Home
Archiv
Memories
Pictures
Vita
Video
     
 

MOSAIK DES ZORNS

Vor zehn Jahren dokumentierte Joe Sacco in neun Comic-Heften den palästinensischen Alltag unter der Intifada und erweckte damit eine vergessene Tradition der Bilderzählung wieder zum Leben: die gezeichnete Reportage. Jetzt ist das umfangreiche und vielstimmige Werk auch in deutscher Übersetzung erschienen – und so aktuell wie vor einem Jahrzehnt.

Von Andreas C. Knigge

Man kann versuchen, sich Palästina über die Geschichte zu nähern. 1948, Resultat des politischen Zionismus sowie der Juden-Pogrome in Europa, die Gründung Israels und die Vertreibung Hunderttausender Araber aus ihrer Heimat. Am Tag nach der Staatsgründung Beginn des Palästina-Kriegs, 1956 Suez-Krieg, 1967 Sechstage-Krieg, 1973 Jom-Kippur-Krieg, 1982 Libanon-Krieg. Besatzung, Besiedlung palästinensischer Autonomiegebiete, Unterdrückung; PLO, Jassir Arafat, Terroranschläge, Intifada, Friedensgespräche, road map, Selbstmordattentate; Vergeltungsschläge, Ariel Scharon und als Manifestation der Tragödie ein Wall aus Beton, aus dem manchmal eben auch Köpfe sind. Schlagworte eines Konflikts, der auch 2004 wieder weit über tausend Todesopfer gefordert hat, die meisten auf palästinensischer Seite – eine zur Zahl geronnene Nachricht, ein aufs andere Jahr unterlegt mit den sich gleichenden Bildern im Staub liegender Leichen und zerstörter Häuser.

Oder man kann sich Palästina über die Geschichten der Menschen nähern. Etwa die des Mannes mit dem dichten schwarzen Schnurrbart und dem Palästinensertuch über dem Pulli, der mit Zorn in den müden Augen erzählt, wie Siedler eines Morgens die Wasserrohre seines Dorfes im jüdisch besetzten Gebiet zerstörten: „Mein Bruder ging mit unserem Cousin auf diese kleine Dachterrasse, um zu sehen, was los war,“ berichtet er und zeigt hinunter. „Ein Siedler schoss von der Straße da unten auf sie. Unser Cousin war sofort tot. Mein Bruder hatte einen Bauchschuss und konnte sich ins Haus zurückschleppen. Die Soldaten verhängten eine Ausgangssperre über das Dorf, so dass wir ihn nicht ins Krankenhaus bringen konnten. Vor den Augen seiner Mutter und seines Vaters verblutete er. Er war 21. Mein Cousin war 17.“

Oder die der Mutter, in deren Dorf ein junger Palästinenser Molotow-Cocktails gebaut hatte: „Um vier Uhr nachts fuhren Soldaten vorbei und riefen über Lautsprecher eine sofortige Ausgangssperre aus. Am nächsten Tag kamen sie zurück und sägten meine sechs Olivenbäume ab. Insgesamt sägten sie 70 Olivenbäume ab, die Bäume von 13 Familien.“ 70 von einer viertel Million während der ersten Intifada. Sechs bis sieben Jahre dauert es, bis ein neuer Baum nennenswerte Ernte bringt. „Der Olivenbaum ist unsere Lebensgrundlage“, sagt der alte Mann, der neben der Frau auf dem Sofa sitzt, ihr Vater. „Wir haben hier nichts anderes als die Bäume.“ Auch aus seinen Augen, tief in einem gefurchten Gesicht versunken, spricht ohnmächtige Wut. „Die Israelis wissen, dass ein Olivenbaum für uns wie ein Sohn ist.“

Oder die Geschichte von Firas. Auf seiner Oberlippe sprießt gerade der erste zarte Flaum, mit 13 Jahren hat er sich der Volksfront zur Befreiung Palästinas angeschlossen: „Wenn ich morgens auf dem Schulweg die Soldaten sehe, kämpfe ich gegen sie. Dann gehe ich nicht zur Schule.“ Einmal wurde er angeschossen, verhaftet und ins Krankenhaus gebracht. „Fünf Soldaten zogen mich aus dem Bett und warfen mich auf den Boden, dabei brach ich mir den Arm. Als ich mir krampfhaft den Arm hielt, traten sie danach. Ich wusste nicht mehr, wie oft ich geschlagen wurde. Aus meiner Nase und meinem Mund floss Blut. Sie schlugen mir einen Zahn aus.“ Erst zwei Tage später kam er wieder zu Bewusstsein. Warum er den „Aufstand der Steine“ fortsetzt? „Ich sehe, wie die Soldaten meine Eltern behandeln. Sie schlagen meine Brüder. Ich sehe es als einen Weg, mein Land zurückzuerobern, mich von der Besatzung zu befreien, der Welt zu zeigen, dass es uns gibt.“ Von 1987 bis Anfang der Neunzigerjahre loderte die Intifada, nach dem Scheitern des Camp-David-Gipfels und Scharons provokativem Auftritt auf dem Tempelberg flammte sie 2000 erneut auf.

