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DIE MAUS KREISST – UND GEBIERT EIN IMPERIUM Das Gute siegt, und der Glaube daran versetzt Berge: Die Welt des
Walt Disney, der vor hundert Jahren geboren wurdeVon Andreas C. Knigge
Das also war sein Traum. Alles adrett herausgeputzt, vor jedem Haus penibel gepflegtes Grün, die Straßen ruhig
und sicher. Fröhliche Menschen, wohin man schaut: „Ist es nicht ein herrlicher Morgen?“ Nirgendwo randalierende
Biker-Gangs, kein Obdachloser weit und breit, no sex, no drugs, no crime.
Walt Disney schwärmte von der perfekten Stadt, und er wollte sie tatsächlich bauen, wie die Kulisse für einen Film.
Modern dachte er sie sich Mitte der kühnen Sechziger, sauber und problemfrei, und er taufte sie EPCOT, „Experimental
Prototype Community of Tomorrow“. Mit futuristischen Kunststoffkuppeln und Magnetzügen, die geräuschlos durch grüne
Parklandschaften schweben, sollte sein Paradies auf Erden eine sich ständig wandelnde Chronik der Visionen vom Morgen
werden und natürlich da liegen, wo sich selbst die Sonne korrekt verhält, in Florida.
Dort kaufte Disney eine Fläche doppelt so groß wie Manhattan zusammen, doch dann entdeckten die Ärzte in seiner Lunge
einen Tumor, und mit seinem Tod wenig später fiel auch das Wolkenschloss in sich zusammen: Auf dem Areal südlich von
Orlando öffnete 1971 das zweite Disneyland seine Pforten, Disney World. EPCOT schrumpfte darin zum Ausstellungspavillon
für moderne Technik.
Aber nun ist der Traum doch noch wahr geworden. Celebration heißt die heile Welt vom Reißbrett, die die Disney Corporation
direkt gegenüber Disney World errichtet hat, komplett mit Läden, Restaurants, Rathaus und Schule. Allerdings ist die Stadt,
in der einmal 20.000 Menschen leben sollen, doch kein Blick auf die Zukunft geworden, sondern eine bürgerliche Idealwelt
der guten alten Zeit, eine Kulisse wie von Norman Rockwell gemalt, das amerikanische Idyll.
Trotzdem ist alles genau so, wie es Walt Disney gefallen hätte: adrett, gepflegt, ruhig und sicher eben. Vor fünf Jahren,
pünktlich zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli, kamen die ersten Siedler, heute sind es bereits 3.000, die genug haben von
den großen, bösen Städten, wo die Moral zum Teufel ist. In Celebration sorgen Putzkolonnen wie Heinzelmännchen über Nacht
für gleich bleibende Sauberkeit, und gegen die Mücken aus dem sumpfigen Umland ist eine eigene „Animal Control Unit“ im
Einsatz. Damit alles nach Drehbuch läuft, gelten strenge Gesetze: der Rasen auf Streichholzlänge, zur Straße hin nur
weiße Gardinen, keine sichtbaren Autoreparaturen oder Wäscheleinen im Garten. Wer gegen die Spielregeln verstößt, muss
ausziehen, zurück in die harte, kalte Wirklichkeit.
Illusion heißt die Ware, die Disney rund um den Erdball verkauft, und der Mann, der dem Unternehmen seinen Namen gab,
verstand sich bestens auf dieses Geschäft. Walt Disney, der unermüdliche Pionier des Zeichentricks und Herrscher über
ein Imperium, das er auf einer Maus errichtete, war einer der großen Zauberkünstler des 20. Jahrhunderts, ein Genie und,
wie es in einem solchen Fall in der Natur der Sache liegt, ein Besessener. Besessen von seinen Visionen und von
Perfektionismus. Und der Idee, das Leben ein wenig freundlicher zu machen.
Auch wenn er nichts von dem, was seinen Namen trägt, selbst gezeichnet hat, so hauchte er seinen Filmen doch seine Seele
ein, wachte über ihre Qualität, war Ideengeber und Zensor, der Dutzende von mühsam gestrichelten Filmmetern verwarf, wenn
ihm etwas missfiel. Auf der Leinwand ließ er eine bessere Welt erstehen, in der das Gute siegt und der Glaube daran Berge
versetzt, frei von den Widersprüchen der modernen Gesellschaft, ein Ideal.
Dieses Credo ist bis heute Disneys Markenzeichen geblieben wie das geschwungene Signet, das Walt schon Anfang der Zwanzigerjahre
designen ließ. Es wurde zum Symbol für den American Way of Life wie sonst nur das Logo von Coca Cola. Ein Gütesiegel für
gute Unterhaltung für die ganze Familie, denn Walt Disney sprach nie zu den Herzen der Kinder allein, sondern immer auch
zu dem Kind, das im erwachsenen Menschen lebt.
