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ERINNERN? Eine notwendige Anmerkung von Andreas C. Knigge
Zu den berührendsten Momenten in Luca de Santis und Sara Colaones Comic-Erzählung gehören die Bilder des Schweigens.
Jene Augenblicke, in denen Nicos Kamera auf »Pause« steht und die Zeit einfriert. Plötzlich ist alles zum Stillstand
gekommen. Die Worte, die die Szene auf der Seite zuvor noch begleitet haben, sind verschwunden, das Leben ist verstummt.
Was bleibt, ist einzig das in Bewegungslosigkeit erstarrte Gesicht des 75jährigen Antonio Angelicola, Ninella für diejenigen,
die ihn einmal mochten.
Aber das ist lange her, so lange, dass sich die Zeit wie eine Ewigkeit anfühlt. Seine Mutter hat ihn so gerufen, damals,
auch die Nachbarn, die Ende der 1930er Jahre nahe der kleinen Schneiderei Angelicola in Salerno lebten, nannten ihn so.
Und immer wieder auch junge Männer, die Antonio heimlich trifft, nach Anbruch der Nacht, in der schützenden Dunkelheit
des Stadtwaldes. Dieser Wald lustvoller Verheißung ist es schließlich, in dem Antonio eines Abends in einen heimtückischen
Hinterhalt gerät und sein Leben eine tragische Wende nimmt, deren Spuren seine Gesichtszüge auch ein halbes Jahrhundert
später noch immer zeichnen.
Angestoßen von den Nachforschungen, die Rocco und Nico für ihre Graphic Novel Insel der Männer an den Golf von Salerno
treiben, werden Erinnerungen freigesetzt, die über Jahrzehnte tief in Antonio eingeschlossen waren. In seinem Gedächtnis
werden die Bilder wieder lebendig, und es entrollt sich trotz allem inneren Widerstand, der sich in dem zunächst
sperrigen Verhältnis zwischen ihm und den beiden jungen Männern offenbart langsam ein längst in Vergessenheit geratenes
Kapitel der jüngeren Geschichte Italiens. Oder besser vielleicht: Ein vergessenes Kapitel europäischer Geschichte,
das in den verschiedenen Winkeln des Kontinents unterschiedlich ausgeprägt war. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
haben sich diese Abtönungen allerdings verwischt, denn der Umgang mit der Verfolgung Homosexueller während des
Faschismus und Nationalsozialismus war überall in Europa der gleiche: Es wurde geschwiegen, verdrängt, vergessen.
Entschädigungen oder ein Rechtsanspruch auf »Wiedergutmachung« sind den vom Nazi-Regime wegen ihrer sexuellen Orientierung
Verfolgten bis zum heutigen Tage verwehrt geblieben. Und inzwischen gibt es Überlebende so gut wie keine mehr.
Eine historische Aufarbeitung setzte überhaupt erst in den 1980er Jahren ein. Und dass die Tragödie dann endlich
auch in die öffentliche Wahrnehmung geriet, ist vor allem Schriftstellern und Filmemachern zu verdanken, die sich
des Themas annahmen, in Italien etwa Autoren wie Patroni Griffi (Tod der Schönheit), Alberto Moravia (Der Konformist)
und Giorgio Bassani (Die Brille mit dem Goldrand) oder Regisseuren wie Ettore Scola (Ein besonderer Tag). Hier
schließen nun, spät, auch Luca de Santis und Sara Colaone mit ihrem 2008 entstandenen Comic-Roman In Italia sono
tutti maschi an. Zwar hatte schon Art Spiegelman zwanzig Jahre zuvor in seinem teils autobiografischen Comic-Meisterwerk
Maus den Holocaust thematisiert, doch erst in letzter Zeit findet der Comic vor allem durch das Erzählformat der
»graphic novel« eine zunehmende Aufmerksamkeit auch als eine »grafische Literatur«, die ihm das Aufgreifen von
Themen wie dem Schicksal der Schwulen in den schwarzen Jahren der Diktatur überhaupt erst gestattet. Dabei müssen
de Santis und Colaone die Gegenwart ihrer Erzählung bereits in der Vergangenheit ansiedeln, im Jahre 1987, damit
ihnen noch ein Zeitzeuge zur Verfügung steht: Antonio Angelicola, Ninella genannt von denen, die ihn mochten. Und
von denen, die er einmal liebte.