Gewalt und Gegengewalt, Steine gegen Panzer, Entrechtung und Demütigung. Es sind immer wieder die gleichen Geschichten, die Joe Sacco in seiner Comic-Reportage Palästina erzählt. „Nur die Wunden variieren manchmal“, sagt der amerikanische Zeichner. Im Dezember 1991 war er nach Israel gereist, um sich in den besetzten Gebieten umzusehen. „Es war die Bombardierung Beiruts 1981 und im Jahr darauf die israelische Invasion des Libanon, durch die ich mich für den Nahen Osten zu interessieren begann. Bisher hatte ich geglaubt, Israel sei von feindlichen Arabern umzingelt, die das Land vernichten wollen, und stünde mit dem Rücken zur Wand. Aber auf einmal sah ich ein ganz anderes Israel, das für eine Menge, das in der Region geschah, verantwortlich war. Die Israelis setzten Waffen ein, die die USA ihnen zur ‚Verteidigung‘ geliefert hatten, und sie warfen Bomben auf Beirut. Einmal bombardierten sie ein Hotel und töteten 300 Zivilisten. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass die Dinge anders zu sein schienen als ich bislang geglaubt hatte.“

Sacco blieb zwei Monate, reiste durch den Gazastreifen und das Westjordanland, besuchte Krankenhäuser, Flüchtlingslager, Basare und palästinensische Tomatenbauern, die sechs verschiedene Genehmigungen einholen müssen, um ihre Waren auf den Markt bringen zu können. Er fotografierte, machte Interviews und sammelte Geschichten. „Ich wollte einen Comic über die andere Seite zeichnen. Ich habe ganz bewusst die Perspektive der Palästinenser gewählt, weil ihre Geschichte in den USA bisher kaum erzählt worden ist. Palästinenser werden in den Medien in der Regel als Terroristen, zuweilen auch als Opfer, nie aber als Volk und Menschen dargestellt. Ich wollte das alltägliche Leben zeigen, all die ganz gewöhnlichen Dinge, die wir in den Medien nicht mitbekommen.“ Zurück in Amerika, begann Sacco im Juli 1992 das Erlebte, Gesehene und Erfahrene aufzuzeichnen und als Comic-Heft zu veröffentlichen. Die neun Ausgaben von Palestine, die während der nächsten drei Jahre erschienen, wurden in zwei Paperbacks nachgedruckt und liegen als Gesamtausgabe nun auch in deutscher Übersetzung vor (Zweitausendeins, 285 Seiten, 17,90 Euro).

Palästina ist ein ungewöhnliches Buch, weder ein Sach-Comic, der mit Fakten aufwartet und Zusammenhänge aufzeigt, noch entwickelt sich entlang bestimmter Figuren eine kohärente Dramaturgie. Die Schauplätze wechseln ebenso wie die Protagonisten, und statt einer Geschichte entsteht so vielmehr eine sich von Seite zu Seite verdichtende Collage aus Stimmen und Gesichtern, ein Mosaik des Zorns und kollektiv erlebten Leids, durchzogen von tiefen Rissen. „Wir wollen nicht, dass jemand getötet wird“, kommentiert ein Palästinenser etwa die Raketen, mit denen der Irak Israel während des Golfkriegs 1991 angriff. „Aber die Juden töten uns, und die Raketen töten die Juden, und das freut uns.“ Fatah, Volksfront, Hamas. Oder: „Ich möchte Frieden, aber ich glaube nicht daran.“

