den persönlichen Stil, der Anteil des Autors dagegen bleibt nebulös, kaum greifbar. In der Wahrnehmung steht er hinter dem Zeichner, wie ein Drehbuchautor hinter dem Regisseur, und musste sich lange mit einem kümmerlichen »texte de« begnügen, »Text: …«. »Für die meisten bleibt der Beruf des Szenaristen nach wie vor ein Rätsel«, sagt Pierre Christin. »Immer wieder fragen mich Leute, wenn es um Comics geht, ob meine Arbeit vor oder nach der des Zeichners stattfindet.«
Dabei lässt sich Mézières‘ Frage durchaus auch umgekehrt stellen: Wären die Genialität und der Erfolg von Asterix denkbar ohne René Goscinny? Weder er noch Jean-Michel Charlier jedoch, gleichermaßen über Jahrzehnte hinweg ein Gigant des franko-belgischen Comics, wurden je geehrt in Angoulême, dem wichtigsten Festival Europas. Oder aus der nächsten Generation Jean van Hamme, der Serien wie Thorgal (gezeichnet von dem Routinier Grzegorz Rosiński), XIII (mit einem ausgebrannten Vance) oder Largo Winch (mit dem noch unbeschriebenem Philippe Francq) kreierte und während der Jahre um die Millenniumswende als »Monsieur 10%« galt, da allein die von ihm geschriebenen Reihen rund ein Zehntel des Umsatzes französischsprachiger Alben ausmachten. Drei Mal bekam er in Angoulême den Publikumspreis, doch nicht eine reguläre Auszeichnung.
Dass die Autoren bei der neunten Kunst im Schatten stehen, hat lange Tradition, die Verleger der ersten Comic-Zeitschriften und -Alben wie Charles Dupuis im belgischen Marcinelle bei Charleroi hielten sie schlicht für überflüssig: Brauchte Hergé denn einen Autor? Oder Saint-Ogan, Pellos? Jahrelang hatten Robert Velter und Jijé die Titelserie seines Magazins Spirou ohne fremde Hilfe gezeichnet, ebenso Fernand Dineur Harry und Platte, Peyo Johann und Pfiffikus oder Morris seinen Lucky Luke. Nicht anders bei der Konkurrenz, Tintin in Brüssel, wo sich Jacobs oder Jacques Martin, Bob de Moor und Vandersteen ihre Geschichten selbstverständlich auch selbst ausdachten. Also wozu »Szenaristen«, die im Zweifel bloß Ärger machen? Sollte ein Zeichner einmal nicht weiterwissen, konnte er mit Dupuis‘ Redakteur Doisy ja einen trinken gehen, das half ihm schon auf die Sprünge (tatsächlich stammen von Jean Doisy etliche frühe Szenarios).
War er allerdings partout der Meinung, ohne Unterstützung den Faden zu verlieren, so war das seine Sache, man musste die Leute ja nicht unbedingt auch noch herausstellen. Zeichner ließen sich den jungen Lesern bei Signierstunden vorführen wie ein Zirkus – »pouvez-vous me faire un petit mickey, monsieur?« –, mit was wollen Autoren denn da punkten, was haben die zu bieten, Schmarotzer! Erst Ende der Fünfzigerjahre setzen bereits etablierte Künstler wie André Franquin durch, dass der Verlag künftig auch ihre Szenaristen nennt und anerkennt.
Damit tritt der auteur aus dem Hintergrund und gewinnt in den Sechzigern zunehmend an Bedeutung, vor allem auch durch Pilote mit Goscinny und Charlier als Chefredakteuren, beide selbst begnadete Szenaristen, sowie flankiert von der »politique des auteurs« der Nouvelle Vague. In diesem Klima setzt Pierre Christin seine ersten Schritte in das Universum der bande dessinées. Zunächst nennt er sich noch »Linus« (nach seiner Lieblingsfigur aus den Peanuts), vorsichtshalber – schließlich hat er eine akademische Laufbahn im Sinn, promoviert hat er schon. Doch zeigt sich bald, dass durch die kulturellen Umwälzungen im Zuge des Pariser Mai das eine mit dem anderen nicht nur durchaus kompatibel ist, sondern sich gegenseitig befruchtet sogar und ganz neues Terrain eröffnet.
Ein gutes halbes Jahrhundert später kann Christin auf ein imposantes Œuvre zurückblicken, nahezu hundert Alben und Buchveröffentlichungen (sechs Romane und zwei Anthologien mit SF-Storys inbegriffen) mit weit mehr als zwanzig Zeichnern. Darunter Meilensteine wie Der Schlaf der Vernunft und Treibjagd mit Enki Bilaloder mit Annie Goetzinger, einer der ersten Frauen, die sich in den Siebzigern dem Comic zuwenden, die sensibel-hintergründigen Portraits souvenirs. Vor allem aber Valerian mit Jean-Claude Mézières, die arrivierteste europäische Science-Fiction-Reihe und 2017 Vorlage für die bis dato aufwendigste Kinoproduktion Europas; Stan Barets spricht in seiner Einleitung der Gesamtausgabe von »einer der besten Serien, die jemals geschrieben und gezeichnet wurden«. Darüber hinaus hat Christin neue Wege des Erzählens mit Bildern erprobt und neue Erzählformate etabliert. Eine Ausgabe der dBD monographies über ihn heißt 2011 »L’Homme qui révolutionna la bande dessinée«, der Mann, der den Comic revolutionierte.
Umgesetzt von Philippe Aymond und beinahe wie eine Krönung seines bisherigen Werkes ist Anfang 2018 Christins Autobiografie Ost-West erschienen, in der er die Jahrzehnte nach dem Weltkrieg bis zum Zerfall der kommunistischen Utopie rekapituliert; die Zeit des Kalten Krieges und seine Entdeckung einer noch unbekannten Welt jenseits des Eisernen Vorhangs, in der kafkaeske Mechanismen wirken und walten. Und in der er davon erzählt, wie journalistische Leidenschaft und der Comic sich finden und zu etwas Neuem verschmelzen.
»Für seine Erinnerungen Ost-West, sein 99. Werk, sowie für sein Gesamtwerk« wurde ihm Ende Januar auf dem 46. Festival International de la Bande Dessinée nun der Prix Goscinny verliehen. Nach dreiundvierzig Jahren – als bester französischer Szenarist ist er schon 1976 mit dem Prix Alfred ausgezeichnet worden – stand Pierre Christin damit abermals in Angoulême auf der Bühne (auch wenn der Große Preis der Stadt wie üblich an einen Zeichner ging, die Mangaka Rumiko Takahashi; die immerhin ist nicht allein Zeichnerin, sondern auch ihre eigene Autorin, wie in Japan zumeist der Fall).
Wie sieht er selbst seine Rolle als Szenarist? »Der Autor trägt entscheidend bei zu einem Werk, aber ich weiß nicht, ob er deshalb ein Künstler ist. Künstler, das sind die Zeichner, die Musiker, die Schauspieler, nicht aber diejenigen, die ihnen zuarbeiten, auch wenn sie oft nicht unerheblich beteiligt sind an einem Erfolg. Ein Szenario ist letztlich aber nur ein Stapel beschriebenes Papier. Obgleich gemäß der von den Cahiers de la bande dessinée seinerzeit postulierten These vom ›auteur complet‹ viele Zeichner heute allein arbeiten, kann auch künftig der Comic ohne Autoren nicht auskommen, ebenso wenig wie der Film oder das Fernsehen. Wer einen Comic kauft, will eine gute Geschichte lesen, erst dann geht es um die Kunst.«
Runde Zahlen: Pierre Christin erhält die Auszeichnung in seinem achtzigsten Lebensjahr, und genau genommen ist Ost-West auch schon sein hundertstes Werk. Fertig in der Schublade liegt seit einiger Zeit der abschließende achte Band seiner 2001 mit Annie Goetzinger begonnenen Reihe Agence Hardy. »Annie hatte immer wieder etwas auszusetzen am Szenario«, so Christin. »Erst gefiel ihr dies nicht, dann hatte sie keine Lust, das zu zeichnen, und so sind Jahre vergangen.« Ende 2017 stirbt Annie Goetzinger, kurz vor Weihnachten. »Ich glaube, sie hat gespürt, dass sie nicht mehr die Energie haben würde, das Album zu Ende zu bringen«, sagt Christin. »Deshalb hat sie immer wieder Gründe gesucht, um gar nicht erst anfangen zu müssen damit.«
Agence Hardy führt zurück ins Paris der wankenden Vierten Republik, nach Reuilly am rive droite, an dessen graue Fünfziger sich Pierre Christin gut erinnert. Und wo in einer Seitengasse der rue du Rendez-Vous, wo man sich einst zu Jagdpartien im Bois de Vincennes zu treffen pflegte, nun die forsche Edith Hardy ihre Detektei betreibt. An der östlichen Seite des 12. Arrondissements liegt Saint-Mandé, trübe Vorstadt noch, als Christin hier am 27. Juli 1938 geboren wird.
»Eine Art Erleuchtung«
Der Sommer 1938 ist kein guter Moment, um diese Welt zu betreten. Im März ist Hitler in Österreich einmarschiert, bald wird der ganze Kontinent in Schutt und Asche liegen. Die Nächte in den Kellern während der Bombenangriffe auf Paris 1943/44 sind als frühe Eindrücke zu vehement, um später der Kindheitsamnesie anheimzufallen; sie sind die erste Erinnerung, die Christin, in der Mitte erst, in Ost-West schildert. Und im Nachhinein lassen sich die Umstände sogar als Glücksfall deuten, ohne den sein Lebensweg ein ganz anderer gewesen wäre. Denn inmitten von Angst, Elend und Zerstörung trifft er hier auf den gleichaltrigen Jean-Claude – Mézières heißt der blonde Junge aus der Nachbarschaft weiter, über dessen Zeichentalent le petit Pierre nur staunen kann.
Er wächst auf in kargen Verhältnissen, die elterliche Wohnung liegt direkt an den Eisenbahngleisen nach Boissy-Saint-Léger. »Der Qualm der Lokomotiven war der Albtraum meiner Mutter, denn sie musste ständig die Fenster putzen. Es gab auch den besseren Teil von Saint-Mandé nahe des Zoos, aber da, wo wir wohnten, sah es anders aus.« Der Vater betreibt einen kleinen Friseursalon in der rue de la République (der heutigen Avenue du Général de Gaulle), für Damen wie für Herren, in dem Pierre viele Stunden verbringt, als der Krieg zu Ende ist und bald darauf die Pubertät beginnt. Meist sitzt er still auf seinem Stuhl, liest Jules Verne oder in den ausliegenden Magazinen Détective und Radar mit ihren reißerisch bebilderten Kriminalstorys und aufgebauschten actualités, mit Comics auch, vor allem aber den elektrisierend »realistischen« Illustrationen und Covers von Angelo Di Marco. Das mag an Charles M. Schulz erinnern, für den ebenfalls das Friseurgeschäft des Vaters der Mittelpunkt der Kindheit war, und der im fernen Minnesota in diesen Tagen kurz davor steht, seine Peanuts zu Papier zu bringen, später einmal Christins Lieblingsstrip.
Zwischen Paris und Saint-Mandé liegt la zone, ein dreihundert Meter breites Areal mit behelfsmäßigen Holzbaracken, dicht gedrängten Wohnwagen und verrosteten Bussen, das sich, wo einmal der »Périférique« entstehen wird, um die ganze Stadt zieht. Nur zwei Straßen führen von Saint-Mandé aus durch den Slum. Aus dem ersten Stock seiner Schule kann man auf das Gebiet hinter dem Bretterzaun sehen, ein Ort ebenso geheimnisvoll wie gefährlich, das Betreten ist den Kindern strengstens verboten. »Die zone hat meine Phantasien zweifelsfrei stark angeregt«, sagt Christin. »Man konnte die Feuerpfannen riechen und das brennende Holz, und hinter dem Zaun sah man finstere Typen herumlaufen und umwerfende Frauen.«
1949, Pierre ist elf, endet die Schulzeit. Mehr Theorie muss nicht sein in diesen Tagen, den Eltern erscheint eine praktische Ausbildung sinnvoller. Sie stecken ihn in eine Berufsschule für das Holz- und Metallhandwerk, womit er überhaupt nicht einverstanden ist und sich zudem als so ungeschickt erweist, dass er bald als »öffentliche Gefahr« gefürchtet wird: »Ich konnte mit meinen zehn Fingern anscheinend nichts anfangen, ohne jemanden zu verletzen.« Zu Hause stöbert er gerne in dem zweibändigen Larousse von 1922. Der Krieg ist fünf Jahre vorbei, Spuren sind überall noch sichtbar, Knappheit herrscht an allen Enden.
»Das Leben in Frankreich lief zu dieser Zeit ab wie ein Schwarz-Weiß-Film«, resümiert Christin sein Heranwachsen, aber immerhin: »Es gab die Kinos, und in denen wartete eine Welt in Technicolor.« Er ist fasziniert von der unendlichen Weite des Wilden Westens, die John Sturges, Ford oder Howard Hawks auf die Leinwand bannen, von Gary Cooper und John Wayne. Und in dem kleinen Buchladen nicht weit von dem Salon seines Vaters, wo er gerne stöbert und bald zudem stundenweise aushilft, entdeckt er dann die Krimis der legendären, von Marcel Duhamel herausgegebenen Série Noire des Verlages Gallimard.