Die Verfolgung homosexueller Männer reicht zurück bis zu den Anfängen des Christentums; für die, die gleichgeschlechtliche
Beziehungen praktizierten, galt gemäß kirchlichem Dogma lange die Verbrennung angemessen als im Sinne Gottes. Erst
1794 setzte Preußen als dritter Staat in Europa (nach Österreich und Frankreich) mit der Einführung des Allgemeinen
Landrechts die Todesstrafe auf eine Gefängnisstrafe und Verbannung herab. Zu Liberalisierungen auch dieser Rechtsauffassung
kam es Ende des 19. Jahrhunderts. In Italien bestanden mit dem 1890 in Kraft getretenen Strafgesetzbuch keinerlei
Strafbarkeitsbestimmungen mehr zur Homosexualität (was jedoch wenig an ihrer gesellschaftlichen Ächtung änderte).
Im Deutschen Reich hingegen blieb der Beischlaf zwischen Männern weiterhin strafbar, der Paragraf 175 des
Reichsstrafgesetzbuches von 1871 dazu lautete (gemäß seiner preußischen Vorlage aus dem Jahre 1851): »Die widernatürliche
Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis
zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.«
Eine aufklärerische Gegenkraft formierte sich ab 1897 mit dem von Magnus Hirschfeld mitbegründeten Wissenschaftlich-humanitären
Komitee, das als weltweit erste Organisation für die Anerkennung von Homosexuellen als ein »drittes Geschlecht« stritt;
Homosexualität sollte nicht länger strafrechtlich verfolgt werden, da es sich um eine angeborene Eigenschaft handele.
Das Unterfangen, tief verwurzelter Voreingenommenheit mit der Ratio der Moderne zu begegnen, blieb in der Konsequenz
allerdings ebenso fruchtlos wie die Arbeit des 1919 ebenfalls von Hirschfeld in Berlin eröffneten Instituts für
Sexualwissenschaft. Nichtsdestotrotz blieb der Paragraf 175 höchst umstritten, in der Weimarer Republik erfolgten
sowohl Verschärfungen wie auch Lockerungen. 1929 empfahl der Strafrechtsausschuss des Reichstags die Straffreiheit
»einfacher Homosexualität« unter Erwachsenen, doch wegen der politischen Wirren und Stimmenzugewinne der Nationalsozialisten
konnte der Beschluss nicht mehr umgesetzt werden.
Mit Hitlers Machtergreifung waren die Würfel dann gefallen: Da Schwule nicht zur Fortpflanzung der »Herrenrasse« beitrugen,
standen sie im Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie und wurden als »Volksschädlinge« systematisch verfolgt.
Schon 1933 wurden in Berlin als Treffpunkte geltende Nachtklubs geschlossen und Hirschfelds Institut geplündert und zerstört,
ab 1934 homosexuelle Männer in Konzentrationslager verschleppt, wo sie den Rosa Winkel als Erkennungszeichen tragen mussten.
Selbst hier blieben sie dann besonders schikanierte Außenseiter, sogar von Mitgefangenen geschmäht; in Martin Shermans
Bühnenstück Bent aus dem Jahre 1979 (verfilmt 1997) würde Max lieber den gelben Davidsstern tragen und sich als Jude
ausgeben, als mit dem Rosa Winkel stigmatisiert zu sein, da er sich dadurch eine deutliche Verbesserung seiner
Überlebenschancen verspricht.
Nachdem in Italien 1922 die Faschisten mit ihrem »Marsch auf Rom« die Macht ergriffen hatten, änderte sich für
homosexuelle Männer zunächst nicht viel. Erst neun Jahre nach Mussolinis Machtantritt, ab 1931, griffen die Schwarzhemden
die verbreitete Homophobie auf und verfolgten Schwule wegen »gemeinschaftsschädlichen Vergehens« und später auch wegen
»Verunreinigung der Rasse«. Zu entsprechenden Gesetzen wie dem Paragrafen 175 in Deutschland kam es jedoch nicht,
vornehmlich, weil man Homosexualität lieber leugnen wollte. »Zum Glück und Stolz Italiens existiert diese Abnormität
in unserem Lande nicht«, verkündete Mussolini 1930, Italien kenne nur »wahre Männer«. Dennoch unterlagen Schwule
jetzt der ständigen Repression und standen unter Beobachtung. Wer in den Verdacht »homosexueller Handlungen« geriet,
wurde unter Hausarrest gestellt, durfte keine öffentlichen Plätze aufsuchen und hatte sich täglich bei den Behörden
zu melden; Schwule galten als »antifaschistische Objekte« und wurden somit als »politische Straftäter« klassifiziert.