Der einzige rote Faden ist Joe Sacco selbst, der von einem Interview zum nächsten unterwegs ist, immer wieder in den gleichen schäbigen Zimmern hockt, auf den gleichen Sofas, den gleichen süßen Tee trinkt, umringt von Männern, von denen kaum einer noch nicht verhaftet und misshandelt wurde: „Nicht einmal die Gespräche ändern sich. Wer sind diese Leute überhaupt? Sie wurden mir vorgestellt, aber ich erinnere mich an keinen Namen.“ Sacco setzt den Leser dem gleichen Stakkato aus Meinungen und Standpunkten aus, das auf ihn selbst nach seiner Ankunft in Israel und während seiner ersten Fahrten durch die besetzten Gebiete einprasselte. Erst gegen Mitte des Buches beginnt er zu strukturieren, und der wilde Rausch aus Eindrücken und Momentaufnahmen weicht Fragen etwa nach der Situation der palästinensischen Frauen oder der Lage in den Gefängnissen. Dazwischen immer wieder die wie aus dem Nichts explodierende Gewalt. Detonationen, durch die Straßen hastende Menschen, ihre Läden verbarrikadierende Händler, Soldaten, die von Jeeps springen und in Stellung gehen, Steine, Schüsse: „In einem Comic muss es Knallereien geben“, kommentiert Saccho lakonisch, als ihn das journalistische Jagdfieber packt.

Sacco hat mit Palästina eine Tradition der Bildgeschichte wiederbelebt, die mit dem Aufkommen des Comics vor gut hundert Jahren in Vergessenheit geraten war. Die Einblattdrucke und Bilderbogen, die sich mit der Erfindung der Drucktechnik im 15. Jahrhundert über ganz Europa verbreiteten, waren gewissermaßen Vorläufer der Zeitungen und berichteten von politischen Fehden, Hinrichtungen und Feuersbrünsten. „Lange bevor die erste ‚Illustrierte Zeitung‘ in die Welt ging, illustrierte der Bilderbogen die Tagesgeschichte“, notierte seinerzeit Theodor Fontane. „Und was die Hauptsache war, diese Illustration hinkte nicht langsam nach, sondern folgte den Ereignissen auf dem Fuße.“ Auch Richard F. Outcault, der Pionier der amerikanischen Comic-Strips, legte eine Serie seiner Yellow Kid-Folgen, die er regelmäßig für das New York Journal zeichnete, als Reportage an und berichtete 1897 während einer Europareise aus London, Paris, Madrid und den Biergärten am Rhein. Schnell zeigte sich allerdings, dass sich die von Outcault etablierte Erzähl-Grammatik vor allem hervorragend zur Inszenierung burlesken Slapsticks eignete – aktuelle Ereignisse waren zum Metier der Tageszeitungen geworden, und die Fotografie ließ die Zeichnung als Mittel der visuellen Dokumentation obsolet werden. Comics wurden zur Domäne von Serienfiguren, deren Kapriolen die Gattung während der ersten Jahrzehnte prägten. Als die Dramatik schließlich die Komik verdrängte, traten auch rasende Reporter auf den Plan, doch nur, weil ihr Beruf spannende Reisen versprach und ein Abenteuer nach dem anderen.

Erst die Kulturrevolution der späten 1960er Jahre eröffnete neue Wege. In der Folge der amerikanischen Underground-Comics, die als Ausdruck subversiven Lebensgefühls die Konventionen der Gattung sprengten, Serienfiguren über Bord warfen und in ihren besten Momenten prall aus dem Leben erzählten, begann sich, langsam, ein neues dokumentarisch-autobiografisches Genre herauszubilden: Keiji Nakazawas Barfuß durch Hiroshima (1973) oder Maus (1980) von Art Spiegelman wurden spektakuläre Erfolge und ließen ein bislang noch kaum erschlossenes Potential der Erzählform Comic sichtbar werden. Will Eisner lieferte den passenden Begriff dazu: graphic novel.

Dass der Comic literarische Ambitionen entwickelte und sich ernsthaften Themen zuwandte, bekam Joe Sacco erst eine ganze Weile später mit. 1960 auf Malta geboren, in Melbourne aufgewachsen und seit 1972 in Los Angeles, interessierten ihn Comics als Kind und Jugendlicher zunächst nicht mehr als andere Dinge auch. „Die Hefte, die ich las, waren überwiegend Kriegs-Comics. Natürlich zeichnete ich auch, wie viele meiner Altersgenossen. Zeichnen ist für Kinder ein Weg, sich auszudrücken. Dann begann ich kleine Geschichten zu erzählen, verwendete Sprechblasen und regelmäßige Figuren. Die ersten Storys waren von Mad oder irgendwelchen Fernsehserien, die ich damals sah, inspiriert, und während meiner Schulzeit begann ich dann eine große Geschichte über den Vietnamkrieg. Bald verbrachte ich meine ganze Freizeit mit Schreiben und Recherchieren, aber erst später kam mir die Idee, das als Beruf zu betrachten.“