Geboren wurde er am 5. Dezember 1901 in Chicago, Walter Elias Disney, ein Sonntagskind. Drei ältere Brüder, eine Schwester
folgte zwei Jahre später. Die Kinder sollten jenseits des hektischen Großstadttreibens groß werden, also erwarb der Vater
1906 eine Farm bei Marceline, Missouri. Walter wuchs zwischen Kühen und Hühnern auf, in den Wäldern beobachtete er
Waschbären und Füchse.
Doch die Idylle aus grünen Weiden, blauem Himmel, roten Scheunen und weißen Gattern währte nicht lang. Schlechte Ernten
und eine Typhuserkrankung des Vaters zwangen die Familie nach vier Jahren, nach Kansas City zu ziehen, wo der Vater den
Vertrieb der lokalen Tageszeitung übernahm. Walter und der acht Jahre ältere Roy mussten als Zeitungsjungs mithelfen und
standen schon morgens um halb vier auf der Straße. Doch das Großstadtleben bot auch Vorzüge. Walter war fasziniert vom
Klamauk des Vaudeville-Theaters und begeisterte sich für zwei neue, noch ganz junge Künste: den Film und Comic-Strips.
Er zeichnete Cartoons für die Schülerzeitung und imitierte zusammen mit seinem Freund Walter Pfeiffer Charlie-Chaplin-Nummern.
Die Jungs nannten sich „The Two Walts“.
Schließlich steht es fest: Walt will Zeichner werden. Die ersten Jobs sind wenig aufregend, er gestaltet Briefköpfe und
Anzeigen, aber er lernt den gleichaltrigen Ub Iwerks kennen, der ebenfalls ein begeisterter Zeichner ist. Die beiden
heuern bei einem kleinen Trickfilmstudio an, und Disney ist von dem Medium elektrisiert. Er leiht sich eine Kamera und
bastelt in einem Schuppen an eigenen Filmen, den Laugh-O-grams, die ein Kino in Kansas im Vorprogramm zeigt. 1922 gründet
er ein Studio und engagiert Zeichner, um die arbeitsaufwendige Produktion bewerkstelligen zu können, auch Iwerks ist dabei.
Doch Disney wird behumpst und ist nach einem Jahr pleite. Mit 40 Dollar in der Tasche macht er sich auf nach Hollywood.
In der Garage eines Onkels richtet er ein neues Studio ein, pumpt sich Geld zusammen und unterschreibt 1923 einen
ersten Vertrag über die Produktion von sechs Kurzfilmen. Dieser 16. Oktober gilt heute offiziell als Beginn der
Disney-Geschichtsschreibung. Disney holt Iwerks nach Kalifornien nach, und sein Bruder Roy kümmert sich um die Finanzen.
Alles läuft gut, 1925 heiratet Disney seine Mitarbeiterin Lillian Bounds, ein Jahr später wird ein größeres Studio in
der Hyperion Avenue bezogen, und 1927 schließlich nimmt die Universal-Kinokette eine neue Zeichentrickserie unter Vertrag.
Der Held ist ein witziges Kaninchen, und für die Gestaltung ist maßgeblich Iwerks verantwortlich: Oswald the Lucky Rabbit.
Doch die Probleme lassen nicht lange auf sich warten. Ein Jahr später, Oswald ist inzwischen ein Star, will Disney
mit seinem Verleih in New York ein höheres Honorar aushandeln und wird ausgebootet. Zerknirscht muss er feststellen, dass
er keine Rechte an der Figur besitzt. Auf dem Weg zurück grübelt er über eine neue Idee nach. Angeblich macht der Zug
„chug-chug-mouse, chug-chug-mouse“: Vielleicht also eine Maus ... Mortimer? Seine Frau Lillian sagt: „Wie wär’s mit Mickey?“
Das ist der Gründungsmythos.
Kaum wieder in Hollywood, macht er sich an die Arbeit. Wieder ist es Ub Iwerks, der auch die Micky Maus animiert, doch
diesmal findet sich kein Abnehmer. Disney spürt, dass er etwas bieten muss, das die Konkurrenz übertrifft. Im Jahr zuvor
ist mit The Jazz Singer der erste Tonfilm in die Kinos gekommen, also legt er die bisherigen Versuche auf Eis und produziert
mit Steamboat Willie den ersten Zeichenfilm mit Ton. Bei der Premiere am 18. November 1928 im New Yorker Colony Theatre ist
das Publikum überwältigt. „Die Lacher kamen so rasch, dass sie sich selbst im Wege standen“, kommentiert das Branchenblatt
Variety. Disney bleibt mehrere Wochen, geht jeden Tag ins Kino und berauscht sich am Gelächter der Zuschauer. Ihre
Begeisterung wird seine Droge.