Als sich Italien seinem nationalsozialistischen Bündnispartner ab 1936 zunehmend anpasste und Rassengesetze nach
deutschem Vorbild einführte, wurde der Hausarrest bald durch Verbannung ersetzt. Schwule wurden jetzt, wie Antonio
Angelicola in dem vorliegenden Comic-Roman, auf Inseln abgeschoben, wo sie keinen Kontakt mit »Normalen« hatten. Wie
viele homosexuelle Männer zwischen 1938 und 1943 zum »Schutz der Rasse« in die Verbannung geschickt wurden es waren
Hunderte , ist bis heute nicht bekannt, da aufgrund der Rechtslage noch nicht alle Akten einsehbar sind. Zwar wurden
sie brutal aus ihren Lebensumständen gerissen, hatten im Gegensatz zu ihren in Konzentrationslagern eingepferchten
Schicksalsgenossen in Deutschland, denen, wenn »Umerziehungsmaßnahmen« wie erzwungene Bordellbesuche erfolglos blieben,
die Vernichtung drohte, allerdings noch ein vergleichsweise mildes Los gezogen. Erst mit der Besetzung Norditaliens
durch deutsche Truppen 1943 nach der Landung der Alliierten auf Sizilien wurden Schwule auch in Italien hingerichtet.
Noch existiert die »Repubblica Sociale Italiana« unter Mussolinis Marionettenregierung nicht, als Antonio im
Stadtwald von Salerno von einem faschistischen Spitzel in einen Hinterhalt gelockt und auf die Tremiti-Insel San
Domino verfrachtet wird. Dort gerät er in eine an der Oberfläche illustre Enklave, in der vor allem die »femminielli«,
wie man die sich prostituierenden Transvestiten nicht ohne auch gewisse Zärtlichkeit nennt, den Ton angeben. Vor
allem in Neapel gehören sie lange schon zum gewohnten Bild vornehmlich der ärmeren Stadtbezirke, sind gesellschaftlich
weitgehend integriert und werden gerne auch von Ehemännern aufgesucht, die so das Tabu des Sexualverkehrs mit einem
Mann umgehen. In seinem Roman Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio hat Amara Lakhous eine
wichtige Funktion des Transgender beschrieben, indem er seinen Amedeo sagen lässt: »Es ist einfach wunderbar, sich
aus allen Fesseln der Identität, die einen ins Verderben führen, lösen zu können. Wer bin ich? Wer bist du? Wer
sind die? Nutzlose und dumme Fragen.« Eine Haltung, die gerade unter den von de Santis und Colaone geschilderten
Umständen zur Überlebensstrategie wird.
Kurz nach seiner Ankunft auf San Domino bemerkt Antonio auch den Blick eines Aufsehers, der ihm später seine
Gefühle der Zuneigung offen gesteht. Tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise auf eine innerhalb der faschistischen
Bewegung verbreitete Homosexualität, in Italien ebenso wie anfangs auch in Deutschland. Hitlers Duzfreund Ernst
Röhm etwa, der die Nationalsozialisten mittels seiner Sturmabteilung paramiltärisch aufgerüstet und so entscheidend
dazu beigetragen hatte, dass diese als Regierungspartei Fuß fassen konnten, lebte seine Homosexualität, wie auch
andere Führer seiner Organisation, mehr oder weniger unverhohlen aus. Erst als es 1934 zum Machtgerangel kam und
Hitler Röhm und andere Parteigenossen schließlich in der »Nacht der langen Messer« ermorden ließ, musste Röhms
sexuelle Orientierung als Vorwand herhalten, um die wahren Gründe für das Massaker zu verschleiern.
Das war der Beginn lautstark inszenierter Kampagnen im Hitler-Deutschland gegen Schwule, deren Verschleppung
in Vernichtungslager nun ihren Anfang nahm; nach einer Verschärfung des Paragrafen 175 im Sommer des folgenden
Jahres reichten bereits schon »begehrliche Blicke« aus für eine Strafverfolgung: Die Anzahl der wegen ihrer sexuellen
Orientierung Verurteilten verdoppelte sich 1935 im Vergleich zum Vorjahr von 1.069 auf 2.363, 1936 waren es schon
5.801, 1937 9.244. Unmittelbar nach der »Säuberung« von 1934 rief die Gestapo ein Sonderdezernat ins Leben, das
mit der Erstellung von »Rosa Listen« schwuler Männer beauftragt war, zwei Jahre später gründete Reichsführer-SS
Himmler die »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung«: Mehr als hunderttausend Männer
wurden als »Volksschädlinge« erfasst und verfolgt, da sie angeblich die öffentliche Moral zerrütteten und die
Geburtenrate gefährdeten. Die Zahl der von den Nazis in Konzentrationslagern umgebrachten Schwulen kann nur geschätzt
werden, wahrscheinlich waren es weit über achttausend.