Zunächst begann sich Sacco für eine andere Disziplin zu interessieren: „An der High School besuchte ich einen Journalismus-Kurs, und es machte mir Riesenspaß, Artikel zu schreiben und Leute zu interviewen. Dann wurde ich Herausgeber der Schülerzeitung und merkte, dass das genau das war, was ich machen wollte. Also studierte ich, als ich aufs College kam, Journalistik.“ Nachdem er 1981 seinen Abschluss an der University of Orgeon gemacht hatte, reiste Sacco nach Malta, arbeitete weiter an seinem Vietnam-Comic und lernte in Valletta einen Verleger kennen, für den er ein halbes Dutzend Romance-Storys zeichnete. Auf die Bezahlung musste er jahrelang warten, und so schlug er sich, zurück in Orgeon, erst mal als Korrekturleser durch. 1985 gründete er mit einem Freund die Portland Permanent Press, ein kostenloses, durch Anzeigen finanziertes Humormagazin, das nach 15 Ausgaben wieder einging. Sacco bot sein Vietnam-Projekt einigen Verlagen an, auch Art Spiegelman für Raw, erhielt jedoch nur Absagen.

Inzwischen hatte er allerdings etliche Zeichner kennengelernt, darunter Matt Groening und Peter Bagge, und geriet an den Verlag Fantagraphics, bei dessen Magazin The Comics Journal er News-Redakteur wurde. Fantagraphics hatte gerade mit der Herausgabe von Love & Rockets und Neat Stuff begonnen, ein kleiner alternativer Comic-Markt jenseits der üblichen Superhelden-Hefte entstand. Sacco beschloss, einen eigenen Comic mit autobiografischen Geschichten herauszugeben. „Durch einen Halbtagsjob in einer Bibliothek hatte ich etwas Geld gespart, ein 32seitiges Heft zusammengestellt und wollte nun herausfinden, wie ich das veröffentlichen konnte und was das kostete. Also fragte ich Fantagraphics-Herausgeber Kim Thompson um Rat, und der sagte, er wolle das Heft drucken. Ich war völlig überrascht, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.“

Die erste Ausgabe von Yahoo erschien 1988. Im gleichen Jahr begleitete Sacco The Miracle Workers, die Band eines Freundes aus High-School- und College-Tagen, auf Europa-Tour, lebte fast zwei Jahre in Berlin, gestaltete Plattencover und Plakate und verarbeitete seine Erlebnisse in der Musikszene zu Comic-Storys – bis 1992 erschienen von Yahoo sechs Ausgaben. „Ich machte mir ständig Notizen und schrieb jedes Wort, das die Leute sagten, auf. In gewisser Weise arbeitete ich also wieder journalistisch, aber ich merkte bald, dass ich ganz andere Geschichten erzählen wollte. Ich wollte nicht, dass die Leute glaubten, ich wolle mit diesen Rock ’n‘ Roll-Storys einem Trend nachjagen und mich den Kids anbiedern. Als ich 1989 zurück in den USA war, tobte schon seit zwei Jahren die Intifada. Ich besorgte mir Literatur, las Noam Chomskys The Fateful Triangle und The Question of Palestine von Edward Said und begriff, wie die Medien unser Bild von den Palästinensern systematisch manipulierten. Ich wollte mir ein eigenes Bild machen, vor Ort.“ Im Januar 1993 legte er die erste Ausgabe von Palestine vor.

Saccos Bildsprache spiegelt die bewusst parteiische Dokumentation subjektiver Eindrücke und Beobachtungen. Kaum eine Seitenarchitektur gleicht der anderen, die Bilder wirbeln durcheinander wie die Stimmen der Menschen, die auf ihnen zu sehen sind. Konventionell angelegte Bildsequenzen wechseln mit schräg geschnittenen, ineinander verkeilten Panels, wie achtlos übereinander geworfene Fotos arrangierte Seiten mit Großformaten, die übersät sind von Textboxen, die wie Telexstreifen oder Notizzettel über das Geschehen flattern, Simultanbilder mit im Zeitungslayout gestaltetem Erzähltext, Porträtaufnahmen mit Einstellungen aus Frosch- oder Vogelperspektive und subjektiver Kamera. Verschmolzen ist das alles in einer dichten Grafik aus Schraffuren, Kreuzlinien, Punktierungen und Schwarzflächen, die die Figuren trotz ihrer holzschnittartig karikierten Züge authentisch wirken lässt: Sacco zeigt nicht nur den alltäglichen Schrecken auf den Straßen, sondern auf den Gesichtern der Menschen auch die Narben, die der Irrsinn auf ihren Seelen hinterlässt.