Aufgrund einer Sonderregelung der Nachkriegsjahre sowie der ausdrücklichen Empfehlung seiner Lehrer kann Pierre schließlich doch ein Gymnasium besuchen, obwohl der Vater skeptisch bleibt. Bezüglich seiner beruflichen Zukunft hat er allerdings keine konkrete Vorstellung. »Jean-Claude Mézières und Jean Giraud waren dreizehn oder vierzehn, als sie genau wussten, was sie machen wollten: Comics zeichnen!«, sagt er später. »Auch ich wollte etwas Kreatives machen, aber ich hatte keine Ahnung, was. Ich liebte das Klavierspielen, war allerdings beileibe nicht gut genug, um etwas anfangen zu können damit. Natürlich schrieb ich gerne, aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, davon einmal leben zu können.«
Am Lycée Turgot im 3. Arrondissement bringt ihm ein befreundeter Mitschüler Sartre, Boris Vian und den Marxismus nahe, damit scheint sich wie auf einen Schlag alles zu verändern: »Ich fühlte mich wie von einer Art politisch-intellektuellen Erleuchtung durchströmt – so als hätte sich mir mit einem Male die ganze Welt erschlossen.« Die Lektüre von Orwells 1984 macht ihn zum Gegner jeder Form des Totalitarismus. Von Turgot aus beginnt er die Stadt zu erobern, von der er bisher nicht viel kennt. »Die Fünfziger waren davon geprägt, dass die Leute alles taten, um ihrer Armut und den Entbehrungen zu entkommen. Die Markthallen erinnerten an eine Kloake, überall Bettler mit Akkordeons und Prostitution an jeder Ecke. Im Marais drohten die Häuser in sich zusammenzufallen, und es gab eine Menge geheimnisvolle Orte. Es war, als beträte ich ein ganz neues Universum.« Einer der beiden Freunde aus Saint-Mandé, mit denen er weiter in Kontakt bleibt, ist Jean-Claude Mézières, der mittlerweile das Institut für angewandte Künste besucht (wo er Jean Giraud kennenlernt und ihn kurz darauf Pierre vorstellt – was in Ost-West zu einer der schönsten Szenen wird).
Nach seinem Abitur beginnt Christin 1958 ein Studium der Literaturwissenschaft an der altehrwürdigen Sorbonne, wechselt dann aber ans Institut für politische Studien Sciences Po. »Ende der Fünfziger, das war die Zeit der ersten Filme Truffauts, des großen Chabrol, des Entstehens einer studentischen Welt: Es war noch immer üblich, dass wir Krawatten trugen!« Er liest Philosophen wie Edgar Morin oder Cornelius Castoriadis sowie bald regelmäßig Socialisme ou Barbarie, eine einflussreiche antistalinistisch-marxistische Zeitschrift, die den Untertitel »Kritisches Organ der revolutionären Orientierung« trägt und, zumeist vierteljährlich, jede Menge Diskussionsstoff liefert. Dazu der Algerienkrieg; Christin zählt sich zur »nichtkommunistischen Linken«, den Terror der FLN lehnt er ab. Mit den neuen Freunden trifft er sich in verrauchten Cafés, Billardsalons und Jazzkneipen. Und er heiratet seine Freundin Rosine, die er am Sciences Po kennengelernt hat, wenig später bekommen sie einen Sohn.
1962 schließlich legt er seine Doktorarbeit vor, Le Fait divers: littérature du pauvre – Kriminalien/Aktualitäten: die Literatur der Armen. Die nächsten Jahre übernimmt er Lehraufträge, übersetzt, und immer häufiger schreibt er, am liebsten über das Kino. Auch ein erstes Buch ist bereits in Arbeit – L’Information cinématographique, es erscheint Ende 1967 –, aber dann kommt alles ganz anders. 1965 sterben zuerst seine Mutter und kurz darauf der Vater, und danach will Christin erst einmal »raus aus diesem kümmerlichen gaullistischen Frankreich«. Was läge als Ziel da näher, als die endlosen Weiten, die ihn in dem Kino in Saint-Mandé so beeindruckt haben und auch später noch.
»Unendliche Räume«
Die Neue Welt, New York, das Laboratorium der Moderne: Im September des gleichen Jahres noch gleitet der gerade siebenundzwanzig gewordene Christin, »ohne einen Sou in der Tasche«, an Bord der »France« an der Freiheitsstatue vorbei, vor nicht einmal achtzig Jahren als Geschenk der Franzosen auf Liberty Island eingeweiht – und vier Mal so hoch wie ihre kleine Schwester zu Hause an der Seine! Wie nachhaltig ihn die Stadt beeindruckt, lässt auch ein halbes Jahrhundert später noch seine Graphic Novel Robert Moses. Der Mann, der New York erfand spüren.
Er bleibt fast zwei Wochen, schläft im Männerwohnheim der Heilsarmee, dann geht es weiter, mit dem Greyhound Richtung Westen. Sein Ziel ist Salt Lake City, wo er einen Lehrauftrag für Literatur und Französisch an der University of Utah übernommen hat. »Damals ging so gut wie niemand in die Staaten, somit hatte ich die freie Wahl und entschied mich für den Westen.« Mit seiner Ankunft am Großen Salzsee eröffnet Christin Ost-West, er hat das Kapitel »This Is the Place« genannt. »Als erstes müssen Sie ein Haus mieten und ein Auto kaufen«, wird ihm umstandslos erklärt. »Kein Geld? Die Credit Union der Professoren wird ein Konto für Sie eröffnen und Ihnen einen Gehaltsvorschuss geben.« Leben auf Kredit, »damals völlig unvorstellbar für einen Franzosen«, gehört zu den wundersamen neuen Entdeckungen, über die er nur staunen kann.
»Ich erlebte den Nachklang noch des Kennedy-Aufbruchs«, blickt Christin zurück. »Das waren die Jahre, in denen die Schwarzen militant für ihre Rechte zu kämpfen begannen. Und es war eine Zeit großer intellektueller und kultureller Umwälzungen. Der Jazz war auf dem Höhepunkt, ebenso Rhythm and Blues und Rock. Die neuartige Musik, die ich hier kennenlernte, hat für mein Leben eine enorme Rolle gespielt. Dann die schier unendlichen Räume, mon dieu! Aber Effektivität und die enorme Innovationskraft, die Jugend und die Kunst haben mich ebenso beeindruckt. In Sachen Kino und Literatur war es eine großartige Zeit. Ich war fasziniert von den amerikanischen Romanciers, deren Stil so gänzlich anders war als der der französischen Autoren. Ich liebte Krimis. Und die Science-Fiction, die sich mit Asimov, Van Vogt oder Ray Bradbury ebenfalls gerade auf einem Höhepunkt befand. Sowie natürlich MAD und die Peanuts – eine radikal neue Art von Comic und für mich damals der Schlüssel zum Verständnis Amerikas. Das ließ sich mit nichts vergleichen, was wir in Frankreich kannten!«
Schon bald bietet Christin Seminare auch zur Nouvelle Vague an, über den Surrealismus oder europäische Regierungsformen. Sein Salär ist »für die damalige Zeit äußerst komfortabel«, er hat ein (gebrauchtes) Auto und ein Haus, und nach den ersten Monaten kommt Rosine mit dem vierjährigen Olivier nach. Da hat er in der Hauptstadt der Mormonen bereits einen alten Freund aus Paris wiedergetroffen, der sich gleichsam in Utah auf die Suche nach Hollywoods Wildem Westen begeben hat und nicht weit entfernt von Salt Lake City auf einer Ranch arbeitet: Jean-Claude Mézières. In Christins Rambler Baujahr 58 touren sie Hunderte von Meilen durch die unendlichen Weiten des Westens (inklusive bereits jener Pannen, hinter denen ein System zu stecken scheint, wie das Nachwort zur deutschen Ausgabe von Ost-West mutmaßt). Während sich Mézières seine Kindheitsträume von Pferden, Satteln und Stetsons erfüllt, wahrt Christin bei aller Faszination die Distanz des kritischen Beobachters: This is the place, hier erwacht seine Leidenschaft für den Journalismus, die auch seine spätere Arbeit als Szenarist maßgeblich prägen wird.
Mit Olivier schießt Mézières Anfang 1966 »auf einer verlorenen Ranch inmitten des Nichts« eine Fotoserie, zu der Rosine Christin das Kinderbuch Olivier chez les cow-boys schreibt; später wird es, mit zusätzlichen Illustrationen von Giraud, als Prototyp einer neuen Reihe Premières aventures bei Dargaud gedruckt (kommt allerdings nicht zur Auslieferung). Und als die Jugendfreunde eines Tages in Salt Lake City zusammensitzen und über die Zukunft reden, die für beide in den Sternen steht, fragt – einige kleinere Arbeiten hatte Mézières in Frankreich bereits veröffentlichen können – Christin: »Warum kehrst du nicht wieder zum Comic zurück?«
»Mir fällt nicht viel ein. Vielleicht eine Kurzgeschichte? … Schreib du doch ein Szenario.«
»Aber … ich habe noch nie ein Szenario geschrieben. Ich hab noch nicht mal je eins gelesen!«
»Es muss ja nichts kompliziertes sein. Mach einfach, was du denkst.«
Christin sieht den Freund an, als würde der ihn auf den Arm nehmen wollen: »Klar, so einfach ist es …«
Das Ergebnis ist die satirische, deutlich von MAD beeinflusste Piratengeschichte Le Rhum du punch über die Rolle des Rums im amerikanischen Befreiungskrieg. Mézières schickt sie seinem Freund Jean Giraud, der in Paris für eine neue Zeitschrift namens Pilote arbeitet, und der die sechs Seiten René Goscinny vorlegt. Wenige Wochen später werden sie abgedruckt, am 24. März 1966, die erste gemeinsame Veröffentlichung.
Noch im gleichen Jahr erscheint eine weitere Kurzgeschichte von »Linus« und »Mézi« in Pilote, sie soll helfen, ihre Rückreise nach Europa zu finanzieren. Beruflich gäbe es für Christin durchaus Perspektiven in den USA, trotz aller Faszination aber hadert er mit »einer gesellschaftlich etablierten Doppelmoral der Heucheleien und vor allem in Salt Lake City der Frömmelei: Amerikaner reden dich mit deinem Vornamen an, obwohl du sie erst seit drei Minuten kennst und anschließend nie wieder ein Wort mit ihnen wechseln wirst.« Somit beschließt er nach einem Jahr, zurückzukehren an die Seine. Mézières folgt ihm kurz darauf, als seine Arbeitserlaubnis abläuft.
In Paris wieder Fuß zu fassen, ist zunächst gar nicht so einfach, während seiner Abwesenheit sind viele Kontakte eingeschlafen. Aber die soeben begonnene Zusammenarbeit mit Mézières für Pilote findet eine unmittelbare Fortsetzung, obwohl Christin darin keineswegs seine Zukunft sieht: »Daran habe ich nicht einen Moment gedacht.« Das Handwerk muss er sich zudem erst aneignen. »Als ich zurück in Frankreich war, besuchte ich Pilote in der rue du Louvre, wo die Verlage damals saßen. ›Nicht schlecht bisher‹, meinte Charlier, ›lassen Sie uns weitermachen‹, und ich antwortete: ›Würden Sie mir bitte mal ein Manuskript zeigen, Monsieur? Ich habe bisher so wie hier gearbeitet und weiß gar nicht, ob das richtig ist.‹ Er zog die Seite, an der er gerade saß, aus seiner Schreibmaschine und erklärte mir, wie es ging.« Ende 1966 erscheint ihre dritte Geschichte in Pilote, ebenfalls sechs Seiten. Weitere kleine Storys, etwa mit Jean Giraud oder Raymond Poïvet, sowie auch etliche illustrierte Reportagen folgen ab 1966 zudem für das kurzlebige Total Journal, das zwischen Wissenswertem für die Jugend der Zeit auch kurze Comics bringt – ein willkommenes Zubrot.
Im Gegensatz zu Christin hat Mézières seinen Platz gefunden und arbeitet bei Pilote auch mit anderen Szenaristen wie Reiser, Lob oder 1967 sogar mit Goscinny zusammen, vereinzelte kurze Beiträge von zwei, drei Seiten. Doch wohin soll die Reise gehen? Wäre es nicht Zeit für etwas größeres, fragt Christin den Freund. Der würde liebend gern einen Western zeichnen, natürlich, aber das tut mit Blueberry schon Giraud. Also wird es Science-Fiction – gleichsam ein Genre der unendlichen Räume, das ein erst überschaubares Publikum in Frankreich gerade in neuen Magazinen wie Galaxie entdeckt. Im November 1967 beginnt Schlechte Träume, an eine Serie ist dabei noch gar nicht gedacht, und erscheint mit jeweils doppelseitigen Folgen über fünfzehn Wochen hinweg in Pilote.
»Wir schreiben das Jahr 2720, Galaxity ist die Hauptstadt der Erde und des gesamten irdischen Machtbereichs in der Galaxis« – der erste Satz klingt heute wie Star Wars: gleich mitten rein in die Zukunft, keine Umschweife. Lohnarbeit ist überflüssig geworden, die Zeitreise möglich, alsbald erhält der Raum-Zeit-Agent Valerian seinen ersten Auftrag und begegnet in einem fabelhaften Mittelalter kurz darauf schon Veronique. Dreißig Seiten, deren anarchische Frische und Überdrehtheit gegen Ende der Sechziger prickelnd neu sind. Wie auch der Ton: Auf der einen Seite der schlaksige Valerian mit langen Haaren, die »Technokraten«, die das Sagen haben, auf der anderen, autoritär und mit stets finster verkniffener Miene – Spiegelbild eines Konflikts der Generationen, der in Frankreich soeben vor dem Überkochen steht.
Für die bande dessinée ist die SF ein weitgehendes Novum – 1951 hatte Spirou sogar Sirius‘ L‘Épervier bleu abgebrochen, nachdem die zuvor bodenständigen Helden zum »schweigenden Planeten« aufgebrochen waren: Der Jugendschutz war der Ansicht, die phantastisch-abgehobene Handlung beschere jungen Lesern nächtlichen Albdruck. Nur in Vaillant erscheinen seit 1945 die altbackenen Pionniers de l’espérance von Roger Lécureux und Raymond Poïvet, treiben bereits aber auf ihr baldiges Ende im Jahr 1973 zu (und dann natürlich Barbarella – aber das ist eine andere Geschichte). Die Resonanz auf Schlechte Träume ist gut, und so wird Valerian zur Serie und Veronique seine kesse Partnerin.