Mickys Erfolg sichert das Überleben des Studios, und schon im nächsten Jahr startet mit den Silly Symphonies eine zweite
Cartoonserie, in der bald auch Donald Duck seinen ersten Auftritt haben wird. Dass der Erpel der Maus schließlich den Rang
ablief, ärgerte Disney zwar, denn Micky war sein erklärter Liebling, ihm hatte er von Anbeginn seine eigene Stimme geliehen,
doch da war er längst auf dem Weg zu neuen Horizonten. 1930 schon hatte Micky eine zweite Karriere auch als Held eines
eigenen Comic-Strips begonnen, den ebenfalls Iwerks zeichnete, bis ihn wenig später Floyd Gottfredson ablöst, ein wahrer
Glücksgriff, der den Mickey Mouse-Strip schnell zum Erfolg macht. Disneys Hauptinteresse aber gilt seinen Filmen, und er
greift jede technische Neuerung auf, um sie immer perfekter zu machen. Als Technicolor 1932 ein neues Farbsystem herausbringt,
lässt er sogar den schon zur Hälfte schwarzweiß fertig gestellten Streifen Flowers and Trees noch einmal drehen, was die
Herstellkosten verdreifacht, ihm aber den ersten Oscar beschert, den je ein Animationsfilm erhielt. Und den ersten von
insgesamt 32, die er zu Lebzeiten erhalten soll.
Es ist aber nicht zuerst die technische Perfektion, die den Disney-Touch ausmacht, es ist die sorgfältige Charakterzeichnung,
die die Figuren zum Leben erweckt – und Disneys Gespür für die amerikanische Seele. 1937 kommt mit Schneewittchen der erste
abendfüllende Trickfilm in die Kinos, wird zum bis dahin kommerziell erfolgreichsten Film überhaupt und katapultiert Disney
auf die Titelseite des Time Magazine. Die Zahl der Mitarbeiter ist von zu Anfang sechs auf 750 gewachsen. Disney lässt ein
neues Studio in Burbank bauen und mit modernster Multiplankamera ausrüsten, die in Pinocchio eine berauschende Illusion von
Räumlichkeit schafft. Für Fantasia entwickelt er, ebenfalls 1940, ein neuartiges Stereosystem.
Pinocchio und vor allem der ambitionierte Fantasia haben allerdings nicht den erhofften kommerziellen Erfolg. Zudem
verliert Disney durch den Krieg in Europa fast die Hälfte seiner Einnahmen, das Studio gerät mit seinen teuren Produktionen
in tiefrote Zahlen. Als Roy Disney Lohnkürzungen ankündigt, kommt es 1941 zum Streik, für Walt, der die Firma noch immer
als große Künstlerfamilie sieht, ein Schock. Er wittert kommunistische Machenschaften, reagiert mit aller Härte und schreckt
selbst vor der Entlassung einiger seiner besten Talente nicht zurück.
Regierungsaufträge bringen zwar bald wieder Geld in die Kasse – in Filmen wie The Fuehrer’s Face lässt Disney seine
Zeichenhelden gegen die Nazis aufmarschieren –, doch das Image vom guten „Uncle Walt“ hat ernsthaften Schaden genommen.
Zahlt er etwa nicht den meisten seiner Angestellten gerade mal den Mindestlohn? Haben Frauen und Männer etwa nicht streng
getrennte Arbeitsplätze? Wird die Hierarchie im Studio nicht sogar durch unterschiedliche Fußbodenbeläge zementiert? 1946
ruft die National Association for the Advancement of Colored People zum Boykott des Films Song of the South auf, wegen der
klischeehaften Darstellung schwarzer Plantagenarbeiter, und auf einmal ist der Vorwurf der „Disneyfizierung“ in aller Munde.
Walt Disney kann das, was er als persönliche Kränkung empfindet, nicht verwinden. Er tritt seine Position als Präsident
des Studios an seinen Bruder Roy ab. Vom Trickfilm, der zwei Jahrzehnte lang der Mittelpunkt seines Lebens war, zieht er
sich weitgehend zurück und vertraut weitere Produktionen altbewährten Mitarbeitern an. Er selbst wendet sich Naturfilmen
wie Die Wüste lebt und mit Die Schatzinsel oder 20.000 Meilen unter dem Meer dem Realfilm zu.
Zudem lockt ein weiteres ehrgeiziges Projekt, für das er eigens die Firma WED Enterprises gründet: Disneyland, das 1955
öffnet und bis heute 450 Millionen Besucher begeistert hat. Sucht man nach Disneys „Rosebud“, findet man es wohl hier:
Disneylands Main Street ist der idealisierte Nachbau der Hauptstraße von Marceline, wo der junge Walt seine glücklichsten
Jahre verbrachte, seine Kindheit.
Als Walt Disney am 15. Dezember 1966 stirbt, hinterlässt er ein Vakuum. „Wie würde Walt es wohl machen?“, fragte man noch
Jahre später, wenn die Ideen ausblieben. Heute steht Disney als einer der größten Medienkonzerne der Welt vor den
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Erstmals in der Firmengeschichte gab es nach dramatischen Umsatzeinbußen dieses
Jahr Massenentlassungen.
Wie würde es der Mann, der am 5. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, wohl machen? Vielleicht würde er das raten, was
er sich zu Lebzeiten immer gewünscht hat: „Ich hoffe, dass wir eines nie vergessen – dass alles mit einer Maus begann.“
(aus: Süddeutsche Zeitung, 1./2. Dezember 2001)
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