Für seine Erzählweise, mit der er im Bereich des Comics Neuland betreten hat, nennt Sacco Vorbilder in der Literatur: „Louis-Ferdinand Céline hat meinen Schreibstil stark beeinflusst, vor allem in Bezug auf die Gliederung und Positionierung der Sprechblasen und Textboxen. Seine Wiederholungen und Hervorhebungen von bestimmten Sätzen, die zwar oft dasselbe ausdrücken, aber sich zu einem Rhythmus aufschaukeln, gefallen mir sehr. Auch ich begann, meine Texte aufzubrechen, hier einen Satz, da einen Satz, dort einen Satz. So gelingt es mir, das Auge des Lesers über die Seite zu führen und es dorthin zu lenken, wo ich es haben will. Betonungen werden so hervorgehoben, visuelle Pointen oder Kontrapunkte gesetzt. Dann haben mich die englischen Autoren aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusst, was journalistische Texte betrifft, sicher George Orwell. Er reiste viel und interessierte sich für das Leben der kleinen Leute wie zum Beispiel der Bergarbeiter. Er fuhr mit ihnen unter Tage und lebte mit ihnen. Als Autor kann man über solche Themen nicht von ferne schreiben, man muss hingehen. Palästina ist ein authentisches Buch, basierend auf Erlebnissen, die ich versucht habe, so genau wie möglich wiederzugeben.“

Saccos gezeichnete Reportage wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und 1996 mit dem American Book Award ausgezeichnet, war zunächst jedoch alles andere als ein Erfolg. „Obwohl das Buch eine hervorragende Presse hatte und in der Bedeutung des Themas wie auch durch die innovative Bildsprache Spiegelmans Maus absolut ebenbürtig ist, waren die Verkäufe höchst enttäuschend“, klagte Fantagraphics-Verleger Gary Groth. Sacco machte sich nichts daraus. 1995 reiste er mehrere Monate nach Sarajevo und begann anschließend seine Stories from Bosnia, 1998 entsandte ihn das Magazin Details als zeichnenden Reporter an den internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Den Haag, und 2000 legte er den 240seitigen Band Safe Area Gorazde vor: Die Schilderung von vier Besuchen in der von 1992 bis 1995 von Serben eingeschlossenen muslimischen Enklave in Bosnien wurde von den wichtigsten amerikanischen Medien wie etwa der New York Times als Meisterwerk und Sacco als Wegbereiter des neuen Genres der Comic-Reportage gefeiert. Ein weiterer Band über den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien folgte 2003 mit The Fixer. A Story from Sarajevo. „Der Comic ist verständlich und direkt“, sagt Sacco. „Ich kann den Leser ohne große Erklärungen in eine bosnische Kleinstadt versetzen und muss keinen Hubschrauber mieten, um ihm den Ort von oben zu zeigen. Und ich kann die Vergangenheit einer Figur vor seinen Augen so überzeugend lebendig werden lassen wie ein Filmregisseur in einer Rückblende.“

Im Zuge des Erfolgs seiner Bosnien-Geschichten hat nun auch Palästina nachträglich ein breiteres Publikum gefunden. In einer Szene gegen Schluss des Bandes interviewt Sacco eine alte Frau, deren Haus von israelischen Soldaten abgerissen wurde. Wozu es gut sein soll, mit ihm zu reden, fragt sie: „Wie sollen Worte etwas verändern?“ Damals wusste Sacco keine Antwort, heute kennt er sie: „Ich habe die besetzten Gebiete im letzten Jahr mehrmals besucht, und das einzige, das sich seit der ersten Intifada verändert hat, ist das Maß der Gewalt. Heute sind es nicht mehr Soldaten in Jeeps, die Gummigeschosse abfeuern. Jetzt sind es Panzer und Flugzeuge.“ Trotzdem hat er bereits ein nächstes Ziel im Auge: „Ich würde gern in den Irak gehen, aber das müsste jemand finanzieren, denn das Geld dafür kann ich nicht aufbringen. Und eine amerikanische Zeitung zu finden, die mich die Dinge so schildern lässt, wie ich sie antreffe, dürfte derzeit kaum zu finden sein.“

Bagdad, Sarajevo oder Hebron – für Sacco haben die Konflikte das immer gleiche Gesicht: „Man erlebt extreme Menschlichkeit, Menschen, die nichts haben und trotzdem ihr letztes Hemd geben, direkt neben unvorstellbarer Grausamkeit. Vor allem aber wird man Zeuge, wie unschuldige Menschen von den Rädern der Geschichte zermalmt werden.“

(aus: Comixene 78, Oktober 2004)

Zurück zur Übersicht
 
Kontakt  -  Impressum  -  © Andreas C. Knigge