»Mit der ›Pilotstory‹ hatte Jean-Claude Vertrauen in das Sujet gewonnen, sich quasi freigeschwommen, und auch ich fand schnell viel Spaß an der SF.« Als die erste albumlange Episode Die Stadt der tosenden Wasser im Sommer 1968 anläuft, sind in Frankreich Streiks und Studentenrevolte schon wieder abgeklungen; im Mai, Christin ist zu dieser Zeit in Bordeaux, war de Gaulle aus dem Land geflüchtet, die Welt ist von nun an eine andere. Die weiteren Abenteuer der beiden Raum-Zeit-Agenten lassen das in den thematisierten Konflikten deutlich spüren. Es sind die Jahre, in denen alles, sogar der Orgasmus, politisch ist. »Science-Fiction ist ein wunderbarer Weg, über die Wirklichkeit hinauszugehen«, sagt Christin. »Sie ist das perfekte Vehikel, um die großen Veränderungen unserer Epoche zu diskutieren und einen Weg in die Moderne zu finden.«
»Niemand vor uns hatte Abenteuer wie diese erzählt«, ergänzt Mézières. »In dieser Serie ist einfach alles möglich, und jedes neue Album bringt uns dorthin, wo wir es wollen.« Erfolg stellt sich zügig ein, die Verkäufe steigen von Album zu Album. 1970 wird Mézières mit dem Prix Phénix ausgezeichnet, drei Jahre später erscheint eine Les Cahiers de la bande dessinée-Ausgabe »Linus – Mézières«, und 1976 erhält Christin auf dem dritten Salon International de la Bande Dessinée an der Charente den Prix Alfred als bester französischer Comic-Autor. Auch das zeugt von der Wucht, mit der ihr Konzept der Space Opera in diesen Jahren gleichermaßen Publikum wie Kritik erreicht.
Nun ist Pierre Christin also Szenarist, verheißungsvoll obendrein, doch ist damit seine akademische Karriere keineswegs obsolet, dafür ist er in seinen Interessen viel zu breit aufgestellt. Im gleichen Jahr, in dem Valerian beginnt, begründet er an der Universität Bordeaux die École de Journalisme (heute das Institut de Journalisme IJBA), die er über fünfunddreißig Jahre hinweg leiten wird. Damit sind »Journalismus und Kommunikation« in Frankreich zum ersten Mal ein Studienfach, ein Gedanke, der ebenfalls in den USA geboren wurde. Fünfundzwanzig Studenten besuchen das erste Semester im Jahr darauf. Ebenfalls 1967 erscheint sein vor seiner USA-Reise begonnenes Buch über das cinéma.
»An der Arbeit als Szenarist hat mich vor allem interessiert, etwas Neues kennenzulernen«, sagt Christin. »Anfangs dachte ich an nicht mehr, als ab und an eine kleine Story zu schreiben. Alles Weitere hat sich bei Pilote wie von selbst ergeben. Ich hatte stets großen Respekt vor Jean-Michel Charlier, der eine ganz spezielle Art von Szenario entwickelt hat, Räume für Abenteuer und Spannung, die ich als Kind bewundert habe. Doch inzwischen trat er auf der Stelle, seine Vorgehensweise war in meinen Augen überholt. Mir schwebte vor, etwas ganz anderes zu machen, das dennoch mainstream war.«
Und dann stehen auch schon die Siebziger vor der Tür, in denen die bande dessinée sich von Grund auf verwandeln wird und ebenfalls Christin ganz neue Wege beschreitet.
»Phantasmagorien, Elemente der Fantasy«
Die neue Dekade beginnt mit einer weiteren Entdeckungsreise, wieder mit Jean-Claude Mézières. Da er vom Westen einen Eindruck hat, zieht es ihn jetzt nach Osten, in jene Welt hinter dem rideau de fer, von der die Medien Dunkles munkeln, für die das Kino keine Bilder hat, und über die man eigentlich so gut wie gar nichts weiß, Terra incognita. Im Sommer 1970 machen sich die Freunde von Paris aus auf den Weg. Die Tour in Christins treuem Renault führt via Wien nach Budapest und über halsbrecherische Landstraßen vorbei an abgelegenen Dörfern, in denen die Zeit stillzustehen scheint, durch Rumänien und Bulgarien bis zuletzt nach Istanbul. Wo sie halten, führt Christin Gespräche und macht Interviews, hört den Menschen zu, macht sich Notizen.
»Das gab es zu dieser Zeit sonst nicht, dass jemand im Westen und im Osten unterwegs war«, erinnert er sich. »Mich begann der ›Ostblock‹ mit all seinen Provisorien und Hoffnungen bald weit mehr zu faszinieren als der oberflächliche, am Konsum orientierte American Way of Life.« Vor allem sind es die Menschen, die ihn nicht auf den ersten Blick schon grinsend beim Vornamen nennen, sondern sich für sein Anliegen wirklich interessieren. Die wissen wollen, warum die beiden Männer aus einer anderen Welt neugierig vor ihnen stehen, und die dann selbst Fragen stellen (oft mit einem ängstlichen Blick über die Schulter zunächst).
In Ost-West schildert Christin ein »Zigeunerlager« in der Puszta, das ihn an die heimlichen Blicke einst durch den Bretterzaun hinter seiner Schule erinnert und Bilder wachruft von der zone, jenem geheimnisvollen Universum, das nach Abenteuern roch, während es in Saint-Mandé öde war und grau. Jetzt kann er die Welten erforschen, die ihm damals versagt waren oder aber so unerreichbar fern, ihnen auf den Grund gehen, ihre Geheimnisse erschließen. Das Reisen, stets mit dem Blick des Journalisten, wird für ihn von nun an eine wichtige Rolle spielen und bald Grundlage für die meisten seiner Erzählungen, wie ein roter Faden in seinem Werk: Dies ist der Ort, wo Journalismus und bande dessinée miteinander zu flirten beginnen.
Christin treibt die gleiche Neugier an wie bereits in den USA, doch diesmal verläuft ihre Reise ganz anders. »Als wir in Istanbul ankommen, dem Ende dieses ersten Abstechers in damals wenig bekannte und geliebte Länder«, notiert er in Ost-West, »weiß Jean-Claude vielleicht schon, dass er nie wieder dorthin zurückkehren wird.« »Das war tatsächlich überhaupt nicht meine Welt«, bestätigt der. »Unter jedem Klodeckel, den man anhob, lauerte ein Monster.« Dass er seine Faszination mit Mézières, der diesmal gänzlich anderer Ansicht ist, nicht teilen kann, ist in ihrer Freundschaft eine neue Erfahrung, mit der Christin lernen muss, umzugehen.
Ganz der Journalist, veröffentlicht er in Pilote später eine zweiteilige Reportage über die gemeinsame Exkursion mit Fotos von Mézières. »Seitdem bin ich immer wieder in Osteuropa unterwegs gewesen, und es gibt nur ein Land, das ich vor dem Erscheinen von Treibjagd nicht kennengelernt habe, Albanien, weil es mir nie gelungen ist, ein Visum zu bekommen.« Neben seinen Vorlesungen in Bordeaux, die er jeweils Montag bis Mittwoch hält und dann mit dem Zug zurückfährt nach Paris, sowie der Arbeit an Valerian schreibt Christin gelegentlich kleinere Beiträge zudem für andere Zeichner wie Jean Giraud oder Claude Auclair; auch ein moderner Western für Jijé ist dabei, Cyclone junior, eine Short Story von vier Seiten: »Ich mag die SF, aber ich wollte mich auch breiter orientieren, um nicht als Spezialist für dieses Genre abgestempelt zu werden.«
Von den kleinen Genrestorys auf ganz neues Terrain ist es dann nur ein kurzer Sprung. Und den unternimmt Christin im Herbst 1971 mit der von Jean Vern inszenierten Story Underground, auf die sporadisch bald weitere Explosionen greller Pop-Art-Ästhetik folgen (und unter dem Titel En douce, le bonheur, sinngemäß »das verborgene Glück«, in der neuen Collection Pilote auch als Album erscheinen): Kurzgeschichten, die um das Lebensgefühl und die Musik der Sechzigerjahre kreisen und einzig durch ihr Sujet verbunden sind. »Später, mit Métal Hurlant, wurde Musik häufiger zum Thema in Comics«, so Christin, »aber zu dieser Zeit war das noch neu.« Gemeinsam mit Vern, selbst leidenschaftlicher Jazz-Saxofonist, werden in den Achtzigern weitere Alben entstehen (siehe Kasten).
Und dann beginnt im Sommer 1972 in Pilote 658 Aufruhr in der Rouergue, schwarz-weiß gezeichnet von Jacques Tardi. Es ist dessen erste Veröffentlichung und Christins erste albumlange Erzählung abseits von Valerian. Die Rouergue, der Schauplatz, ist eine einstmalige Grafschaft im Zentralmassiv im Département Aveyron, wo Christin soeben (dank einer gut dotierten Präsentation für eine amerikanische Pharmafirma) ein Landhaus erworben hat. »Das war ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben, ich war Anfang dreißig, und meine Eltern hatten niemals irgendetwas besessen«, sagt er heute. »Es war ein altes Bauernhaus, weit ab in einem verwilderten Tal. Keine Straße führte damals dahin, es gab kein fließend Wasser, aber für mich war es perfekt. Bis heute ist das der Ort, an dem ich am liebsten schreibe.« Doch ausgerechnet hier beabsichtigt in Aufruhr in der Rouergue nun ein Pariser Konzern, eine einstige Kupfermine wieder in Betrieb zu nehmen und alles zu verschandeln. »Die Rouergue habe ich gewählt, weil ich hier die Örtlichkeiten und Charaktere studieren konnte, das ist ein ganz eigener Kosmos, wie ihn Pariser kaum kennen. Es war damals die Zeit der großen Modernisierung des Landes, auf der einen Seite stand das neue, auf der anderen das alte, das folkloristische Frankreich. Das waren auf einmal zwei Welten, die sich gegenüberstanden und nichts miteinander anfangen konnten.«
Den Widerstand der Einheimischen zu brechen, hält man in der fernen Hauptstadt jedenfalls für kein großes Problem, hat die Rechnung aber ohne das »kleine Volk« gemacht, den Feen, Baumgeistern und Kobolden, die den geheimnisvollen Wald von Cassaniouze bevölkern. Und so entwickelt sich ein Klassenkampf, bei dem jede Partei ihre Waffen zückt: Der Konzern lässt die Gendarmerie auffahren, die Arbeiter streiken, das kleine Volk setzt auf seine altüberlieferten Possen – das gerät zusehends zur turbulenten Phantasmagorie mit einem Triumpf für die Alteingesessenen, ein Albtraum dagegen für die Industriemagnaten.
Fünf Wochen vor dem Start von Aufruhr in der Rouergue bereits war in Pilote Willkommen auf Alflolol angelaufen, das fünfte Valerian-Abenteuer. Und auch hier geht es um Widerstand gegen die Allmacht skrupelloser Konzerne, die die Ureinwohner Technorogs in Reservaten versklaven, damit sie die Ausbeutung ihres Planeten nicht behindern. Der Ton der Gegenwehr ist heiter und gelöst, schlussendlich scheitern die »Technokraten« an zivilem Ungehorsam und anarchischer Kreativität, ganz ähnlich wie der Pariser Konzern am kleinen Volk. »Phantasie an die Macht«, hatte ein Slogan des Pariser Mai gelautet; zugleich ist das Instrument der Phantastik aber auch ein Widerhall Edgar P. Jacobs‘, dessen Das gelbe M Christin als Kind stark beeindruckt hat.
Aufruhr in der Rouergue bleibt die einzige Zusammenarbeit mit Tardi: »Das hat nicht besonders funktioniert mit uns«, meint der später. »Ich stand ganz am Anfang als Zeichner und hatte nicht den Mut, auch mal zu sagen: ›Das sehe ich anders, das funktioniert so in meinen Augen nicht.‹ Wir sind recht unterschiedlich gestrickt, und ich bekam zu seinem Universum keinen Zugang, weil ich gerade damit beschäftigt war, mein eigenes zu entdecken: Christin interessierten aktuelle Phänomene, mich dagegen die Wurzeln unserer Gegenwart.« Und dennoch ist mit dieser Geschichte, die erst 1976 (und dann auch nicht bei Dargaud, sondern beim kleinen Verlag Futuropolis) als Album erscheint, ein bedeutender Grundstein gelegt nicht nur für Christins weiteren Weg, sondern für den französischen Comic schlechthin.
Die augenfälligste Novität für die bande dessinée, für die Politik bisher tabu war, ist das Aufgreifen aktueller Konflikte, eine Reflexion des Zeitgeistes und die Inszenierung dieses Reflexes in märchenhaft-phantastischem Genregewand. Goscinny lässt sich ein auf das Experiment, und Christin findet damit zu einer für seine Bedürfnisse idealen Erzählform. Sowie bald darauf auch den perfekten Partner, der Tardis Platz übernimmt und seine Visionen in stimmige Bilder umzusetzen vermag. »Es war gar nicht weiter schwierig, etwas Neues zu probieren, als ich als Szenarist zu arbeiten begonnen habe, weil zu dieser Zeit schlicht alles ging, weil man alles machen konnte«, erinnert sich Christin. »Es gab unzählige Genres zu entdecken, eine regelrechte Explosion unterschiedlichster Stile und dazu all die Themen, mit denen Comics sich noch nie befasst hatten. So war ich zum Beispiel einer der Ersten, die den inneren Monolog verwendet haben, eine Technik, die man von Filmen oder aus Romanen lange kannte, die im Comic bisher aber keine Rolle gespielt hatte.«
Den damals zweiundzwanzigjährigen Enki Bilal, aufgewachsen im Jugoslawien Titos und jetzt in Paris lebend, trifft Christin 1973 »bei einer Signierstunde mit Jean-Claude, zu der er als Leser von Valerian gekommen war. Ich kannte seine Zeichnungen, weil er einen von Pilote ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen hatte, und war beeindruckt von dem, was er machte. Wir setzten uns in ein Café, und zehn Minuten später hatten wir entschieden, ein Album zusammen zu machen.« »Wir verstanden uns sofort«, erinnert sich auch Bilal. Die Kreuzfahrt der Vergessenen erscheint 1975 direkt als Album; ein Vorabdruck in Pilote (das allein den neunseitigen, auch autark funktionierenden Prolog veröffentlicht, in dem Christin das Geschehen mit Aufruhr in der Rouergue dadurch verknüpft, dass er Szenen daraus zitiert) ist Goscinny doch zu riskant. Folgen werden, dann allerdings auch in Pilote, Das steinerne Schiff, Die Stadt, die es nicht gab, Der Schlaf der Vernunft und 1981/82 Treibjagd.