Aber auch die, die überlebten, waren unvorstellbaren Qualen von der Kastration bis hin zu »medizinischen« Menschenversuchen
ausgeliefert. Ganz zu schweigen von der Angst, die ständig den Alltag beherrschte. »Nach der Röhm-Affäre ging es erst
richtig los«, erinnerte sich ein KZ-Überlebender 1981 in Hans-Georg Stümkes und Rudi Finklers Dokumentation Rosa Winkel,
Rosa Listen. Homosexuelle und »Gesundes Volksempfinden« von Auschwitz bis heute. »Ich habe erlebt, dass sie vor allem
jüdische Schwule gleich totgeschlagen haben. Ich habe auch erlebt, wie HJ-Führer Schwule mit Genickschuss erledigt
oder erstochen haben.«
In Deutschland ein entscheidender Grund dafür, dass derartige Gräueltaten lange kaum bekannt waren und in Vergessenheit
geraten sind, ist vor allem der, dass nach der Befreiung durch die Alliierten der Paragraf 175 in seiner durch die
Nationalsozialisten 1935 verschärften Fassung in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert beibehalten wurde (in der
DDR bis 1957). So konnten sich im »Dritten Reich« wegen ihrer Homosexualität Verfolgte noch lange nicht in Sicherheit
wiegen und ihre Geschichten erzählen, während die Täter ihre Karrieren unbescholten fortsetzten. Der Hamburger
Staatsanwalt Nicolaus Siemssen etwa, während der NS-Zeit einer der Hauptankläger gegen Homosexuelle, wurde 1946 zum
Oberstaatsanwalt befördert und bizarrerweiser beim Spruchgericht Hamburg-Bergedorf Chefankläger in Entnazifizierungsverfahren.
Schwule galten auch in der Bundesrepublik weiterhin als Gesetzesbrecher. »Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat
die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes
einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere
Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde«, hieß es in einem unter Adenauer vorgelegten
Regierungsentwurf als Begründung für die Beibehaltung des Paragrafen 175. Und weiter: »Die von interessierten Kreisen
wiederholt aufgestellte Behauptung, dass es sich bei dem gleichgeschlechtlichen Verkehr um einen natürlichen und
deshalb nicht anstößigen Trieb handele, kann nur als Zweckbehauptung zurückgewiesen werden. [
] Wo die gleichgeschlechtliche
Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner
sittlichen Kraft die Folge.« Exakt so hatte die Argumentation der Nationalsozialisten gelautet.
Obgleich die Verfasser des Regierungsentwurfs jede Erläuterung schuldig blieben, wo und zu welcher Zeit der
Geschichte gleichgeschlechtliche Liebe »um sich gegriffen und großen Umfang angenommen« haben soll (hier ließe
sich höchstens das antike Griechenland mit seiner institutionalisierten Form sexueller Beziehungen zwischen Männern
und männlichen Jugendlichen anführen, das allerdings gemeinhin gerade als die Wiege der abendländischen Kultur gilt),
kam es in der Bundesrepublik auf dieser Rechtsgrundlage zu etwa hunderttausend Ermittlungsverfahren, die zu rund
fünfzigtausend Verurteilungen mit bis zu fünf Jahren Gefängnis führten. Erst 1969 wurde der Paragraf 175 reformiert,
indem man das völlige Verbot aufhob und die Justiz künftig nur noch Fälle verfolgte, in denen es sich um Sex mit
einem Unter-21-Jährigen (das damalige Volljährigkeitsalter) oder homosexuelle Prostitution handelte. 1972 konnte
dann Heinz Heger mit Die Männer mit dem Rosa Winkel erstmals einen Augenzeugenbericht über das Schicksal schwuler
KZ-Insassen vorlegen.
Der Paragraf 175 wurde erst 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen; erst seit gut fünfzehn Jahren ist damit die
Sexualität unter Männern in Deutschland wirklich straffrei. Eine Gedenkstätte für die schwulen Opfer des Nationalsozialismus
in Deutschland wurde bereits 1985 auf dem Gelände des KZ Neuengamme bei Hamburg eingeweiht. (In Italien ist fünf Jahre
später ein erstes entsprechendes Denkmal in Bologna errichtet worden). 2002 entschuldigte sich der Deutsche Bundestag
bei den homosexuellen Opfern des Nazi-Regimes und hat alle diesbezüglichen Urteile aus dieser Zeit offiziell aufgehoben.