»Ich wollte Geschichten erzählen, die sich mit der Realität der Siebzigerjahre auseinandersetzen«, sagt Christin 1984 in einem Interview der Zeitschrift Solaris. »Allerdings kam diese Idee weder bei den Redakteuren noch bei den jungen Zeichnern besonders gut an. Damals ging es vor allem darum, neue grafische Freiheiten und Möglichkeiten zu erproben, um visuelles Feuerwerk. Also benutzte ich Phantasmagorien, Elemente der Fantasy, um die Geschichten sowohl für Enki – und vorher Tardi – wie auch für Pilote attraktiver zu machen, ›visueller‹. Enki kam das sehr entgegen, und er hat sich schnell in eine Richtung entwickelt, die ganz meinen Intentionen entsprach. Diese Phantastik ist jedoch etwas anderes als das, was ich mit Mézières mache. Das war von Anfang an ganz klar Science-Fiction, in den Alben mit Bilal geht es um unsere Gegenwart.«
Ebenfalls neu für die Gattung ist vor allem aber die Entdeckung des Konzepts albumlanger Comics ohne die Intention der Fortsetzung, ohne Potenzial dafür. Christin zählt damit zu den Pionieren und Wegbereitern einer Erzählform, die man heute Graphic Novel nennt, und deren Beginn gewöhnlich mit Will Eisners Ein Vertrag mit Gott (1978) gesetzt wird. (Ein weiterer europäischer Vorreiter ist Hugo Pratt mit der 1967 in Italien begonnenen Südseeballade, die 1975 auch, zeitgleich mit Die Kreuzfahrt der Vergessenen, in Frankreich erscheint.)
Anders als Eisner geht es Christin nicht wesentlich auch um die Aufwertung oder Rehabilitierung der Gattung, die ebenfalls in Frankreich bislang allein »pour la jeunesse« gedacht war. Doch ist die bande dessinée soeben dabei, sich ganz neu zu erfinden und ein neues Publikum anzusprechen, damit ist Eisners Kampf in Frankreich bereits ausgefochten. Christin will in diesem Klima Strömungen der Gegenwart aufgreifen, sich auseinandersetzen mit, um es mit Eisners Worten zu sagen, »relevant subjects«. Sein Ansatz ist ein eher journalistischer als wie bei Eisner ein literarischer. Bei Pilote hat er mit Kurzgeschichten begonnen, kleinen Kommentaren oder Ideen, wie sie auch Journalisten verfassen, geschrieben, erschienen, erledigt. Dieses Verfahren auf Albumlänge zu erweitern ist ein nur logischer Schritt und erlaubt ihm fortan ein komplexeres Entfalten seiner Themen.
Die nouvelle gerät damit für Christin allerdings nicht aus dem Blick. »Jede Geschichte braucht die passende Form, und ich schreibe längere Geschichten keineswegs lieber als kurze.« Im Sommer 1976 erscheint mit L‘Homme à la main verte die erste einer Reihe von Short Storys in Pilote, die Patrick Lesueur in einem dichten, vor Details berstenden Stil umsetzt, der Elemente von Philippe Caza ebenso in sich trägt wie von Rand Holmes. Abermals reist Christin in die Zukunft, in eine völlig andere jedoch als an der Seite von Mézières: »Zu einer Zeit, die von der unsrigen vielleicht gar nicht so weit entfernt ist, ist die Oberfläche der Erde und auch die des Meeres restlos von Beton und Eisen überzogen …«, beginnt die erste Story und taucht sogleich ein in eine fabrikschlotgraue Dystopie, an deren Ende jedoch aus den Ruinen der untergegangenen Menschheit wieder Grünes sprießt. Auch die folgenden Geschichten (als Album unter dem Titel En attendant le printemps, in Erwartung des Frühlings, 1978 in der Collection Pilote) eröffnen mit dem Satz »Zu einer Zeit, die …« und kreisen, als verseuchte Flüsse und saurerer Regen langsam ins öffentliche Bewusstsein dringen, ebenfalls um ökologische Probleme. Auch mit Lesueur wird Christin später noch ein weiteres Projekt realisieren, erst Ende der Neunzigerjahre jedoch und dann in einem gänzlich anderen Format.
Obgleich 1975 als Jahr des Umbruchs gilt, vor allem durch den Start von Métal Hurlant, ist die bande dessinée weiterhin in erster Linie ein Seriengeschäft. Dargaud kreiert somit auch für die Alben Christins und Bilals eine Reihe: Légendes d’aujourd’hui, heutige Legenden. Spätestens damit ist die weitere Zusammenarbeit besiegelt, einschließlich ihrer künftigen Ausrichtung, und bereits 1979 sorgt Der Schlaf der Vernunft für Aufsehen auch außerhalb der Comic-Welt: Bilal und Christin werden in die berühmte Literatursendung Apostrophes von Bernard Pivot eingeladen, und in der Lire-Liste der besten Bücher des Jahres 1980 belegt das Album Platz elf. Das ist Premiere für eine Comic-Veröffentlichung auch in Frankreich, ein Signal für die Anerkennung der Gattung und ihrer aktuellen Entwicklung.
Mit Bilal erzählt Christin vom Heute, mit Mézières von der Zukunft, fehlt noch das Vergangene, l’histoire. Je deutlicher er das »typische Frankreich« vor seinen Augen entschwinden sieht, desto mehr drängt sich für Christin die Geschichte in den Vordergrund. Und schon bald findet sich auch dafür eine junge Künstlerin, mit der schlussendlich fünfzehn Alben entstehen: Mit Das Fräulein von der Ehrenlegion läuft 1979 in Pilote seine erste »Graphic Novel« an, die Annie Goetzinger in Szene setzt, und die er mit dem Erinnern eröffnet. »Meine Erinnerungen«, so der erste Satz, »meine eigentlichen Erinnerungen als Frau, beginnen – so scheint es mir – vor dieser Tür, der Eingangstür zum Mädchen-Erziehungsheim der Ehrenlegion.« Mit Die Diva (über das Verhör einer Operndiva durch die Résistance sowie die Frage der Verantwortung für das eigene Tun) folgt 1981 eine zweite in der Nachkriegszeit angesiedelte Erzählung und ein erzählerischer Glanzpunkt bereits der neuen Kooperation.
»Ihre ersten Arbeiten habe ich in Pilote gesehen und dann ihr Album Goldlöckchen nach eigenem Szenario gelesen«, erinnert sich Christin. »Ihr Stil hat mich sofort eingefangen, weil er so einzigartig ist. Er ist von einer Sensibilität und atmet etwas, ich will nicht sagen feministisches, doch feminines, etwas persönliches, wie es der Comic bis dato nicht kannte. Damals lebte sie mit Victor Mora in Barcelona, was natürlich eine etwas prekäre Situation war, da Victor für Annie gerade Felina geschrieben hatte. Dennoch aber waren wir bis zu seinem Tod [2016] beste Freunde. Da ich für Pilote schon Valerian sowie für Enki und weitere Zeichner schrieb, haben wir unser erstes Projekt zunächst (À Suivre) angeboten, das Casterman gerade lanciert hatte, und das eine eher literarische Ausrichtung hatte, die unserer Meinung nach gut zu unserer Geschichte passte. Die Gespräche zogen sich eine Weile hin, bis sich herausstellte, dass in dem Magazin in absehbarer Zeit gar kein Platz sein würde. Also wurde es doch Pilote, was im Nachhinein nur gut war, da Guy Vidal, Goscinnys Nachfolger als Chefredakteur, bald zu einem sehr wichtigen Freund für uns wurde, mit dem wir hervorragend zusammenarbeiten konnten. Eigentlich müsste man sagen, dass nicht Dargaud mein Verleger war, sondern er.«
Lässt Christin seiner Phantasie in der Zusammenarbeit mit Bilal freien Lauf, steht hier akribische Recherche im Vordergrund, nicht allein von Fakten und Hintergründen, sondern vor allem der Atmosphäre einer geschilderten Epoche, von Typischem. Und immer steht, wie ein roter Faden, im Mittelpunkt eine Frau, die mit ihren Verhältnissen hadert, auch das zu dieser Zeit noch eine Besonderheit. Der akribische Realismus erscheint beinahe wie ein Gegenpol der Phantastik, die Christins Arbeit bisher vor allem bestimmt hat; Dargaud publiziert die Alben unter dem Reihentitel Portraits souvenirs (etwa »erinnernde Porträts«; anders als bei den Legendes erscheinen hier später auch Einzelbände anderer Zeichner).
Ende der Siebziger schreibt Christin die Szenarios für drei der wichtigsten, höchst eigenständigen und im Ausdruck divergenten Künstler in Pilote. »Das bedeutet vor jeder Zusammenarbeit eine völlige Umstellung. Jeder Zeichner formt auf seine Weise die Geschichten mit und bestimmt deren Aussehen durch seine künstlerische Persönlichkeit. Enki hat an meinen Texten nie auch nur ein Komma geändert, findet aber seine individuelle Umsetzung, am Ende ist das Album ein ›Bilal-Produkt‹. Jean-Claude hingegen muss zuerst zerstören, um etwas zu erschaffen. Er zerlegt alles, was ich schreibe, in seine Einzelteile, um sich die Geschichte anzueignen, sie aufzusaugen. Und er ist der Einzige, der mich immer wieder bittet, etwas zu ändern, damit er zu dem kommt, was er gerne zeichnen möchte. Ganz anders mit Annie. Wir sind uns politisch und intellektuell sehr nahe.« Christin hat ein ausgezeichnetes Gespür für das Potenzial und die Möglichkeiten seines jeweiligen Partners und versteht es meisterhaft, sich auf dessen Stil einzustellen, auch das ein Markenzeichen seines Erfolges.
Er profiliert sich aber nicht allein als einer der produktivsten und erfolgreichsten Szenaristen in diesen Jahren, sondern wagt erste Schritte auch als Romancier. 1976 legt er bei Robert Lafont eine Anthologie mit utopischen Kurzgeschichten vor, die die Kritik vergleicht mit Samuel R. Delany, Arthur C. Clarke oder John Brunner. Drei Jahre darauf folgt eine zweite: Le Futur est en marche arrière (Die Zukunft hinkt hinterher) erscheint mit einem Cover von Mézières und Illustrationen von Tardi, Bilal, Annie Goetzinger, Patrick Lesueur und Jean Vern; Christin verknüpft so auch seine belletristische Arbeit mit der Kunst der Comics, und beinahe lesen sich die Storys wie ein Bindeglied zwischen den Welten, die er für Mézières und Bilal geschaffen hat. Sie projizieren aktuelle Fragen in eine ferne Zukunft, wobei vor allem ökologische Probleme im Vordergrund stehen.
Was sind für ihn die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Erzählformen? »Das ist für mich ganz eindeutig«, sagt Christin. »Eine gute Idee für einen Roman oder eine Novelle ist in der Regel eine schlechte Idee für einen Comic. Was mich betrifft, so hatte ich wohl nie ein Projekt, das auf die eine oder die andere Weise funktioniert hätte. Ein Comic-Script ist dazu da, visualisiert zu werden, die Leute wollen etwas sehen, während ein belletristisches Werk im Inneren des Lesers Gestalt annimmt. Als Romancier arbeitet man allein, ein Comic-Autor zu sein, bedeutet letztlich auch zu akzeptieren, dass in deinem Kopf immer noch jemand anderes wohnt.«
»Erneuerung unseres Vorrats an Bildern«
1981 veröffentlicht Christin seinen ersten Roman, Zac (abermals mit einem Cover von Mézières), in dem er sich mit der rasanten Veränderung der Pariser Vororte durch überall plötzlich aus dem Boden schießende Hochhauskomplexe und Industrieanlagen auseinandersetzt. »Es geht um ein urbanes Thema«, sagt er, »und ich habe den Roman als Form gewählt, weil ich nicht wüsste, wie ich das als Comic erzählen sollte. Manchmal beschäftigen mich Themen, für die sich das Medium nicht eignet, dann wird es ein Roman.« Für die bande dessinée ist die Arbeitsteilung zwischen Autor und Zeichner längst Normalität geworden und überwiegt sogar inzwischen, auch wenn »texte de« nach wie vor Usus ist. Doch wo die Arbeit des einen aufhört und die des anderen beginnt, ist keine leichte Frage: Die Zusammenarbeit lässt sich von Fall zu Fall höchst unterschiedlich arrangieren und hängt ab von persönlichen Präferenzen wie Fähigkeiten, das Spektrum der verschiedenen Möglichkeiten der Kollaboration hat Christin anschaulich umrissen.
Der Autor liefert den Plot und ein »Drehbuch« mit Szenen und Dialogen, das der Zeichner im Idealfall nicht »illustriert«, eins zu eins umsetzt, sondern in ein Werk verwandelt, in dem vor allem das Bild erzählt. Und das er durch seine Imagination, seinen Strich, durch Perspektive, Seitenarchitektur und andere Stilmittel überhaupt erst zum Leben erweckt. Viele Künstler vermögen selbst zu schreiben und sind ihre eigenen Szenaristen, »auteurs complets«, andere reine Bildartisten, dann bedarf es der Kraft der Autoren, damit das Produkt am Ende lesenswert ist und funktioniert. Der Autor ist zuständig, dass die Erzählung trägt und überzeugt, der Zeichner gibt ihr das Gesicht und verleiht ihr ihren Fluss. Und da der Comic eine hybride Gattung ist, ein Zwitter, liegt im Zusammenspiel beider Komponenten seine wahre Kunst.
Anfang der Achtziger hat die Arbeit mit Annie Goetzinger soeben begonnen, als die mit Enki Bilal nach sieben Jahren und fünf »Legenden« bereits ihr Ende findet. Dabei stehen sie gerade auf dem Höhepunkt ihres Erfolges. In Treibjagd verschmelzen Bilals Bilder förmlich mit dem Geschehen und sind von geradezu bannender Kraft und Eindringlichkeit, und mit seiner Geschichte erfasst Christin eine Stimmung, die zehn Jahre vor der Implosion der Sowjetunion bereits in der Luft schwingt: An der Danziger Lenin-Werft ist soeben unter Führung Lech Wałęsas die Solidarność gegründet worden, der Anfang vom Untergang der Volksrepublik Polen. In allen Zeitungen von Paris-Match bis Le Monde erscheinen hymnische Kritiken, das Album erreicht ein ganz neues Publikum, das Comics sonst nicht (mehr) liest.