Ist die Geschichte der Verfolgung, der Demütigungen und Torturen damit, wenn auch spät, zu ihrem Ende gekommen? Muss
man sich nun noch erinnern, gerade in einem Land, dessen zwei größte Städte heute von schwulen Bürgermeistern regiert
werden? Dass die Homosexualität des derzeitigen deutschen Außenministers in der Kritik an seinen Entgleisungen kurz
nach seinem Amtsantritt 2010 in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielte, mag tatsächlich einen gesellschaftlichen
Wandel signalisieren.
Andererseits ist auf deutschen Schulhöfen »schwule Sau« nach wie vor die am meisten verbreitete Beschimpfung. Viele
Menschen hegen noch immer schwer überwindbare Vorurteile, mehr als ein Viertel der Deutschen findet es »ekelhaft«, wenn
sich Männer küssen. Und ein Drittel hat Probleme damit, dass Homosexuelle heute heiraten können.
Man braucht gar nicht bis in den Iran zu schauen, wo Männer, die »einvernehmlich homosexuelle Handlungen begehen«
(wofür vier Aussagen »rechtgläubiger« Zeugen als Beweis gelten), durch öffentliches Erhängen getötet werden viertausend
waren es laut Amnesty International wohl bisher und dessen Präsident Mahmud Ahmadinedschad wie einst Mussolini
behauptet, in seinem Land gäbe es keine Homosexuellen, sondern nur »wahre Männer«. Es genügt schon der Blick in das
EU-Land Polen, in dem die »Parada Równosci«, der alljährliche Marsch für Toleranz und Gleichberechtigung durch Warschau,
immer wieder mit der Begründung, er sei eine »Gefahr für die öffentliche Moral« und verletze religiöse Gefühle, von
höchster Stelle verboten wird und zu Gegendemonstrationen katholischer Kreise und gewalttätigen Übergriffen von
Rechtsextremen führt.
Oder auch einfach nur auf die katholische Kirche hierzulande, die nach wie vor postuliert, Schwule hätten sexuell
abstinent zu leben oder sollten, gegen ihre Natur und somit heuchlerisch, heterosexuelle Ehen eingehen, um Gottes
Willen zu entsprechen; konservative Christen sehen in gelebter Homosexualität noch immer wie im Mittelalter den
Auslöser für Naturkatastrophen und den baldigen Untergang des Abendlandes. »Heute fordert die Schwulen-Lobby die
Aufnahme der geschlechtlichen Perversion in die Verfassung!«, heißt es auf der Website des Deutschland-Distrikts
der Priesterbruderschaft St. Pius X. zur Erklärung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die
strafrechtliche Verfolgung homosexueller Liebe menschenrechtswidrig sei. »Adenauer würde sich im Grabe umdrehen,
wenn er die sodomitischen Umzüge in Deutschland miterleben müsste. Von der Straftat zum Grundrecht: Merkt denn
niemand mehr in Deutschland den unvorstellbaren Werteverfall?« Papst Benedikt XVI. vergleicht Homosexualität mit
Umweltverschmutzung und bezeichnet sie als »Zerstörung von Gottes Werk«.
Blickt man also mit offenen Augen in die Welt, fallen einem zwangsläufig die Worte aus dem Epilog von Bertolt
Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui ein: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!« Deshalb
ist Erinnern nach wie vor dringend notwendig. Dazu haben Luca de Santis und Sara Colaone mit ihrem Comic-Roman über
einen dunklen Moment europäischer Geschichte einen bedeutsamen Beitrag geleistet. Aber nicht nur das. Indem sich
Rocco am Schluss an seinen Lehrer erinnert, der aus Angst vor Diskreditierung seinen Schuldienst quittierte, weisen
sie auch wieder zurück auf die Gegenwart, verknüpfen die scheinbar bewältigte Vergangenheit mit dem Heute.
Diese Szene ist als reiner Dialog angelegt und zeigt dazu nur die Lampe an der Decke des Zimmers, in dem Rocco mit
Antonio sitzt. Sie beleuchtet, dass es auch noch andere Formen des Verlassenseins und der Ohnmacht gibt als die
Verbannung auf eine Insel am Ende der Welt. Nämlich die innere Emigration. Und auch die ist ein grausames Los.
(Nachwort zu Luca de Santis/Sara Colaone: Insel der Männer, Verlag Schreiber & Leser, München 2010)

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