1980 schon hatte Bilal allerdings im Alleingang auch Die Geschäfte der Unsterblichen veröffentlicht, künftig will er seine eigenen Territorien erkunden anstatt sich auseinanderzusetzen mit zeitaktuellen Reflexionen. Die Freunde beenden ihre Zusammenarbeit (regelmäßig Tennis spielen sie aber weiterhin), und Bilal widmet sich in der Folge ganz der Fortsetzung seiner Nikopol-Trilogie sowie im Anschluss weiteren dystopischen Zyklen. Für Christin ein herber Schlag, gerade angesichts der jetzigen Resonanz. Als Künstler wird Bilal in den nächsten Jahren stürmische Erfolge feiern, erzählerisch hingegen vermögen ihm inzwischen selbst gutmütige Leser kaum noch zu folgen. Dass die »Legenden« gerade nach Treibjagd keine Fortsetzung fanden, auf die man wahrlich hätte gespannt sein dürfen, ist für den Kosmos der Bücher ein mindestens ebenso tragischer Unglücksfall wie die fehlenden Bände der Millennium-Reihe von Stieg Larsson.
Der Krimi, den er mit der Série Noire einst in dem kleinen Buchladen in der rue de la République entdeckt hatte, steht für Christin noch aus. Aber dann kommt es zur Zusammenarbeit mit dem 1954 in Vietnam geborenen Bernard Puchulu, der bislang noch keinen Comic vorzuweisen hat. Das Ergebnis ist 1984 Der Rächer und sein Doppelgänger, ein atmosphärisch düsterer, durch Anatolien, Albanien, Montenegro, Budapest, Wien und Berlin führender Nachkriegsthriller. Es ist nicht das erste Mal, dass Christin sich einem Newcomer anvertraut, was von seinem Gespür für das Potenzial junger Zeichner zeugt, die noch ganz am Anfang stehen. Dennoch bleibt es bei zwei Bänden (bei Dargaud seltsamerweise in der Reihe Portraits souvenirs): »Puchulu hat seine grafischen Qualitäten, aber er ist auch der einzige Zeichner, mit dem ich mich ernsthaft zerstritten habe«.
Mit Jacques-Henri Tournadre erscheint zur gleichen Zeit Un cercle magique (Ein magischer Kreis) – diesmal ein Krimi aus der Pariser Verlagswelt, es geht um die in Bedrängnis geratenen Éditions Garcin in Paris, »vor dem Krieg ein sehr berühmtes Verlagshaus«. Fortan zählt das Genre zu Christins regelmäßigem Repertoire, dessen Regeln er allerdings in jedem Fall neu definiert: Nochmals mit Tournadre etwa wird (zeitgleich interessanterweise mit Largo Winch) ein Finanzthriller folgen, mit Jean Vern eine Krimikomödie und mit Philippe Aymond ein phantastischer Thriller um zwei junge Journalistinnen in Jerusalem und Paris und Fragen auch der Architektur. Sowie mit Annie Goetzinger dann Agence Hardy.
Auch mit Enki Bilal war Christin bereits on the road, in Spanien auf der Suche nach den Schauplätzen für Der Schlaf der Vernunft. 1983 folgt eine weitere gemeinsame Reise, diesmal an die amerikanische Westküste, um doch noch ein Projekt in Angriff zu nehmen, das Christin sehr am Herzen liegt und mit dem er abermals etwas Neues plant. Los Angeles. Der vergessene Stern der Laurie Bloom wird kein Comic, sondern vielmehr eine ganz neuartige Form von Bilderzählung, in der unterschiedlichste Ingredienzen miteinander verschmelzen: Unter dem Vorwand einer mysteriösen Suche fügen sich Fotos, Farben, Zeichnungen und Schriften, Bericht, Notiz und Prosa patchworkartig zusammen zu einer fiktionalen Reportage – die vom Leben abseits von Walk-of-Fame-Glamour und Scheinwerferlicht handelt, vom abgehängten Amerika und von Orten, die Touristen lieber meiden.
»Enki hat es nicht übermäßig viel Zeit gekostet, die Fotos, die er in L.A. geschossen hat, farbig zu übermalen«, so Christin. »Und so haben wir dieses Album doch noch zusammen machen können, obwohl er sich ganz seinem Nikopol widmen wollte. Die Idee dazu hatte ihren Anfang nach meiner Osteuropareise mit Jean-Claude genommen. Ich habe eine Menge recherchiert damals, hatte allerdings nicht die geringste Ahnung, was ich mit dem Material anfangen sollte. Wir veröffentlichten eine kleine Reportage in Pilote, und ich weiß noch genau, wie ich kurz darauf in Goscinnys Vorzimmer [Jean-Marc] Reiser traf, der mir sagte, das sei für ihn die beste, aufrichtigste und informativste Geschichte gewesen, die er je über die kommunistischen Länder gelesen habe, und wie sehr ihm mein Text gefallen hätte. Langsam reifte der Gedanke heran, dass es dafür ein eigenes Format, eine neue Form geben müsste.«
Bei Dargaud allerdings passt das nicht ins Programm und so erscheint Los Angeles bei dem belletristischen Verlag Autrement, wo 1987 auch der ähnlich konzipierte Band Lady Polaris folgt, dann in Zusammenarbeit mit Mézières. Auf Mézières‘ Bildern sind es die Urheber höchstselbst, die sich auf die Suche nach Überlebenden eines mysteriösen Schiffsunglücks machen: Er und Christin haben sämtliche Hafenstädte in Europa, in denen sich »Spuren« finden, bereist, vor Ort Erkundigungen eingezogen, fotografiert, und präsentieren sich dem Leser als die Autoren bei der Recherche ihres Stoffes. Sie werden zu Hauptfiguren ihrer eigenen Erzählung.
1988 dann ein dritter Band, abermals mit von Bilal künstlerisch verfremdeten Fotos: Vergessene Augenblicke (im Original mit dem an Christins Doktorarbeit erinnernden Titel Cœurs sanglants et autres faits divers) versammelt Beobachtetes und Phantasiertes, Zufälliges und nur durch ein Geheimnis zu einer »Geschichte« verflochtene Eindrücke von Reisen nach New York, Kairo, Belgrad oder Lissabon. Zehn Jahre, bevor sich mit Joe Saccos Palästina der Comic-Journalismus als Genre zu formen beginnt, setzt auch Christin bereits erste Schritte in diese Richtung und verknüpft seine Leidenschaft für die Reportage im Stil des New Journalism, wie er mit Tom Wolfe oder Norman Mailer in den Sechzigern in den USA aufgekommen war, mit der Ästhetik des Comics.
»Ich arbeite dabei immer auf die gleiche Weise«, sagt er. »Wenn sich in meinem Kopf eine vage Idee formt, fange ich an, Informationen zu speichern, und warte ab, was passiert. Ich bin jemand, der sich gerne dokumentarisch vorbereitet. Für Der Sarcophag [2000] habe ich zehn Jahre Material gesammelt, bevor ich nach Tschernobyl gefahren bin. Wenn ich mir ein Bild von einer fremden Stadt machen will, dann laufe ich durch die Straßen, fahre mit dem Bus, Fahrrad oder Rikscha und meide vor allem Plätze, an denen Touristen herumrennen: Steht ein Ort in einem Reiseführer, ist er für mich ohne Interesse. Als ich das erste Mal in Moskau war, bin ich die Metro, die am weitesten aus der Stadt führte, bis zur Endstation gefahren und von da aus zurückgelaufen. Ich konsultiere nie Reiseführer, allein Stadtpläne und Landkarten – die liebe ich sogar regelrecht.« Der einzige Ort, an dem er je mit einem Führer unterwegs war, sagt Christin und grinst, sei Tschernobyl gewesen: »Orte, an denen sich große Dramen abgespielt haben, haben auf mich immer schon eine spezielle Anziehungskraft gehabt.«
Mitte der Achtziger fliegt er mit Annie Goetzinger nach Buenos Aires, wo sie den Grundstein legen für Le Tango du disparu (Der Tango des Verschwundenen), eine hundertfünfzigseitige Novelle in elf Kapiteln über das Argentinien in den finsteren Jahren der Militärdiktatur, über Bars, die Straßen und Plätze und vor allem den Tango. Jeweils zur Hälfte Bleistiftzeichnungen wie Texterzählung, erscheint der Band 1989 als »roman bd« bei dem renommierten literarischen Verlag Flammarion. Prosatexte und Bilder, räumlich getrennt, doch eng miteinander kommunizierend – Christin hat sich damit abermals eine neue Art und Weise des Erzählens erschlossen (für die ihm 1997, dann bei Dargaud, sogar eine eigene Reihe eingerichtet werden wird). Es ist eine Form, die ihm als Autor zudem eine deutlichere Kontur verleiht.
In diesen Jahren gleicht seine Arbeit selbst einem Patchwork. Parallel zu Valerian, dessen Alben inzwischen mit einer Startauflage von hunderttausend Exemplaren gedruckt werden und als Übersetzungen in Deutschland, Holland, Italien, Spanien und in den skandinavischen Ländern erscheinen, sowie den Portraits souvenirs macht er sich an unterschiedlichste Themen und Formate. Eine neuartige Liaison von Text und Bild hatte er schon 1981 mit Paris sera toujours Paris (?) (Bleibt Paris immer noch Paris?) erprobt. Über jedes der zwanzig Arrondissements schrieb er ein kurzes Poem zu dessen Veränderung und Wandel – die ersten Anzeichen einer Entwicklung, die man heute Gentrifizierung nennt –, die zwanzig Zeichner zu doppelseitigen Comics inspirierten: eine spezielle Form der Kommunikation zwischen Autor und Zeichner, die illustriert, dass Christin sich nie zurücklehnt und mit Erreichtem zufrieden gibt, einfach weiter »seine Schiene fährt«, sondern ständig auf der Suche ist nach neuen Wegen und Herausforderungen. Ein weiteres Projekt, das er 1989 mit Mézières entwickelt, ist Canal Choc, eine Nachwuchsförderung unter ihrer Schirmherrschaft. Die Idee macht zwar nicht Schule, doch gehen daraus vier Alben hervor, in denen der noch junge Philippe Aymond seine beachtliche visuelle Ausdruckskraft entwickelt: Gemeinsam mit Christin folgen später weitere Alben, zuletzt dessen Autobiografie.
Zum ersten Mal hat er auch Berührung mit dem Film. Anfang 1986 soll er das geplatzte Drehbuch für Peter Fleischmanns Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein retten, die Verfilmung des utopischen Romans von Boris und Arkadi Strugazki aus dem Jahre 1964, doch die Zusammenarbeit verläuft unerquicklich. »Als ich in München ankam, fand ich das Script in einem furchtbaren Zustand vor, und die Arbeit lief leider nicht minder chaotisch ab. Ich mochte die bisherigen Filme von Fleischmann, aber in einer solchen Situation ließ sich nicht vorankommen, und da ich auch noch an anderen Projekten arbeitete, bin ich nach einigen Wochen ausgestiegen.« 1990 wird der Film, als er endlich fertig ist, auf dem Festival des phantastischen Films im katalanischen Sitges für das beste Drehbuch ausgezeichnet, Christin ist in den Credits nicht erwähnt. (Die Internet Movie Database hingegen weist ihn neben Jean-Claude Carrière und Fleischmann selbst als Drehbuchautor aus.)
Schon im Jahr davor war Bunker Palace Hôtel herausgekommen, der erste Kinofilm von Enki Bilal, zu dem Christin nach dessen Idee das Drehbuch geschrieben hat: So finden die Freunde auch beruflich wieder zusammen. Zudem verfasst Christin für das Théâtre de la Tête Noire zur gleichen Zeit das Theaterstück Ce soir on raccourcit, das zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution in Avignon uraufgeführt wird. (Später wird er dann auch noch das Libretto einer Oper schreiben.)
Das Jahrzehnt endet mit dem Mauerfall und der Anthologie Durchbruch, deren Herausgeber Christin (zusammen mit dem Autor dieses Textes) ist, und die in knappen Beiträgen eine unmittelbare Reaktion von dreißig Comic-Künstlern aus elf Ländern auf den historischen Moment versammelt. Darunter internationale Stars wie Bilal, Mézières, Tardi und Mœbius, Neil Gaiman, Dave McKean, Milo Manara oder Miguelanxo Prado sowie etliche Zeichner auch aus Osteuropa. Das Album erscheint vier Monate nach dem Mauerfall zeitgleich in zwölf Sprachen und erhält 1990 im italienischen Lucca den Targa Oesterheld für die beste internationale Veröffentlichung.
Die Intention hat Christin in seiner Einleitung umrissen: »Die verblichenen roten Sterne, die rituellen proletarischen Spruchbänder, die idealisierten Porträts der Machthaber, die grob retuschierten Fotos, die plump-symbolischen gusseisernen Standbilder, kurzum die Objekte des marxistischen Personenkults, plötzlich ihres sakralen Charakters beraubt, verschwinden wie durch Zauberei oder, besser gesagt, sind der Zerstörung, der Zersplitterung preisgegeben, wie etwa die Graffiti an der Berliner Mauer. Und wodurch werden sie nun ersetzt, diese verschwundenen Bilder? Einzig durch die Nacktheit der Fernsehbilder, die tagtäglich eine Welt bloßlegen, die selbst bis auf die Knochen nackt ist, unbekannte Gesichter in Großaufnahme, ebenso kurz wie vergänglich, die, kaum gezeigt, schon wieder überholt sind? Darum dieses Buch. Bilder wurden gestürzt, neue werden geboren. Und alle bildenden Künstler können, ja müssen an dieser dringend notwendigen Erneuerung unseres Vorrats an Bildern mitwirken.«
In diesen Worten scheint der Respekt auf, den Christin der Bildkunst zollt, eine Liebe, die wohl mit Angelo Di Marco und Jacobs im Friseurgeschäft seines Vaters begann. Bilder ziehen ihn magisch an, vielleicht, weil er seit der Kindheit schwerhörig ist (und bei einer Operation sein Gehör beinahe sogar vollständig verloren hätte – die Brille auf der Stirn, längst wie ein Markenzeichen, ist tatsächlich ein Hörgerät). »Ich kann mich stundenlang voller Bewunderung in Bilder vertiefen, und das war schon so, lange bevor ich den Comic entdeckte. Besonders liebe ich narrative naturalistische Malerei, den geheimnisvollen Vermeer oder die Präzision eines Pieter de Hooch, so etwas macht mich schier sprachlos. Auch die flämischen Maler und die spanischen natürlich, Goya und Velasquez. Norman Rockwell oder Edward Hopper … Später entdeckte ich William Hogarth, der für mich tatsächlich ein Wegbereiter des Comics ist. Wie auch in Japan Hiroshige mit seinen ›Bildern der fließenden Welt‹.«
Immer wieder spiegelt sich diese Bewunderung auch in Christins Arbeit als Szenarist, schon im ersten Valerian-Band Die Stadt der tosenden Wasser, bei dem die Inspiration für das verwaiste New York Hubert Roberts Ruinenbilder waren. Oder erzählerisch in La Maison du temps qui passe, 1985 mit Jean Vern, in dem es um Vergangenheiten geht, die in Gemälden festgehalten sind. Oft spielen in seinen Alben, achtet man nur darauf, am Rande Bilder, Fotos oder Zeichnungen eine Rolle.
»Zeichnungen sind eine Interpretation des Geschriebenen«
In den Neunzigerjahren verändert sich der franko-belgische Comic-Markt abermals drastisch, nach dem hoffnungsfreudigen Aufbruch der Siebziger ist es diesmal allerdings ein eher apokalyptisches Szenario. Bereits im November 1989 wurde Pilote mangels Lesern eingestellt, auch Métal Hurlant ist, zwei Jahre vorher schon, verschwunden, andere revues folgen, die so kreative Ära der Comic-Magazine neigt sich unaufhaltsam ihrem Ende zu. »Der Hauptgrund dafür war der wachsende Erfolg der Alben in den Achtzigern«, sagt Christin. »Die wurden zunehmend zur Konkurrenz für die Magazine und haben ihnen letztendlich das Wasser abgegraben. Auf einmal wollten die Leute nicht mehr den ganzen Rest mit kaufen, wenn sie nur bestimmte Sachen in einem Heft interessierten. Und sie wollten auch nicht mehr ein halbes Jahr von Fortsetzung zu Fortsetzung warten, bis sie eine Geschichte endlich komplett lesen konnten. Das wirklich Schlimme am Niedergang und Ende der Magazine war, dass von nun an jeder für sich allein war. Die Redaktionen, in denen man zu Hause war und Kontakte knüpfte, die Zeitschriften, die Freiräume auch für Neues boten und als Bewährungsprobe angehender Zeichner dienten, all das fehlte auf einmal und fehlt bis heute.«
Zur gleichen Zeit kauft die von dem reaktionär-katholischen Politiker Rémy Montagne 1986 gegründete Investmentfirma Média-Participations in Frankreich und Belgien der Reihe nach Comic-Verlage auf, zunächst klerikal ausgerichtete Häuser wie Fleurus, dann folgen die Éditions du Lombard und 1988 auch Dargaud. Da man Zeichner wie Enki Bilal, Annie Goetzinger, Philippe Druillet oder Max Cabanes ideologisch und moralisch für nicht vertretbar hält, werden sie kurzerhand abgestoßen und als Paket an den Verlag Humanoïdes Associés veräußert, den der Schweizer Finanzjongleur Fabrice Giger soeben übernommen hat. Valerian hingegen hält man für eben noch »kindgerecht« und setzt die Serie fort. »Das waren Leute, denen Opus-Dei-Verbindungen nachgesagt werden, und die nicht die geringste Ahnung vom Comic-Business hatten«, sagt Christin. »Die haben uns und unsere Alben gehasst. Doch als sie schließlich merkten, dass sie ihre besten Zeichner und Autoren verloren hatten und Dargaud kein vernünftiges Programm mehr hatte, kauften sie uns, als Humanos mehr und mehr in die Schieflage geriet, zurück – Geld kommt eben immer vor der Moral. Vom einstigen Katholizismus ist seitdem nichts mehr zu spüren und Dargaud ist wieder ein ganz normaler Verlag.« Heute ist Média-Participations einer der mächtigsten Verlagskonzerne in Frankreich und bestreitet ein Drittel des gesamten Comic-Umsatzes.
Anfang der Neunziger erlebt die französischsprachige Comic-Welt ihre bislang schwerste Krise, denn wegen der steigenden Zahl neuer Titel beginnen nun auch die Albumauflagen zu bröckeln; zudem fordern das Privatfernsehen und darüber hinaus bald digitale Unterhaltungsangebote ihren Tribut. »Wir waren davon weniger betroffen«, so Christin. »Doch für die meisten Zeichner und Autoren hat sich die Situation damit dramatisch verschlechtert, zumal sie ohne Magazine nun allein von den Alben leben müssen«. Aber auch Neues gedeiht; im Mai 1990 gründen Lewis Trondheim, David B. und andere junge Künstler in Paris den Verlag L’Association, der zum Wegbereiter einer bisher unüblichen Form des »roman bd« werden wird und in Frankreich neben dem Album als bisher obligatorischem Comic-Format das Buch etabliert, die »Graphic Novel«.
Christin allerdings bleibt bei Erzählungen im klassischen Albumformat. Bei Valerian ergibt sich ab 1990 eine ungewohnte Unterbrechung, als von Lebende Waffen bis zum Erscheinen von Die Kreise der Macht fast vier Jahre verstreichen: Mézières ist seit 1992 vollauf damit beschäftigt, das visuelle Universum für Luc Bessons Das fünfte Element zu entwickeln, für die Raum-Zeit-Agenten verbleibt da nicht allzu viel Zeit. Wie als Überbrückung müssen sich die Leser zwischenzeitlich mit Die Bewohner des Himmels (1991, ein weiterer Band folgt 2000) begnügen, einer Art intergalaktischer Enzyklopädie.
Christin schreibt in dieser Zeit für Daniel Ceppi, der in seiner Serie Unterwegs das Reisen gleichermaßen zelebriert wie er selbst es gerne tut, die Polit-Fiktion La Nuit des clandestins (Die Nacht der Einwanderer), heute aktueller als bei ihrem Erscheinen 1992. Es geht um die Nacht, in der die Vorhersage der Geopolitikerin Irène Swallow eintrifft, dass sich überall auf der Welt Verfolgte, Entrechtete und Vergessene auf den Weg nach Frankreich machen, um ihre Rechte einzuklagen – eine vielleicht ja naive Utopie, der Christin allerdings ein ebenso spannendes wie dichtes Szenario abgewinnt, das Ceppi gekonnt umsetzt.
Neben dem herkömmlichen Comic erprobt Christin weiter auch Variationen der fiktiven Reportage. L’Homme qui fait le tour du monde (Der Mann, der die Weltreise machte) entsteht 1994 mit Philippe Aymond und Max Cabanes und führt unter anderem nach Bombay, Bangkok, Hongkong und Tokio, abermals in der Technik des bereits mit Bilal und Mézières erprobten Erzähl-Patchworks: Nach den Vororten von Los Angeles war es durch die großen Hafenstädte Europas gegangen, nun also quer über die Kontinente. Wieder dient eine mysteriöse Suche (nach einem verschollenen Multimilliardär) als Vorwand für Dynamik, elegant changieren die einzelnen Episoden zwischen illustrierter Prosaerzählung, kurzen Comic-Episoden sowie »Dokumenten« wie Zeitungsausschnitten oder Briefen, ein buntes wie facettenreiches Sammelsurium flüchtiger Petitessen, wie ein Museum der Alltäglichkeiten, des Atems unserer Zeit, verbunden einzig durch einen unsichtbaren Faden, die Reise des Erzählers.
Darüber hinaus folgen in den Neunzigern mit Die Frau des Sultans (1996) und Paquebot (1999) zwei abermals höchst eindringliche »Portraits« mit Annie Goetzinger, und gegen Ende des Jahrzehnts intensiviert sich auch die Zusammenarbeit mit Philippe Aymond: 1997 erscheint ihr erstes gemeinsames Album Les Voleurs de villes (Die Städte-Diebe), im gleichen Jahr noch startet zudem die Serie Les 4×4. Und es entstehen zwei neue Romane; in Rendez-vous en ville (1993) beschäftigt er sich wie schon in Paris sera toujours Paris (?) zwölf Jahre zuvor abermals mit der rasanten Veränderung von Paris und des savoir vivre.
Christin ist weiterhin regelmäßig in Bordeaux, wo er Vorlesungen hält und »seine« Hochschule für Journalismus noch bis 2003 leiten wird. Manchmal reist er mit seinen Studenten in Städte wie Hamburg oder Barcelona, im Anschluss wird eine Zeitung mit vor Ort recherchierten Artikeln produziert. Er selbst schreibt nach wie vor am liebsten in seinem Landhaus in Aveyron, und in Paris hat er ein kleines Büro am Boulevard Raspail, rive gauche natürlich, inmitten von Cafés wie der Closerie des Lilas oder La Coupole (Orte, die er lange schon meidet: »Ah, nur Touristen!«), in denen Hemingway, Henry Miller, Sartre oder André Gide Stammgäste waren, einst der intellektuelle Mittelpunkt Europas.
1997 wartet Christin mit einer erneuten Zusammenarbeit mit Patrick Lesueur auf. Les belles Cubaines, so der Titel des Bandes im extravaganten Querformat, mit Leinenrücken und literarisch anmutendem Cover – die schönen Kubanerinnen, womit hier allerdings die amerikanischen Oldtimer gemeint sind, die Kubas Straßenbild bestimmen und Havanna zum schönsten Automobilmuseum der Welt machen: Gespeist von seinen Eindrücken und Recherchen beleuchtet Christin Alltagsdetails, die einem flüchtigen Blick entgehen, erzählt Anekdotenhaftes und von Begebenheiten, die sich mit den großflächigen Illustrationen Lesueurs – selbst ein Autonarr und Verfasser mehrerer Bücher über sein plaisir – zu einem dichten Stimmungsbild vereinen, zur hitzeflimmernden Atmosphäre.
Die»belles Cubaines« sind der Auftakt nur zu einer eigenen Reihe im Verlag Dargaud, Les Correspondances de Pierre Christin, deren Bände nach seinem bevorzugten Arbeitsprinzip entstehen: Er beginnt mit einer Reise, der Recherche vor Ort, wobei die Orte selbst das Thema sind oder charakteristische Aspekte. Sechs weitere Titel folgen, mit Jacques Ferrandez etwa (natürlich, nach dessen großartigen Carnets d’Orient!) Chez les cheikhs, bei den Scheichs, über die Vereinigten Arabischen Emirate, mit Max Cabanes über vergessene Plätze in Paris oder mit Enki Bilal über Tschernobyl.
»Es ist faszinierend, Texte zu schreiben, zu denen dann eine Zeichnung entsteht«, erläutert Christin sein Vorgehen. »Zeichnungen sind eine Interpretation des Geschriebenen, und ist ein Bild fertig, enthält es vielleicht einen neuen Aspekt, den ich wiederum aufgreifen kann, das ist eine besondere Form der Kommunikation zwischen dem Zeichner und mir. Ich finde in Büchern Texte zu Bildern, meistens Fotos, oft furchtbar. Da muss jemand etwas zu einem Bild schreiben, und das sind dann die üblichen Klischees, oder man liest, was das Bild ohnehin schon zeigt. Mich hat es deshalb interessiert, umgekehrt zu arbeiten, eine neue Verbindung zu suchen.«
Dabei definiert Christin sein jeweiliges Objekt durchaus flexibel; in Trains de plaisir mit Jean-Claude Denis beispielsweise befinden sich die von ihm inspizierten »Orte« in den unterschiedlichsten Zügen aus Vergangenheit und Gegenwart, vom TGV Bordeaux-Paris bis hin zu überfüllten Vorortzügen in Bombay (auch dabei die »Pharaoneneisenbahn« zwischen Kairo und Alexandria, in der Blake und Mortimer es sich auf Denis‘ Zeichnung in einem luxuriösen Pullmanwagen gemütlich machen). Zuletzt erscheint 2002 ein Band mit Jean-Claude Mézières über, wie sollte es anders sein, die USA und den Westen, Adieu, rêve américain? – ade, amerikanischer Traum? –, der an den Trümmern der Twin Towers endet. (2009 werden die »Korrespondenzen«, kondensiert sowie ergänzt um kürzere Beiträge auch von André Juillard, Annie Goetzinger, Miguelanxo Prado u.a., gesammelt in einem Band veröffentlicht.)
Auch das unterscheidet den Szenaristen vom dessinateur: Fügen sich die Alben beispielsweise von Mézières, Bilal oder Annie Goetzinger zu einem übersichtlich homogenen Werk, so ergibt sich im Falle des Autors – und ganz speziell natürlich bei Christin – oft nur schwer ein Gesamtbild; eine alphabetisch organisierte Comic-Bibliothek ist fraglos nach Zeichnern sortiert. In Deutschland – seine erste Veröffentlichung (noch als »Linus«) ist Die Stadt der tosenden Wasser 1973 in Zack – wird Christin vor allem mit Valerian und als Autor von Enki Bilal und Annie Goetzinger wahrgenommen, die meisten Comics, die er darüber hinaus geschrieben hat, liegen als Übersetzung nicht vor.
Eine Ausnahme bildet ausgerechnet ein Album gemeinsam mit François Boucq aus dem Jahre 1981, das für Fluide Glacial entstanden war und ebenso schräg ist wie untypisch für Christin, Die Lektionen von Professor Weichbirne. Untypisch, weil kein Drama oder Konflikt im Zentrum steht, sondern ein hagerer Greis – der »Professor« – und ein »Bursche«, die auf ihrem Weg durch die Welt, zu Fuß und scheinbar ohne Ziel, in immer neue slapstickartige Absurditäten des Lebens stolpern: Christins einziger Ausflug ins Universum der Groteske, gleichsam feinsinnig beobachtet und von hinterhältigem Witz.
»Viele meiner pessimistischen Visionen wurden Wirklichkeit«
2001 – ein neues Millennium ist aufgezogen und die Datenwelt doch nicht kollabiert dabei – beginnt Christin mit Annie Goetzinger Agence Hardy: eine klassische Albumreihe, die zurückführt nach Reuilly (im zweiten Band auch in die zone), ins 12. Arrondissement, wie er selbst es erlebt hat nach dem zweiten großen Krieg eines nun vergangenen Jahrhunderts, und in der er diese Ära feinfühlig rekonstruiert und konserviert. In der Zukunft verknüpft er im gleichen Jahr im achtzehnten Valerian-Band alle noch offenen Fäden zum Finale – In unsicheren Zeiten heißt der Band – und eröffnet im Anschluss einen neuen Zyklus. Seine Ideen reichen bereits weit voraus. Doch ist auch Mézières nicht mehr der Jüngste, drei Jahre braucht er derzeit für ein Album, demnächst wohl eher noch länger: Für eine laufende Serie, will sie am Markt bestehen, nicht praktikabel, Christin und Mézières beschließen deshalb, die Abenteuer der Raum-Zeit-Agenten zu beenden, ein letztes fin zu setzen.
Das bisher Geplante verdichtet Christin zu einem runden Ausgang, mit dem der Zyklus 2010 im dritten Teil dann abschließt. »Ich hätte durchaus fünf weitere Bände schreiben können«, sagt er, weiß aber auch: »Als wir die Serie damals begonnen haben, war Valerian etwas Neues. Heute ist sie eine von vielen Science-Fiction-Serien, viele davon Mittelmaß, doch gibt es auch gute Beispiele. Wir mussten also etwas tun. Valerian zu schreiben ist für mich immer ein besonderes, beinahe kindliches Vergnügen gewesen, doch von Album zu Album hätte es jetzt immer länger gedauert, und damit hätten wir unsere Leser verloren. Da fanden wir es eleganter, uns einen geordneten Abgang zu verschaffen.«
Still geworden ist es um die Raum-Zeit-Agenten dennoch nicht, zwei Alben mit kurzen ergänzenden Storys sind erschienen seitdem sowie Interpretationen von Manu Larcenet und Mathieu Lauffray. Dann 2017 natürlich die Verfilmung von Luc Besson, die Krönung einer fünfzigjährigen Erfolgsgeschichte – auch wenn sich Christin, der am Drehbuch nur beratend beteiligt war, mit seinem Urteil über Die Stadt der tausend Planeten zurückhält: »Wir haben die Rechte verkauft, c’est ça«, sagt er pragmatisch. »Besson war schon als Zehnjähriger ein großer Fan unserer Serie, und er ist damit umgegangen wie ein kleiner Junge, der ein Blatt so vollzeichnet, bis am Ende nicht mehr viel zu erkennen ist. Das unterscheidet den Film vom Comic, bei dem es uns immer um eine bestimmte Klarheit ging. Das Drehbuch haben wir lediglich zwei Tage lang einsehen können, also ließ sich auch nicht viel ändern. Veronique [im Film mit ihrem französischen Namen Laureline] war darin zuerst eine knallharte Feministin nach amerikanischem Muster, eher unsympathisch und ganz anders als in der Serie. Das fand ich platt und habe Änderungsvorschläge gemacht, die Besson dann, wie auch ein paar andere, übernommen hat. Insgesamt war es, obwohl wir auf ganz unterschiedlichen Planeten zu Hause sind, eine äußerst angenehme Zusammenarbeit – schließlich sind wir für ihn so etwas wie Idole, und das berührt selbstverständlich auch. Und dass der Film über dreißig Millionen Zuschauer hatte weltweit, hat uns schließlich nicht geschadet.«
Christin nutzt die Zeit, die er durch Mézières‘ reduziertes Arbeitstempo gewinnt, für zwei Romane (2006 Petits crimes contre les humanités, 2009 Légers arrangements avec la verité). Beide beschäftigen sich mit dem Universitätsbetrieb und bekommen höchst anerkennende Kritiken: »Im Gegensatz zu den USA oder Großbritannien sind französische Hochschulen schäbige Plätze, alles ist kaputt, überall fehlt das Geld. Jeder ist froh, wenn er sein Studium hinter sich hat, und kehrt dann nie wieder zurück. In den USA dagegen gibt es sogar Führungen, und im Gegensatz zu Frankreich existiert dort das Genre des Universitätsromans. Das hat mich gereizt, doch konnte ich das Thema nicht anfassen, solange ich noch Professor in Bordeaux war. Schließlich spuckt man seinen Kollegen nicht in die Suppe.«
In Sachen Comics ergibt sich ein Projekt mit Alain Mounier, der schon einige Alben veröffentlicht hat und vor allem mit dem von Rodolphe geschriebenen Thriller Dock 21 (ab 1992, bis 2008 sieben Bände) Erfolg hat. Mourir au paradis (Sterben im Paradies, 2005) erzählt von einem Nazi, der in einer gated city an der amerikanischen Ostküste alten Träumen frönt, vielleicht Christins schwächste Arbeit. Die er im Jahr darauf jedoch mit Lenas Reise, der Momentaufnahme einer postkommunistischen Zeit zusammen mit André Juillard (siehe Kasten), schon wieder wettmacht. »André ist ein großartiger Künstler und wir verstehen uns hervorragend. Mit ihm hätte ich durchaus gerne öfter zusammengearbeitet, aber da hatte für ihn finanziell natürlich Blake und Mortimer Vorrang, obwohl er sich damit oft ziemlich abgequält hat. Derzeit sitzt er gerade an einem dritten Lena-Band, der nächstes Jahr bei Dargaud erscheint.«
Am Ende der Nullerjahre beginnt Christin abermals eine neue Zusammenarbeit mit einem jungen Zeichner, der ebenfalls kein Newcomer mehr ist. Olivier Balez, Jahrgang 1972, hat erste Comics als Teenager publiziert und kann bereits einige Alben vorweisen, darunter der dreibändige Cycle du Nautile (2005/06). 2010 erscheint Sous le ciel d’Atacama (Unter dem Himmel der Atacama), vier Jahre darauf Robert Moses, das eine die Reportage über Arbeiten am Alma-Observatorium in der fünftausend Meter hoch gelegenen Atacama-Wüste in Chile, das andere die Biografie des Stadtplaners Robert Moses, der das moderne New York prägte. Es sind die ersten Erzählungen Christins im neuen Graphic-Novel-Format, gibt es für ihn einen Unterschied in der Arbeitsweise? »Ich habe bei den Correspondances bereits in einem anderen Format gearbeitet, das damals aber wohl noch zu ungewöhnlich und vielleicht auch zu edel war, um wirklich erfolgreich zu sein. Doch inzwischen haben sich neue Formate durchgesetzt und werden akzeptiert. Robert Moses war nicht nur in Frankreich ein Erfolg, sondern auch die amerikanische Ausgabe hat sich sehr gut verkauft. Was mir gefällt, ist, dass Graphic Novels sich anders als Alben oft aktuellen Themen widmen und die Arbeit damit eine eher journalistische ist wie etwa bei Sous le ciel – das Manuskript habe ich in sehr kurzer Zeit geschrieben, wie ein Journalist.«
Gemeinsam mit Sébastien Verdier (ebenfalls Jahrgang 72, und auch er hat schon erste Alben veröffentlicht, 2004/06 etwa den Zweiteiler Ulitmate Agency mit François Corteggiani als Autor) folgen 2014 der Wüstentrip Rencontre sur la Transsaharienne (Begegnung auf der Trans-Sahara) über drei Gruppen junger Leute, die aus unterschiedlichen Gründen und unabhängig voneinander in die Sahara aufbrechen, sowie zuletzt eine Biografie George Orwells: »Die hätte längst erschienen sein sollen, musste jedoch verschoben werden, weil Verdier nicht rechtzeitig fertig wurde, aber inzwischen sitzt er an den letzten Seiten«, sagt Christin und grinst: »Die meisten meiner optimistischen Zukunftsvisionen, speziell in Valerian, sind Wunschdenken geblieben. Viele meiner pessimistischen Visionen dagegen, besonders mit Bilal, wurden Wirklichkeit. Insofern überrascht es wohl kaum, dass ich mich mit Orwell beschäftigt habe.«
Wer ist dieser Pierre Christin, was für ein Mensch steckt hinter dem Autor, den man allein mit seiner Brille kennt, stets hoch oben auf der Stirn, nie auf der Nase, nolens volens zum Markenzeichen seiner äußeren Erscheinung geworden? Er ist mit Recht stolz darauf (obgleich er es nie zeigen würde oder spüren ließe), dass aus dem Jungen von »ganz unten« etwas geworden ist – ein Universitätsprofessor und ein kreativer Autor und Szenarist, der Spuren hinterlassen hat und immer wieder Marksteine setzt. Dass seine damals erst vagen Träume sich erfüllt haben, obwohl die Chancen dafür nicht allzu gut standen in der faden Welt von Saint-Mandé nach dem Krieg. Er liebt die Perspektive des Beobachters und Chronisten; Bildung ist ihm ein wichtiges Thema, Anstand und ein wacher, kritischer Blick.
Heute ist er in Paris zum zweiten Mal verheiratet, 1984 kommt seine Tochter Angèle zur Welt (sie lehrt heute Soziologie an der Stanford University in Kalifornien; Olivier ist Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Religionshistorie sowie Autor mehrerer wissenschaftlicher Veröffentlichungen). Er träumt weiterhin hartnäckig von einer humaneren Welt, auch wenn sich sein Blick, wie sollte es anders sein, im Laufe der letzten Jahre doch eher verdüstert hat. Und er ist ein Freund, auf den man in schwierigen Zeiten zählen kann. Als Jean-Claude 2014/15 über Monate im Krankenhaus liegt, kümmert er sich um dessen Belange. Und als drei Jahre später Annie stirbt, ist er es, der bei ihr ist.
Kaum etwas schätzt er so wie Zeitungen (als er einmal in China mehrere Tage keine Le Monde bekommt, fliegt er sogar nach Hongkong deshalb), und der Niedergang des Print-Gewerbes stimmt ihn traurig: »Wenn ich früher vom Boulevard Raspail nach Hause ging, kam ich an sieben Zeitungskiosken vorbei. Heute ist da kein einziger mehr.« Dann, selbstverständlich und wohl an erster Stelle, das Reisen: die Freiheit, unterwegs zu sein, en voiture, wie er auf dem Cover von Ost-West zu sehen ist, zu entdecken und die Gegenwart dieser Welt zu durchdringen. Zudem weiß er natürlich einen guten Bordeaux zu schätzen, aber das ist nicht weiter ungewöhnlich für einen Franzosen.
2017 wird Christin zum Repräsentanten sogar seiner ganzen Zunft, für das Metier des Szenaristen schlechthin. Da ebenso in Comic-Ausstellungen die Autoren gewöhnlich unter den Tisch fallen, will »Comics! Mangas! Graphic Novels!« in der Bonner Bundeskunsthalle als bis dato international umfangreichste historische Gesamtschau der Gattung die Problematik wenigstens thematisieren, exemplarisch. Doch wen auswählen dafür, einige Namen bieten sich an. Kaum ein anderer Szenarist aber hat ein so differentes Œuvre aufzuweisen, hat mit derart individualistischen Künstlern so unterschiedliche Werke geschaffen und neue Wege beschritten wie Pierre Christin. »Da war doch noch was …«, beginnt der einleitende Text einer Vitrine, die sein Schaffen illustriert und so die Vergessenen nicht allein von Angoulême wenigstens auf diese Weise in Erinnerung ruft. Zu sehen sind auf zwei Quadratmetern Manuskripte in unterschiedlichen Bearbeitungsstadien, Materialien, Skizzen, Quellen und sogar seine alte Olympia, an den Wänden hängen dazu Originale von Jean-Claude Mézières, Enki Bilal, Annie Goetzinger und André Juillard.
In einem ganz anderen Fach reüssiert Christin dann im Frühjahr 2018. Wieder einmal hat er für sich Neuland betreten und das Libretto für eine Oper geschrieben, komponiert hat sie Louis Crelier. Am 21. April wird La Citadelle de verre mit dem Orchester der georgischen Nationaloper in Tiflis im Temple du Bas im Schweizer Neuchâtel uraufgeführt. Christin erzählt diesmal keine Utopie, sondern von einer apokalyptischen, von Terror gezeichneten Welt, in der eine Diktatur jede Menschlichkeit erstickt. Die Kostüme und spektakulären Bühnenbilder stammen von Enki Bilal. »Eine Oper zu schreiben kommt dem Beruf des Szenaristen sehr nahe«, sagt Christin. »Im einen Falle wird das, was man schreibt, zu Musik, im anderen zu Bildern.«
Als er dieses Jahr am Abend des 26. Januar in Angoulême den Prix Goscinny für sein Lebenswerk entgegennimmt, denkt der achtzigjährige Pierre Christin auch nach hundert Alben und Romanen sowie Ausflügen in die Welt des Films, des Theaters und zuletzt der Oper gar nicht daran, sich künftig zurückzulehnen. Sicher, etwas ruhiger darf es werden; vor allem unterwegs zu sein ist inzwischen mühsam, die Gesundheit nicht mehr die beste. Das ging los vor sechs Jahren, als er von einer Reise durch Burma, Laos, Thailand und Vietnam bis Phnom Penh zurückkommt, der Reise mit seiner Frau Florence den Mekong hinab, mit der er Ost-West beschließt.
Sein Büro hat er vom Boulevard Raspail ins Nebenhaus seiner Wohnung am Parc Montsouris verlegt, bequem über einen grünen Innenhof zu erreichen. Zurzeit arbeitet er an der Konzeption einer Ausstellung, die ihm nach der Verleihung des Prix Goscinny 2020 in Angoulême gewidmet sein wird. An neuen Projekten im Gespräch sind ein neuer Band mit Bilal sowie eine auf Der Schlaf der Vernunft basierende Fernsehserie, doch noch ist nichts konkret. Und dann natürlich Valerian: »Bessons Film hat da mächtig Auftrieb gegeben«, sagt Christin. »Plötzlich wurde die Serie in Länder verkauft, wo sie vorher nie erschienen war, nach Brasilien, Russland und sogar Japan. Das zeigt einmal mehr, welche Macht das Kino hat verglichen mit dem Comic.«
Sieht man den beiden zu, mit welch beinahe kindlich anmutendem Enthusiasmus sie sich in Jean-Claudes Studio in einem stillen kleinen Hinterhof, keine halbe Stunde zu Fuß von Pierre entfernt, über das Zeichenbrett beugen, wie lebhaft sie dessen Entwürfe debattieren, muss man unweigerlich an Saint-Mandé zurückdenken, auf der anderen Seite der Seine, wo ihre Geschichte vor fünfundsiebzig Jahren ihren Anfang nahm, mitten in der Nacht in einem düsteren Keller, während um sie herum die Sirenen heulten. Eine Geschichte eigentlich viel zu gut, als dass sie das Leben geschrieben haben könnte.
KASTEN 1: ABOUT THAT JAZZ. Pierre Christin und Jean Verne
Die Beziehung zwischen Pierre Christin und Jean Vern beginnt mit ihrer gemeinsamen Leidenschaft für den Jazz. »Wir sind uns zum ersten Mal in einem Club in Paris begegnet, in den ich gerne ging, nachdem ich aus den USA zurück war«, erinnert sich Christin. »Das war in den Sechzigern, und Jean trat dort häufig mit anderen Musikern auf. Das war eine ziemlich internationale Truppe, die da regelmäßig zusammenkam, der Schlagzeuger war Pole, der Bassist aus der Schweiz, Trompete spielte ein Deutscher und Jean Saxofon – und zwar exzellent! Eines Abends kamen wir ins Gespräch, und da ich Piano spielte, war ich in der Folge immer wieder mit dabei, obwohl unser Stil doch recht unterschiedlich war. Jean liebte es, zu improvisierten, während ich mit Free Jazz nie richtig warm geworden bin.«
Vern trägt einen flauschigen Bart und die Haare lang, wie es Brauch ist zu dieser Zeit. Er ist aber nicht nur Musiker, sondern zudem Grafiker, hat an der Arts Déco in Paris studiert, bereits Plattencover gestaltet und ist angetan von der Pop-Art oder Comics wie Peellaerts Jodelle. Und so dauert es gar nicht lange, bis eine Zusammenarbeit im Raum steht, Thema soll die Musik sein, natürlich, der Sound der Sechziger. »Soweit ich weiß, hatte Jean bis dahin noch keine Comics gezeichnet, sondern vor allem Illustrationen gemacht. Die strotzten vor Energie und hübschen Frauen, und das alles in knalligen Farben. Ich war sehr angetan davon und begann mich zu fragen, ob Comics von Musik erzählen und ein Lebensgefühl vermitteln könnten, wie ich es mit dem Jazz verband. Also sagten wir eines Tages, wir probieren einfach mal, ob es uns gelingt, eine gemeinsame Sprache zu finden. So ging es los.«
Im Oktober 1971 erscheint in Pilote die sechsseitige Story Underground (und ist zugleich auch Covermotiv des Heftes 624), ein schwüler Trip durch das New York der Hippiejahre, in grellbunten, flächigen Farben: Ein schwarzer Musiker mit Afrolook schlendert durch die Straßen, vorbei an berittenen Cops mit Schlagstöcken und an »Black Power«- oder »Free Angela Davis«-Plakaten an den Häuserwänden, durch eine Welt der Jazzkeller unter dem Asphalt der geschäftigen Stadt, der qualmenden Joints und des Soul. Dazu plaudert er über Musik, »notre musique«, und erzählt von Charlie Parker, Hendrix und Janis Joplin. Am Schluss ist er zu Hause angekommen und verabschiedet sich vom Leser: »Ich werde noch ein bisschen Flöte spielen, etwas Pot rauchen, und wenn es nicht bewölkt ist nachher, sehe ich da oben am Himmel vielleicht Otis Redding in seinem Geisterflugzeug … klar doch, bestimmt sehe ich ihn …« Es ist eine Geschichte ganz im Spirit der Underground-Comics, die sich ohne eine Handlung entfaltet und doch so viel erzählt von einer Zeit und wie sie sich anfühlte.
Jean Vern, 1940 in Havre geboren, zählt zu den zahllosen Künstlern jener Jahre, die – angesteckt davon, dass plötzlich alles möglich war in der bande dessinée – den Comic entdecken, kurz im Rampenlicht stehen und dann wieder aus dem Blickfeld verschwinden. Fünf Alben nur umfasst sein Werk (sowie Beiträge zu zwei Anthologien), alle mit Christin als Autor. Aus dem Rahmen fallen vor allem die beiden ersten, En douce, le bonheur (1978) und Sixties Nostagia (1983), beide in der von Guy Vidal und Claude Moliterni herausgegebenen Collection Pilote, mit den kurzen Storys über eine bereits wieder verblassende Ära kultureller und politischer Revolte. Die Titel der Geschichten lauten Overdose, Trip oder Rétro Blues, und auf den Covers kiffen und musizieren glücklich langhaarige junge Menschen inmitten eines Blumenmeeres oder, bei Sixties Nostalgia, vor grimmigen Cops mit aufgepflanzten Bajonetten.
»Hippies und Drogen sind nicht meine Welt, was mich vor allem interessierte zu dieser Zeit in Amerika, war die Bürgerrechtsbewegung«, sagt Christin. »Aber unsere Zusammenarbeit war ein großer Spaß, und wir haben sogar überlegt, einen Comic zusammen mit einer Schallplatte herauszubringen, was zuvor noch niemand getan hatte. Allerdings war Jean heftiger Trinker, was die Dinge manchmal etwas schwierig machte. Zudem waren unsere Geschichten über die Sixties kein sehr großer Erfolg, damals gab es noch nicht besonders viele Leser, die sich für solche Themen interessierten.«
Ihr nächstes Album, La Maison du temps qui passe (Das Haus der vergehenden Zeiten, 1985) ist ganz anderer Natur (es erscheint ohne Vorabdruck in Pilote und wie auch die nachfolgenden Bände direkt in der Reihe Portraits souvenirs). Aus den Sechzigern springt Christin darin in die Gegenwart, nur um erneut zurückzureisen, zuerst Monate, dann Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Hauptfigur und Erzähler ist ein Immobilienmakler, der in dem Landhaus eines verstorbenen Barons in den Bann der alten Bilder an den Wänden gerät und sich in ferne Welten, Dramen und Geheimnisse träumt. Radikal hat sich vor allem Verns zuvor bunt-poppiger Stil verändert und erinnert nunmehr an den Strich und die düsteren Farben des frühen Bilal und in einigen Szenen auch an Mœbius; beinahe möchte man meinen, einen ganz anderen Zeichner vor sich zu haben. »Jean war auf der Suche nach einem neuen Stil und hat sich stark an Bilal orientiert, der zu dieser Zeit enormen Erfolg hatte. Ich glaube, das war keine so besonders gute Idee.«
Ganz ähnlich gestaltet ist 1989 auch Le Mycologue et le caïman (Der Pilzkundler und der Kaiman) um den Geheimdienstagenten Lévine, der auf der Suche nach einem Wissenschaftler mit Verbindungen zur Résistance während der Besatzungszeit durch Frankreich und die Schweiz reist; ein Album, das wie Treibjagd (und später Lenas Reise) ebenfalls auch vom Untergang des Kommunismus erzählt. Morts sous la Tamise (Tote unter der Themse) ist 1993 das letzte Album von Christin und Vern und diesmal eine Krimikomödie, très british und in gekonnt naturalistischer Optik voller verrückter Charaktere und Wendungen. »Mit der Zeit bekam Jean immer mehr Probleme mit dem Alkohol. Schließlich wurde er ernsthaft krank und starb 1998, noch nicht einmal sechzig, eine traurige Geschichte.«
Als Musiker ist Vern mit Größen wie Freddie King, Joe Turner oder John Lee Hooker aufgetreten und hat von Mitte der Sechziger- bis Ende der Siebzigerjahre an über dreißig Platten mitgewirkt. Legendär sind auch die Cover, die er für die »House of the Blues«-Alben der französischen Barclay Records gestaltet hat.
KASTEN 2: KLEINER GRENZVERKEHR. Pierre Christin und André Juillard
»Ich wusste nichts über diesen entlegenen Teil Ost-Berlins«, beginnt Lenas Reise nüchtern auf der ersten Seite und zeigt dazu die Protagonistin in einer Straßenbahn aus einer anderen Zeit auf dem Weg durch eine stehengebliebene Welt. Ganz allein sitzt sie darin, mit ausdruckslosem Gesicht, und auch entlang ihrer Strecke ist niemand sonst zu sehen, nur im Hintergrund die Silhouette des Fahrers, vorn in seiner Kabine.
Es ist die gleiche leere Straßenbahn, in die sich Pierre Christin nach dem Fall der Mauer eines Tages setzt und an deren Endstation auf den Müggelsee stößt. »Das war eine Zeitreise«, sagt er später. »Der paradiesische Fleck eines verschwundenen Landes, den der Westen noch nicht entdeckt hatte. Bei bestem Wetter lagen Leute am Strand, und das einzige Café weit und breit, wo man hätte Eis oder Getränke kaufen können, war zugenagelt, dichtgemacht.« Hier beginnt Lenas Odyssee, nicht allein an diesem Ort, sondern zu exakt dieser Zeit.
Lenas Reise (2006) ist Christins erste Zusammenarbeit mit André Julliard. Kennen tun sie sich schon lange (1972/73 hatte Juillard ein Zeichenseminar bei Jean-Claude Mézières besucht), sind sich sympathisch und in vielen Ansichten ähnlich, wie auch in der Strukturiertheit ihrer Arbeit. Juillard, beinahe auf den Tag genau zehn Jahre jünger als Christin, hatte schon ab 1974 Comics veröffentlicht, bevor ihm 1982 mit den zur Zeit Heinrichs IV. spielenden Die 7 Leben des Falken nach einem Szenario von Patrick Cothias der Durchbruch gelang. Seine klare Linie und historische Akkuratesse bringen ihn schließlich auch in Kontakt mit Jacques Martin, dessen zur Zeit Napoleons angesiedelten Arno er von 1983 bis 1987 zeichnet.
Mit Das blaue Tagebuch gelingt Juillard dann ein vielbeachteter Einzeltitel als »auteur complet«, der 1995 in Angoulême als bestes Album ausgezeichnet wird. Abermals mit Cothias eröffnet er im gleichen Jahr die Tetralogie Wie eine Feder im Wind, die vom 17. Jahrhundert in der Neuen Welt und dem Kontakt weißer Siedler mit den Indianern erzählt. 1998 folgt mit Nach dem Regen ein weiterer roman bd nach eigenem Szenario, und mit Didier Convard widmet er sich zudem einer folgenreichen Spielerei: einem Bändchen über Blake und Mortimer in ihren alten Tagen – Le dernier chapitre, das letzte Kapitel, heißt die Reihe, in der auch zu anderen Figuren Bände mit anderen Zeichnern folgen.
Im nächsten Jahr wird Juillard mit Die Voronov-Intrige (2000) dann tatsächlich zu einem der Nachfolger von Edgar P. Jacobs und dessen Blake und Mortimer; inzwischen liegen mit Yves Sentes als Autor sechs Bände vor. Die finden zwar nicht das beste Echo bei der Kritik, erreichen aber imposante Verkaufszahlen. Der Job ist exzellent dotiert, künstlerische Erfüllung ist er für Juillard nicht. Und so kommt es zwischen Der Sarkophag des 6. Kontinents und Das Heiligtum von Gondwana zu Lenas Reise mit Pierre Christin.
Während Juillard sich in seinen Serien gerne historischen Stoffen zuwendet, spielen seine Graphic Novels in der Gegenwart und erzählen von seelischen Schieflagen alltäglicher Charaktere. Lena ist eine junge Frau, die erst im letzten Drittel des Bandes ihre Karten auf den Tisch legt; sie hat, fast wie in einem Agententhriller, eine mysteriöse Aufgabe zu erfüllen: Von einem einstigen DDR-Funktionär (»Ich trage keinen Namen mehr, seit ich kein Vaterland mehr habe.«) erhält sie eine Liste mit Adressen, bei denen sie »Präsente« abliefern soll, Puzzleteile offenbar einer geplanten konzertierten Aktion.
Somit geht es von Berlin, getarnt als Touristin, durch Rumänien, die Ukraine und die Türkei bis Aleppo, bevor sich Aufklärung anbahnt: angefangen damit, dass Lena gar nicht diejenige ist, die sie bislang vorgab zu sein, und man erst jetzt, nach fast vierzig Seiten, überhaupt etwas über sie erfährt. Es gibt ein Ziel, nun auch ein Motiv und am Ende einen Clou, doch all das verfängt sich in den Bildern kaum. Über allem schwebt eine seltsame Stille wie schon auf der ersten Seite bei Lenas Fahrt durch das verschlafene Berlin-Rahnsdorf.
Christin verfolgt den Weg einer Frau, deren Leben durch einen Terroranschlag zertrümmert wurde, und stellt die Frage, ob Gewalt eine Antwort ist: »Rache ermöglicht nicht, die Vergangenheit umzuschreiben, aber sie kann dabei helfen, so etwas wie eine Zukunft zu entwerfen.« Im Hintergrund klingt der Konflikt aus Treibjagd an, am Ende explodiert in Dubai eine Bombe, aber da sitzt Helene (alias Lena) bereits im Flugzeug nach Australien, in ein neues Morgen. Das bildet den dramatischen Rahmen, doch Christins tatsächliches Thema sind die Reisen selbst, der Duft von Momenten, Zeitkolorit, die Orte auf Lenas Weg sowie das Überschreiten der Grenzen, die sie trennen, flüchtige Atemzüge des stummen Zusammenpralls einer alten und einer neuen Epoche.
Begleitet werden Juillards Zeichnungen großteils vom inneren Monolog, von Gedanken, die immer wieder abtauchen in Vergangenheiten. So bleiben über weite Strecken die Bilder von Sprechblasen unbedrängt und wirken wie gefrorene Augenblicke. Mit filigraner Linienführung gelingt es ihm geradezu meisterhaft, Szenerien und Milieus zu konservieren, und in deren Starre zugleich Lenas innere Leere zu spiegeln. Juillard hat nach Fotos gearbeitet, entstanden während Christins Expeditionen durch Osteuropa, und präzise eine Welt im Umbruch gebannt und dokumentiert, die Wimpernschläge später verschwunden ist.
2009 kommt es zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Christin und Juillard. Lena und die drei Frauen setzt da ein, wo der Vorgänger endet, in Australien, doch es ist keine Fortsetzung mit der Mechanik einer Serie, sondern das erneute Aufgreifen Lenas mit anderer erzählerischer Intention. Fernab im Outback hat sie ein neues Leben begonnen, aber Ruhe findet sie nicht einmal hier: Nochmals widmet sich Christin, jetzt aus ganz anderer Perspektive, dem Phänomen des internationalen Terrorismus, und so, wie Lena aus ihrer Lethargie erwacht, zieht das erzählerische Tempo an. Mehr als Stimmungen einer Zeit interessiert ihn hier die Heldin selbst. Am Ende steht sie in Moskau im Schnee an der Kremlmauer, allein, niemand sonst ist zu sehen. »Ich betrachte die gewaltige Wolga«, dazu der letzte Satz, »und weiß immer noch nicht, ob ich Scham oder Stolz für das empfinden soll, was ich getan habe.«
(Reddition 70/2019, Themenheft Pierre Christin)